Anti-Imperialismus Höchstes Stadium des falschen Anti-Kapitalismus
Die nachfolgende, für den Neuabdruck teils gestraffte, teils erweiterte
und teils veränderte Polemik wurde 1992 mit Blick auf die damalige "Radikale
Linke" geschrieben. Weit verbreitet war nämlich dort die Einschätzung,
daß die Linken, nachdem sie um 1989 schon die Idee einer besseren Gesellschaft
"aufgegeben", anläßlich des Golfkrieges auch "Abschied" vom Anti-Imperialismus
genommen hätten. Bei aller Kritik, die man auch als Linksradikaler daran
üben müsse, sei am Anti-lmperialismus doch grundsätzlich festzuhalten.
Demgegenüber versuchte der Artikel daran zu erinnern, daß die
sogenannte "Verabschiedung" des Anti-Imperialismus nicht erst 1991, sondern
schon etwa 15 Jahre vorher angefangen hatte: exemplarisch dafür steht
die 1979 erschienene Nr. 57 des bereits damals als zuverlässiger Seismograph
des Zeitgeists fungierenden Kursbuch. Sein Titel: "Der Mythos des Internationalismus".
Gegen das wohlfeile Verrats-Geschrei schließlich wurde eingewandt,
daß der sogenannte "Abschied" vom Anti-lmperialismus selber nur "enttäuschter
Anti-lmperialismus" ist - er sei, so hieß es. "die in ihr Gegenteil
umgeschlagene und schon immer falsche Idee, wonach diejenigen, die im System
weltweiter Kapitalakkumulation die Geschädigten sind. auch noch die
besseren Menschen zu sein haben". Schon deshalb komme an einer Grundsatzkritik
des Anti-Imperialismus nicht vorbei, wer dessen "Verabschiedung" treffen
wolle.
Heute, nur vier Jahre später, ist die mit markigen anti-imperialistischen
Parolen hausieren gehende Soli-Arbeit klassischen Zuschnitts de facto nicht
mehr existent, so daß die damals angestellten Überlegungen nun
gegenstandlos scheinen. Mit dem Antiimperialismus sind jedoch keineswegs
die mit ihm stets notwendig verbundenen Haltungen, Denk- und Politikformen
verschwunden, im Gegenteil: früher noch weithin exklusive Angelegenheit
linker
Splittergruppen, sind sie nun zum gesellschaftlichen Allgemeingut geworden.
Das Stadium, wo bei den Ex-Linken Reue und Zerknirschung
auf der Tagesordnung standen, ist längst vorbei, und aus der rituellen
"Selbstkritik" steigen die alten Parolen taufrisch und runderneuert hervor.
Die Linken, die aufgrund ihrer einschlägigen Erfahrungen anfangs noch
ideologische Vorhut spielen konnten, sind dabei längst ins Hintertreffen
geraten. Nicht Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit, sondern Christian
Schwarz-Schilling und Tilman Zülch sind die neue Generation bundesdeutscher
Anti-Impis. Der gesamte sinnlos donnernde Schrott anti-imperialistischer
Phrasen, der einem aus einer anderen Zeit und aus einem anderen Zusammenhang
noch
vertraut ist, kehrt nun wieder, hat allerdings einen neuen Gegenstand und
neue Träger gefunden. Der gesellschaftsfähig gewordene Anti-lmperialismus
präsentiert sich dabei noch plumper und platter, als er jemals war und
als man ihn, zum Zwecke der Kritik bewußt übertreibend, beschrieben
hatte. Seine Weltsicht ist mit dem Kampf von "Gut" und "Böse" eigentlich
erschöpfend charakterisiert. Das finstere Subjekt, dem alle erdenklichen
Übel angelastet werden, ist freilich nun nicht mehr "der Imperialismus",
sondern sind "die Serben", statt in Vietnam wird nun in Bosnien ein "Völkermord"
entdeckt, statt für "kämpfende Völker" in Nicaragua oder Mocambique
begeistert man sich nun für muslimische oder kroatische Mordbanden
und den "Sieg im Volkskrieg" wünscht man nun nicht mehr Arafat und den
Palästinensern, sondern Dudajew und den Tschetschenen.
Wie in anderen Zusammenhängen, so gilt eben auch hier ein die bürgerliche
Gesellschaft allgemein charakterisierendes Merkmal in Deutschland im
besonderen Maße: daß die allgemeinen Denkformen ausschlaggebender
sind als der unter ihnen befaßte Inhalt.
Das Entscheidende am Anti-lmperiaIismus sind nicht dessen bekannte und immer
wieder kritisierte Begleit- und Folgeerscheinungen - die
Dritt-Welt-Romantik, die Projektion eigener revolutionärer Hoffnungen
auf Bewegungen in fernen Ländern etc. - sondern das diesen
Erscheinungen zugrundeliegende Prinzip: ein bestimmter Begriff bzw. eine
bestimmte Vorstellung von "Imperialismus". Zwar existierte zu
keiner Zeit ein theoretisch explizit formulierter Begriff des Imperialismus,
der für die bundesdeutsche Linke verbindlich gewesen
wäre. Als Imperialismus-Begriff kann jedoch das Ensemble all jener stillschweigend
vorausgesetzten oder ausdrücklich genannten Aussagen
und Annahmen über den Imperialismus gelten, welches sich aus den von
ihren Erscheinungsformen her durchaus verschiedenen anti-
imperialistischen Agitations- und Aktionsformen ableiten läßt.
Auffällig ist zunächst, daß im Anti-lmperialismus davon ausgegangen
wird, alles Elend in der sogenannten "Dritten Welt" sei
zurückzuführen auf einen Verursacher, welcher es bewußt und
mit böser Absicht produziert und aufrechterhält. Dieses finstere
Subjekt soll
nun der "Imperialismus" sein. Wenn Linke also vom "Imperialismus" reden,
dann ist mit diesem Begriff weder, wie bei Lenin, ein
bestimmtes "Stadium" in der Entwicklung des Kapitalismus noch, wie eine lexikalische
Definition uns lehrt, Expansions- und Machtstreben,
also eine Eigenschaft von Staaten gemeint. Vielmehr ist "Imperialismus" der
Name für ein weltweit handelndes Subjekt, das
zwar als bewußt und selbstbewußt handelndes auf der Weltbühne
auftritt, als solches aber merkwürdig blaß und unbestimmt bleibt
und
somit greifbar nur an seinen Erscheinungsformen ist: skrupellosen Multis,
fiesen Bankern, finsteren counterinsurgency-Strategen,
stiernackigen Militärs, gegen welche Schurken dann auch anti-imperialistischerseits
mit großer moralischer Verve zu Felde
gezogen wird und welche, zusammenaddiert, das Subjekt "Imperialismus" ergeben.
Konstitutiv für den gemeinplätzlichen linken Imperialismus-Begriff
ist also die Annahme, die unmittelbaren Nutznießer und Profiteure der
bürgerlichen Gesellschaft seien deren bewußte und selbstbewußte
Subjekte. Diese Annahme gründet wiederum in einem auf die
sozialdemokratische und parteikommunistische Bewegung zurückgehenden,
personalisierenden Mißverständnis des Kapitalverhältnisses
und der
bürgerlichen Gesellschaft. Danach soll das ausschlaggebende Merkmal
der bürgerlichen Gesellschaft darin bestehen, daß in ihr sich
verschiedene Kollektiv-Subjekte gegenübertreten, die an und für
sich nichts miteinander zu tun haben und sich nur äußerlich, durch
ihre
jeweiligen kollektiven Interessens- und Willenshandlungen aufeinander beziehen.
Innergesellschaftlich betrachtet handelt es sich bei diesen
Kollektiv-Subjekten um die altbekannten Klassen: die Kapitalisten, die aus
bösem Willen, d.h. subjektiver "Profitgier" die Proleten
ausbeuten und mit Hilfe ihres "Erfüllungsgehilfen", des Staates, unterdrücken;
und die Arbeiter, die als wesenshaft unversöhnliche
Antagonisten des Kapitals "objektiv" beständig Klassenkampf führen.
Der materialistische Begriff des Kapitals wird hier völlig
verballhornt. Nach Marx sind Kapitalisten und Arbeiter gleichermaßen
als Charaktermasken des sich verwertenden Werts, des Kapitals,
bestimmt. Ausbeutungsverhältnis ist das Kapitalverhältnis nicht
deshalb, weil ausgekochte Schurken irgendwelche arme Schlucker übers
Ohr hauen und damit die Gesetze des freien und gleichen Tauschs verletzen"
würden - es ist gerade die strikte Befolgung von dessen
Gesetzen, die das Tauschverhältnis in ein Ausbeutungsverhältnis
umschlagen läßt.
Das Kapital, das sich anfangs noch der Person des freien Unternehmer-Subjekts
als seiner Krücke bediente, hat längst die ihm adäquate,
anonyme Form der Aktiengesellschaften angenommen. Als Gesellschaftskapital
hat es seinen durch es konstituierten, aber
anfangs auch kontingenten Faktor v, die Arbeit, restlos sich subsumiert.
Das Kapital ist empirisch zu dem geworden, was es seinem
materialistischen Begriff nach immer schon war: Herrschaft versachlichter
Verhältnisse über die Individuen.
Das personalistische Gesellschaftsverständnis samt der in ihm implizierten
moralischen Kapitalismuskritik und der kernigen
Klassenkampfrhetorik ist damit an sich unwiderruflich vernichtet, mit der
Konsequenz, daß den diesen Denkfiguren nachhängenden Linken außer
immer wahnhafteren und hilfloseren Subjekt-Beschwörungsformeln meist
nichts mehr einfällt.
Dafür darf sich die moralisierende Kritik umso mehr am Thema Imperialismus
schadlos halten. Hier kann die moralisierende Kritik
wieder ganz mit sich im reiner sein, scheint man es doch beim Verhältnis
Imperialismus/Dritte Welt nicht nur mit einem
unmittelbaren Gewaltverhältnis zu tun zu haben, sondern einem Gewaltverhältnis,
das zudem den unschätzbaren Vorteil bietet, daß
es in seiner ganzen Nacktheit bloßzuliegen scheint, bei dem als keine
diffizile theoretische Tüftelarbeit vonnöten, sondern der bloße
Augenschein zu genügen scheint, um es als solches zu erkennen. So daß
jede Befreiung davon keinerlei Begründung mehr bedarf, sondern sich
bereits durch die Tat rechtfertigt, was umgekehrt auch heißt, daß
sich eine Kritik an den Zielen der Befreiung geradezu blasphemisch
ausnimmt und sofort in den Verdacht gerät, in objektiver Komplizenschaft
zum "Imperialismus" zu stehen.
Obwohl das personalisierende Gesellschaftsverständnis mit all seinen
Implikationen in der linken Imperialismus-Vorstellung nicht nur beibehalten,
sondern auf die Spitze getrieben ist, vor allem, was den moralischen Impetus
anbetrifft. so besteht doch dessen spezifische Differenz darin, daß
der "Grundwiderspruch", der aufgemacht wird, keiner mehr zwischen "Klassen"
ist, sondern der zwischen dem Moloch "Imperialismus", der in Form von Konzernen,
Banken, Politikern, aber auch als mehrere "imperialistische Nationen" auftreten
kann, und den Völkern der "Dritten Welt", deren Elend wesentlich darauf
beruhen soll, daß sie vom "lmperialismus" fremdbestimmt werden.
Bereits, wenn man ihn nur sprachkritisch unter die Lupe nimmt, transportiert
der Begriff der "Fremdbestimmung" die miefende
Gemütlichkeit des Bei-sich-selberbleiben-wollens, die Parteinahme fürs
Bewährte, Angestammte und Identische, in welcher unmittelbar das
rohe und barbarische Ressentiment gegen das Fremde, Unvertraute und Vermittelte
impliziert ist. Den Begriff der "Fremdbestimmung"
zeichnet ferner aus, daß er an sich selbst vollig unbestimmt ist und
sich deshalb allen nur denkbaren Phänomenen überstülpen läßt.
Das
wird von Anti-lmperialisten denn auch weidlich ausgenützt, wenn dem
"lmperialismus" nicht nur vorgeworfen wird, daß er die Völker
der
"Dritten Welt" ausbeute, sondern ihnen vor allem verwehre, ihr Dasein ihren
eigenen Sitten, Gebräuchen und "gewachsenen" Kulturen gemäß
zu
fristen. In der Agitation gegen den "Imperialismus" als "Fremdbestimmung"
der Völker erscheint zudem in Reinkultur jenes kulturkritische Gewäsch.
in welchem über die "Kälte" und "Entfremdung" im Kapitalismus,
die auf Rationalität und Abstraktion zurückzuführen sei, lamentiert
wird. Die Figur des "edlen Wilden", der gerade kraft unverbildet-ursprünglichen
Lebenswandels fähig sei, die Verderbtheit der "westlichen Zivilisation"
schonungslos anzuprangern, zählt zum Standardrepertoire der Freunde
kämpfender Völker. Kein Wunder, daß unzählige anti-imperialistische
Pamphlete in harmloseren Fällen sich ausnehmen wie Reprints des "Papalagi",
in schlimmeren Fällen wie Remakes nationalsozialistischer oder neurechter
Pamphlete.
Zieht man all die genannten Inhalte ab, ohne die der Begriff "Fremdbestimmung"
nicht zu denken ist, gäbe er immerhin dann noch einen Sinn, wenn man
ihn auf den vergangenen Kolonialismus bezieht. Der Kolonialismus ist in der
Tat nicht-tauschvermittelte Aneignung, d.h. blanker Raub von Ressourcen und
Produkten sowie die unmittelbar gewaltsame Unterwerfung der betreffenden
Bevölkerung. Als unmittelbares Raub- und Gewaltverhältnis widerspricht
der Kolonialismus aber dem Prinzip des freien und gleichen Tauschs. Es ist
das objektive Resultat der anti-kolonialen nationalistischen Bewegungen,
daß sie diesem Prinzip weltweit erst zum Durchbruch verhalfen: durch
sie erst konstituiert sich der Weltmarkt als Konkurrenz souveräner Nationalstaaten.
Die Entkolonisierung war in der Tat eine Befreiung, aber eben keine von,
sondern eine hin zu bürgerlichen Verkehrsformen. Ihren bürgerlichen
Gehalt hat der
französische Demograph Alfred Sauvy auf den Begriff gebracht, indem
er die um staatliche Unabhängigkeit kämpfenden Länder in Anlehnung
an den Begriff des "Dritten Standes" als "Dritte Welt" bezeichnete: "Wir
reden gern von den zwei Welten... und wir vergessen zu oft, daß noch
eine dritte existiert... diese Dritte Welt, ungekannt, ausgebeutet, verachtet
wie der Dritte Stand, will schließlich auch etwas werden." Im antikolonialen
Unabhängigkeitskampf wiederholte sich gewissermaßen der Kampf
des arbeitenden und ausgebeuteten dritten Standes gegen eine parasitäre
und schmarotzende Schicht, damals Adel und Klerus, heute die westlichen Metropolen.
Reaktiviert wurde damit auch die altbürgerliche Vorstellung, daß,
wenn die Schmarotzer verjagt seien und das arbeitende Volk in einem souveränen
Nationalstaat sich selbst bestimme, Glück und Wohlstand für alle
geschaffen würden. Die antikoloniale Ideologie nährt die Illusion,
das durch koloniale Ausplünderung und Raub verursachte Elend ließe
sich an Ort und Stelle und durch eigene Anstrengung abschaffen. Die Konsequenzen
kolonialer Herrschaft werden zu "Peripherieproblemen" verniedlicht, die nach
Maßgabe ihres vorgeblich partikularen Charakters durch das Setzen auf
Partikularität - auf "nationale Selbstbestimmung" - gelöst werden
können. Auf eine nur universell, weltweit zu lösende soziale Frage
wird eine nationale Antwort gegeben.
Genau dieser Sozialpatriotismus wird von den nationalen und antiimperialistischen
Trikont-Bewegungen (also jenen Bewegungen, die im Rahmen bereits etablierter
Staatlichkeit agieren) aufgegriffen und radikalisiert. Die Tatsache, daß
das im Projekt "nationaler Befreiung" mitschwingende Glücksversprechen
sich bald offen als Illusion erweist und daß die "nationale Befreiung"
nur die "fremdbestimmte" Ausbeutung durch die einheimische ersetzt, wird
in Anknüpfung an demokratistische Denkmuster der alten Arbeiterbewegung
als "Verfehlung" des nationalen "Ideals" interpretiert. Die von den nationalen
Befreiungsbewegungen genährte und von ihren metropolitanen Fürsprechern
willig aufgegriffene Diagnose lautet, daß die nationale Unabhängigkeit
"nur formal" bestehe - "in Wahrheit" existiere die alte "Fremdbestimmung"
durch den "Imperialismus", sei's unmittelbar, sei's durch eine "Kompradoren-Bourgeoisie"
ausgeübt, nach wie vor ("Neokolonialismus" war in der Linken denn auch
lange Zeit ein beliebtes Synonym für "Imperialismus"). Die "bloß
formale" müsse zur "wahren" nationalen Unabhängigkeit vorangetrieben
werden.
Als falsche Analyse ist das Gefasel von der "Fremdbestimmung" unmittelbar
zugleich die adäquate Ideologie der "wahren" nationalen Selbstbestimmung.
In dem Maße, worin die Nation - Vermittlungsinstanz des Weltmarkts
- als Bastion gegen den Weltmarkt und damit als rein auf sich gegründete
Einheit des schaffenden Volkes gesetzt werden soll, muß der Befreiungsnationalismus
seine stets vorhandenen substantialistischen - kulturalistischen oder völkischen
- Züge offen hervorkehren. Nationale Unabhängigkeit wird dann als
Wiederaneignung einer vom "Imperialismus" bzw. seinen durch "westliche Werte"
verdorbenen Statthaltern unterdrückten und verschütteten "nationalen
Würde" ausgegeben. In praxi bedeutet das die bedingungslose Unterwerfung
der Einzelnen unters Diktat der Staatsräson und die Todesdrohung gegen
jeden, der dagegen aufbegehrt. "Patria libre o morir!" - in dieser unüberbietbar
mörderischen Formel ist griffig zusammengefaßt, wofür nationale
Befreiung steht.
Pol Pots Kampuchea, Idi Amins Uganda, das Iran der Mullahs, die in Syrien
und Irak herrschenden Baath-Parteien sind allesamt keine Abweichungen von
der hehren Idee nationaler Befreiung, sondern lediglich ihr offen zur Erscheinung
gekommenes barbarisches Wesen. In den sympathischeren Varianten nationaler
Befreiung, von denen die metropolitanen Linken sich fälschlicherweise
ihr Bild vorgeben ließen, ist dieses Wesen nur abgemildert. Daß
die nationale Befreiung in glücklicheren Fällen zwar keinen Verein
freier Menschen, immerhin z.B. aber einen, verglichen mit den übrigen
lateinamerikanischen
Verhältnissen, paradiesischen autoritär-staatskapitalistischen
Wohlfahrtsstaat a la Kuba ermöglichte, verdankt sich jedoch nicht einer
zusammenphantasierten "Dialektik von nationaler und sozialer Befreiung",
sondern allein der Existenz des sozialistischen Blocks, des RGW.
Mit der Ablösung des in zwei Blöcke gespaltenen Weltmarkts durch
den totalen Weltmarkt, in dem alle unmittelbar als Konkurrenten gesetzt sind,
ist jede Bedingung der Möglichkeit, daß die Unterwerfung des Einzelnen
unters staatliche Diktat der "nationalen Selbstbestimmung" wenigstens eine
Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards als ihr Abfallprodukt mitliefert,
endgültig vorbei. Die einst im RGW zusammengefaßten Staaten teilen
fast alle das Schicksal, das der sog. "Dritten Welt" schon länger widerfuhr:
daß ihre Nationalökonomien nach Maßgabe der Weltmarktproduktivität
zu wertlosem Schrott erklärt sind. Einander befehdende Banden und Cliquen
versuchen entweder, die letzten verwertbaren Reste der Ökonomie an internationale
Konzerne zu verscherbeln, oder sie empfehlen sich als kompetente Verwalter
und Vollstrecker des Massenelends. Da in keinem dieser Länder eine
reproduktive Ökonomie entstehen wird und folglich kein Raum für
Versprechungen von Aufschwung und Wohlstand besteht, zeigt sich die nationale
Befreiung, für die heute Gestalten wie Tudjman, Izetbegovic, Dudajew,
Rabah Kebir (FIS) etc. stehen, nun in ihrer adäquatesten Form: ideologisch
als völkische (oder religiöse) Phrase, nraktisch als barbarische
Schlächterei.
Die Konsequenzen der linken Parteinahme für "nationale Befreiungsbewegungen"
liegen heute klar auf der Hand. Im Kampf der von den Linken mitgeprägten
"neuen sozialen Bewegungen' gegen das "Sterben" des deutschen Waldes und
die Raketen der amerikanischen "Besatzer", der mit der Wiederentdeckung von
Brauchtum, Mundart und dem angeblich vierschrötig-eigensinnigen Widerständlertum
der "ganz normalen Leute" einherging, wurden die im Anti-Imperialismus erprobten
völkischen Denkformen nun auch im Kampf an der Heimatfront hoffähig
gemacht. Ferner zeigt sich, daß schon immer ein delikater Zusammenhang
zwischen linken Anti-Imperialismus und offizieller deutscher Politik bestand.
Schon früher gewann man bisweilen den
Eindruck, bei den Anti-Imperialisten handele es sich um ausgelagerte Abteilungen
des Auswärtigen Amts: wo ein Umbruch angesagt ist, übernimmt die
Linke die PR-Arbeit - die Erstellung volks- und landeskundlicher Broschüren,
die Organisierung von Soli-Banketten mit Folklore, Grillspezialitäten,
Vortrag des Vertreters der Befreiungsbewegung xy, anschließend stehende
Ovationen - den Rest erledigt Genscher, der den neuen Staat oder die neue
Regierung anerkennt. Das wiedervereinigte Deutschland hat diese mit allerlei
Reibungsverlusten und Mißverständnissen verbundene Arbeitsteilung
abgeschafft und erklärt den Anti-lmperialismus lieber gleich zur offiziellen
Politik. Das gilt insbesondere auf dem Gebiet der Nahostpolitik, wo Kinkel
dankbar ernten kann, was die linken Antizionisten durch ihr Hofieren arabischer
Halsabschneiderregimes gesät haben. Das von der anti-imperialistischen
Linken für schlechtere Zeiten konservierte Ressentiment gegen "Fremdbestimmung"
erweist sich als das, was es schon immer war: als Moment völkischen
Verfolgungswahns, das der deutsche Nationalismus insbesondere mit seinem
arabischen Pendant teilt und in dessen Zeichen das souveräne Deutschland
seine einstige historische Verspätung in der kolonialen Aufteilung der
Welt nun als strategischen Pluspunkt gegenüber England und Frankreich,
den in den Augen der arabischen Regimes kompromittierten Kolonialmächten,
geltend macht. Die moslemische Welt sei "vom Kolonialismus fürchterlich
gedemütigt worden und...
enttäuscht über das Scheitern ihrer Bemühungen, den Westen
zu kopieren... Terrorismus (sei) in einem Befreiungskrieg legitim..." Der
das sagt, ist kein Anti-Imp, sondern Wilfried Hofmann, deutscher Botschafter
in Marokko, der über die algerische FIS äußert, ihr "Terrorismus
könnte so berechtigt sein wie der Befreiungskampf gegen Frankreich."
(FR, 1.11.93).
Clemens Nachtmann, Anti-Imperialismus Höchstes Stadium des falschen
Anti-Kapitalismus in: links 5/6, 1996