Joachim Kersten, Die neue Unerbittlichkeit in: Extremismus der Mitte. Vom rechten Verständnis deutscher Nation
Gewalt und Innere Sicherheit in Deutschland - Fiktion und Fakten
Im Lauf der achtziger Jahre ist in Deutschland die bekannt gewordene Kriminalität gegen Personen in bestimmen Bereichen zurückgegangen bzw. hat sie zumindestens stagniert, was entgegen einer verbreiteten Auffassung insbesondere auf das Delikt der Vergewaltigung zutrifft. Unsere Gefängnisse, in denen sich Gewalttäter in einer Position einer Minderheit befinden, waren lange unterbelegt. Darum hat man uns im Ausland beneidetet, denn Gefängnisse sind teuer, in der Regel problematisch, weil sie nicht helfen, sondern ihre Insassen langfristig eher verschlimmern als verbessern. Andere Industrieländer weisen wesentlich höhere Kriminalitätsraten auf. Deutschland liegt im Vergleich aller zugänglichen und halbwegs vergleichbaren Daten eher in der Mitte. Länder wie die USA, Australien und Neuseeland hatten in den letzten Jahrzehnten massive Anstiege in der Kriminalität gegen Personen zu verzeichnen. Unser Kriminalitätsanstieg ist rezenten Datums und hängt manchmal auf komplexe Wiese auch mit der Veränderung nach der Wiedervereinigung, der Öffnung Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion zusammen und mit den gegenwärtigen europäischen und globalen Krisen zusammen.
In völligen Gegensatz zu der momentan grassierenden Angst, daß Frauen, ältere Menschen und diejenigen, die durch harte Arbeit zum nun gefährdeten Mittelstand aufgestiegen sind, durch die ausufernden Kriminalität besonders bedroht seien, kommen Untersuchungen von Opfern zu einem gegenteiligen Ergebnis: Mehr oder weniger besitzlose junge Männer werden am häufigsten Opfer von Eigentums- und Gewaltkriminalität, die von Angehörigen derselben marginalisierten Bevölkerungsgruppe ausgeübt wird. Obwohl viele dieser Opfer im Vergleich zu versicherten Bessersituierten keine Anzeige erstatten, beherrschen sie zahlenmäßig bei weitem das sichtbare Feld der gemeldeten Opferwerdung.
Die überwiegende Mehrzahl gewaltförmiger Vergehen, einschließlich Mord, Körperverletzung, Vergewaltigung und Kindesmißbrauch, passieren nicht auf dunkler Straße und werden nicht von fremden Männermonstern verübt. Sie geschehen im Haus oder im Auto des Opfers oder Täters. Angriffe gehen von Männern, viel seltener auch von Frauen aus, die das Opfer vorher kannte. Der lauernde Bösewicht ist eine Gestalt der Angst, aber er bestimmt nicht die Wirklichkeit der gewalttätigen Konflikte in unserem Land.
Die meiste Gewalt geschieht in den Familien. Etwa 150.000 Kinder werden jährlich durch Mütter und/oder Väter körperlich mißhandelt. Das ist ein etwas zweispältiger Umstand für diejenigen, die die Familie als das Allheilmittel gegen Kriminalität und Gewalt in unserer Gesellschaft ansehen. Leiden, Gewalt, Tätersein und Opferwerdung resultieren häufig aus Problemen in der Familie. Gewalt hängt außer mit wirtschaftlicher Not auch damit zusammen, daß die gesellschaftlich propagierte Fiktion von der heilen Familie und vom trauten Glück zu zweit eine Neurosenursache erster Ordnung ist.
Trotz aller Probleme in den eigenen vier Wänden: In der Wissenschaft werden die seit Mitte der achtziger Jahre kursierenden Behauptungen über das Dunkelfeld sowohl bei Mißhandlung von Partnerinnen/Ehefrauen als auch bei sexuellen Mißbrauch von Mädchen "Väter als Täter") zunehmend als unseriös betrachtet. Einige der Hochrechnungen ("Jede dritte Frau wird mißhandelt, jedes vierte Mädchen wurde mißbraucht") beruhen auf einer Sichtweise, die mehr oder weniger alle weiblichen Gesellschaftsmitglieder als Opfer ansieht und alle männlichen als potentielle Täter einordnet. Gesellschaftliche Gewaltproblemen wird eine ubiquitäre Verbreitung angedichtet, die moralische Empörung über die bösen Männer im Patriarchat auslösen soll, tatsächlich aber zum gegenteiligen Effekt führt. Gewalt und Mißbrauch werden so alltäglich und weitverbreitet dargestellt, daß sich die Parallele zum Falschparken aufnötigt. Nicht jede, nicht jede dritte und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch nicht jede zehnte Frau macht die Erfahrung sexuellen Mißbrauchs mit körperlichen Kontakt. Die Kampfparole "Väter sind Täter" unterstellt, daß es vor allem leibliche Väter sind, die ihre Töchter mißbrauchen. Diese These war zur Zeit der völligen Tabuisierung verständlich, vielleicht notwendig. Vor dem Hintergrund neuerer, methodisch sorgfältigerer Untersuchungen ist sie nicht mehr zu halten. Etwa ein Fünftel der Täter sind ihnen zufolge biologische Väter oder Stiefväter. Väter und fremde Täter sind in der Minderheit gegenüber Tätern aus dem Bekanntenkreis. (..)
Zumindestens bei der Kriminalität, auf die sich die Angst der Bevölkerung vorwiegend bezieht, hat sich die Entwicklung im Vergleich zu früher nicht so dramatisiert, daß eine allgemeine Krisenstimmung, einschneidende Eingriffe in Grundrechte und ein schärferes Durchgreifen des Staates als gerechtfertigt erscheinen. Die Angst vor den bösen Tätern verkauft sich gut, denn sie läßt uns Angst und die Ohnmacht angesichts bedrohlicher ökonomischer, ökologischer und politischer Zustände vergessen. An der Konjunktur des Unsicherheitsgefühls beteiligen sich neben den in wichtigen Fragen konzeptionslosen Volksparteien auch Vertreter sozialer und wissenschaftlicher Gruppierungen. Als Propheten einer düsteren Zukunft und als ErsatzrächerInnen können solche ExpertInnen medienöffentlich über das Böse im Mann, wahlweise in der Gesellschaft unken. Die Verpflichtung zur begründeten Analyse wird durch Gesinnungsbekundung und berufsmäßige Dauerbetroffenheit ersetzt. Das Übel wird stets bei den anderen vermutet und berechtigt zur Aggression gegen sie, insbesondere gegen Kritiker, auch schon mal zur handgreiflichen - wie jüngst gegen Katharina Rutschky - ganz wie bei der gewaltbereiten Jugend.
Kriminalitätsangst wird vor allem herbeigeredet. In der Kriminologie kennt man seit längerem Ergebnisse, die darauf hinweisen, daß die quantitative Entwicklung der Kriminalität in einer Gesellschaft und das Ausmaß der Angst vor dem Verbrechen zwei voneinander unabhängige Größen sind. Es gibt Zeiten, in denen trotz rückläufiger Kriminalitätsraten die Angst zunimmt. (Literaturtip: Klaus Boers, Kriminalitätsfurcht. in. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform) (...) In Deutschland gibt es zur Zeit keine realistische Diskussion über Kriminalität. Statt dessen werden bei uns die populistische Konstrukte des bösen Mannes, der finsteren Süd- Ostmafia und der gewaltbereiten Jugend verkauft. Was an Stimmung über Kriminalität und Jugendgewalt verbreitet, als Prävention von Kriminalität und als Vergeltung gerechtfertigt wird, schlägt auf die Kriminalpolitik durch. Es ist falsch zu behaupten, daß allein die Medien Kriminalitätsangst erzeugen. Sie bringen nur an Mann und Frau, was latent da ist, was in Bildern von Gefahr, von Tätern und Opfern gestaltet und gemeinsam ausgekostet werden kann und darf. "Crime pays": Verbrechen zahlt sich aus. Nicht für die gewöhnlichen Täter, aber sicherlich für das Medienkapital wie für die Moralunternehmer jeglicher politischer Coleuer. Und nicht zuletzt für die, deren rechtsbrecherisches Handeln aufgrund der verbreiteten Fixierung auf die Täter in den dunklen Straßen auch im hellen Tageslicht der Management- und Politiketagen unbehelligt bleibt. Die neue Unerbittlichkeit, die aus der Mitte der Gesellschaft wächst und deren rechtsstaatliche Substanz auszuhöhlen droht, ist die falsche Antwort auf die nicht zu bestreitende Tatsache, daß die zweite Republik in einer schweren Krise steckt."(S.239ff)

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Most recent revision: April 07, 1998

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