Was ist Heimat?
"Ist der Patriot also vielleicht einer, der seine Heimat liebt und deshalb
sich zu jenem Staat "bekennt" (was immer das wieder heißen mag),
der sie gleichsam organisch verkörpert.
Auf den ersten Blick scheint das die natürlichste und ihrerseits unproblematischste,
weil harmloseste Lösung zu sein. Denn Heimat ist doch etwas, was für die
meisten Menschen immer schon positiv da ist, als frühkindliche Verortung, oder
"Verwurzelung", wie sie sagen was nicht erst als Indoktrinationsprodukt
über ein Spiel von Negationen, durch Ausschlüsse des Anderen ergibt; kontingent(zufälligen
Umständen entspringend MB) wie das Dasein selber, wäre sie mit diesem
gesetzt. Der Begriff meint nur am Rande Soziales und Kulturelles (obwohl noch der
letzte Analphabet, der seine Heimat liebt, auf die Leistungen "seiner"
Dichter stolz ist), er ist wesentlich territorial definiert, und insofern er auch
Geschichte meint, ist die zutiefst individuell, lebensgeschichtlich vermittelt,
er bezieht sich nicht auf die abstrakte Geschichte eines Kollektivs. Daß sein
Designatum (das Bezeichnete/MB) im Kern präpolitisch(vor der Politik/MB), ja
genau genau besehen privatistisch ist, machte ihn freilich erst recht politisch
mobilisierbar. Und daß er immer über sich hinausweist, er eigentlich
ein vages Versprechen ist von Geborgenheit und Frieden, erklärt die Sehnsuchtsaura,
die ihn umgibt - und damit auch die Liebe als unerfüllte Liebe des Patrioten,
der als wahrer Patriot nie genug Patriot sein kann.
Aber weder ist dies eine Lösung noch wäre sie erfreulich. Als patriotische
Parole ist der Begriff "Heimat" nämlich im Innersten vergiftet.
Denn Heimat ist nicht, wie Ernst Bloch im "Prinzip Hoffnung" schreibt,
um den Begriff utopisch zu mobilisieren, das "was jedem in die Kindheit scheint
und wo niemand war", sondern genau umgekehrt: Heimat ist das trügerische
Licht der je eigenen Kindheit, das jedem in sein Leben scheint, wo also jeder schon
einmal gewesen ist und wohin er nie zurückkehren kann - es sei denn um den
Preis der Regression. Ein Mann kann nicht wieder zum Kind werden, sagt Marx, außer
er wird kindisch. Trügerisch aber ist das Licht auch deshalb, weil die Regression
in die Kindheit die imaginäre Beschwörung eines Zustands ist, den jeder
Mensch damals, als er sich real in ihm befand, ja gerade verlassen wollte, weil
er ihm unerträglich war: Kein normales Kind will Kind bleiben, es will groß,
erwachsen, selber stark und mächtig werden und frei, so wie ihm die Erwachsenen
ihm erscheinen. Das kindliche Bewußtsein ist, hegelianisch gesprochen, das
"unglückliche Bewußtsein" par excellence, denn es hat seine
"Wahrheit außer sich" - in dem erwachsenen Bewußtsein, das
es sein wird. Insofern gibt es keine glückliche Kindheit, zumindestens nicht
in actu, allenfalls in der verklärenden Erinnerung. Erst später, als Alternder,
liebt man sich selbst als Kind, das man gewesen ist - nicht so, wie man die Heimat
liebt, sondern das _ist_ die Heimat, die man liebt. Kindheit als erinnerte aber
wird zusammen mit ihren Requisiten (das Haus, der Ort, die Straße, wo man
wohnte, die Menschen, mit denen man täglich zu tun hatte: es ist immer das
Allernächste, Individuellste, was in der Erinnerung zur "Heimat"
wird, bereits der Umzug innerhalb der gleichen Stadt oder von Dorf zu Dorf ist ein
Verlust an Heimat und schon der Nachbar hat eine andere) in genau dem Maße
virulent, als ihre Hoffnungen enttäuscht worden sind: Als Imago eines Zustands,
in dem noch alles offen schien und es noch eine Zukunft gab. Deshalb ist "Heimat"
nicht nur, aber vor allem, eine Regressionsparole armer und alter Leute, immer aber
von Leuten, die vom Leben enttäuscht worden sind - und das werden wir tendenziell
alle; wenn auch in unterschiedlichem Maße. Glück, sagt Freud, ist die
Erfüllung eines Kindheitswunsches; aber sowas kommt selten vor, auch in besseren
Kreisen.
"Die Geschichte eines beliebigen Lebens ist die Geschichte eines
Scheiterns"(J.-P.Sartre)
- das gilt individuell, aber das gilt auch für das Leben von Klassen. Der Begriff
"Heimat" der ja zunächst, in vormodernen Zeiten, ganz nüchtern
Haus und Hof, den bäuerlichen Besitz bezeichnet ("Das neue Heimat kostet
ihm wohl 10.000 Gulden", lesen wir in den "Erlebnissen eines Schuldenbauers"
von Jeremias Gotthelf), erfährt seine Verinnerlichung und Transformation zum
ideologischen Konzept, das auch metaphorisch das Alte, Bewährte, Vererbte und
Eingesessene beschwört, erst mit der beginnenden Industrialisierung. Jene innere
Bewegtheit, mit der er heute ausgesprochen wird, war ihm vorher fremd - er meinte
ganz brutal ein Stück Besitz. Als ideologisch aufgeladener, wie der Begriff
Nation auch, sehr jungen Datums. Er bezeichnet eine - im Doppelsinn _romantische_
Entdeckung, die in dem historischen Augenblick gemacht wird, da das Entdeckte aufhört,
etwas fraglos Gegebenes zu sein. (Im übrigen eine spezifische Entdeckung der
deutschen Romantik. Weshalb er mit all seinen sentimentalen Valenzen in andere Sprachen
kaum übersetzbar ist.)
Die tränenreiche "Heimat" ist eine Reaktion auf das, was Georg Lukács
die "transzendentale Obdachlosigkeit" des Menschen in der industriekapitalistischen
Ära genannt hat, nichts Vormodernes, sondern ein Schatten der Moderne selber.
Als modern-antimoderner wird der Begriff auch seine nostalgisch ruralen Konnotationen
nicht los - "Heimatstadt" ist ein Oxymoron, zumindestens wenn es sich
um eine Großstadt handelt. Robert Musil hat deshalb unrecht, wenn er sagt,
der Begriff "Heimat" stamme "aus einer Zeit, da die Menschen noch
aus einem Trog fraßen". Er stammt vielmehr aus einer Zeit, da man den
Menschen den alten Trog wegnahm und sie zwang, jeder für sich, aus einem neuen
Trog zu fressen - als _Sehnsucht_ nach dem alten Trog. Analoges gilt von der "kulturellen
Identität", dem nur scheinbar ethnologisch auf- und abgeklärten Nachfolgebegriff
der Heimat.
"Heimat" ist also ein ins Positive umgelogener Trennungsbegriff, "Heimat"
ist immer die Heimat derer, die eine verloren zu haben glauben, "Heimat""
ist eine leicht weinerliche Verlustanzeige." (Rudolf Burger, Patriotismus und
Nation, Leviathan Heft 2/1994 162ff)
[ Top | Zurück ]
Most recent revision: April 07, 1998
E-MAIL:
Martin Blumentritt