Zehn Thesen zum Verhältnis von Rassenbegriff und Rassismus
von Martin Blumentritt

Da immer wieder Unsinn über Rassen erzählt wird hier eine Widerlegung des Unsinns.
1) Ideologiekritik setzt stets an an falschen Bewußtseinsformen, die sich an der Oberfläche der Realität festmachen. Daher ist anzugeben, unter welchen Bedingungen die Verwendung eines Begriff der "Rasse" einst einen einsichtigen und korrekten Sachverhalt intendierte, möglicherweise einen empirischen Gehalt hatte und warum er ihn heute verloren hat, falls er ihn jemals hatte.
Es ist zwar nicht notwendig, einen vernünftigen wissenschaftlichen Begriff von Rasse zu haben, um den biologistischen Rassismus zu kritisieren, denn Rasse ist im Rassismus ein Konstrukt, keine biologische Realität, aber dennoch zeigt gerade der wissenschaftliche Rassenbegriff den Unfug auf, der mit vermeintlichen Menschenrassen getrieben wird. Läßt sich der Rassenbegriff eindeutig und wissenschaftlich korrekt definieren, so ist die Klassifikation von Populationen nach Rassen noch lange nicht als real möglich erwiesen.
Der alte biologistische Rassismus (der allerdings die Ausnahme ist und sehr selten noch vorkommt) erhob Rassenunterschiede zu Artunterschieden. Damit führt er illegitimerweise eine Wertung ein, die einige Menschen zur subhumanen Art degradiert. Diese macht sich fest an der vermeintlich höheren Entwickeltheit der Weißen. Die blödsinnige Behauptung, die Schwarzen ähneln den Affen mehr als die Weißen, würde schon durch den Sachverhalt, daß die Weißen behaarter sind als die Schwarzen ad absurdum überführt, es wäre dann ja eher umgekehrt.
Es gibt es zwei Typen von Rassismus, den wertenden, hierarchischen und den differentiellen Rassismus (Ethnopluralismus). Der zweitere ist gepaart mit einem Sozialdarwinismus, jener Rassismus wertet nicht unmittelbar, sondern bescheinigt explizit oder implizit den Siegern des ökonomischen Kampfes ihre Überlegenheit und erklärt die Verlierer implizit zu Minderwertigen. Diese Form von Rassismus, der bestimmte historische Resultate biologisiert, ist in den Metropolen entstanden.
Der differentielle läuft letztlich auf den wertenden Rassismus hinaus, den er aus opportunistischen Gründen nicht ausspricht. Er evoziert einen NS-Diskurs, den er selbst nicht führt. Dies gilt auch für eine bestimmte Form gutgemeinten Multikulturalismus, der sich näher besehen als Multirassismus erweist:
"Die Einteilung nach "Kulturen" und "Ethnien" ist in Deutschland eine Formierung von oben, die der administrativen und rechtspolitischen Bearbeitung des "Ausländerproblems", aber auch indirekt dem "Fremd-Machen" dient. Vor allem Sozialarbeiter und Lehrer haben die "Kulturen" erfunden, mit denen sie nun zu tun haben. Dieser Formierung von oben steht nach den Brandanschlägen auf Wohnungen vor allem von türkischen Immigranten eine spontane Mobilisierung der Angegriffenen von unten gegenüber, die ethnisierend zusammenzwingt, was sozial nicht zusammengehört. In einem aversiven und feindlichen sozialen Klima bedingen und verstärken Fremd-Ethnisierung und Selbst-Ethnisierung einander. Weil Zuwanderer in der Bundesrepublik nicht einmal das Recht haben, politische Rechte zu haben (Hannah Arendt), sind sie daran gehindert, sich wie Gesellschaftsmitglieder nach sozialen, politischen und ökonomischen Interessen zu differenzieren und sich an der pluralen Kompromißbildung von Interessengegensätzen wirkungsvoll zu beteiligen."(Frank-Olaf Radke, Fremde und Allzufremde. Prozesse der Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte, In: Links Mai/Juni 1996)
Die als Reflex auf die Fremd-Ethnisierung erfolgende Selbst-Ethnisierung wird oft als Vorwand genommen, daß sich gesellschaftliche Gruppen nicht integrieren können oder wollen. Damit wird die Wirkung von Rassismus zu ihrer Ursache umgelogen. Überall, wo Zuwanderer nicht rassistisch diskriminiert werden, assimilieren sie sich und empfinden sich nicht als die exotischen Wesen, zu denen sie in feindseligen Gesellschaften erklärt werden. Als Wesen gleicher Art haben alle Menschen wesentlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede.

2) Jede Art - auch die der Menschen - ist homogen, zu ihr gehören alle Exemplare, die fruchtbare Nachkommen zeugen können, Immanuel Kant hat eine Aufsatz geschrieben, der den Titel trägt:
"Von den verschiedenen Racen der Menschen zur Ankündigung der Vorlesungen der physischen Geographie"
Dort heißt es:
"Im Tierreiche gründet sich die Natureinteilung in Gattungen und Arten auf das gemeinschaftliche Gesetz der Fortpflanzung, und die Einheit der Gattungen ist nichts anders, als die Einheit zeugende Kraft, welche für eine gewisse Mannigfaltigkeit von Tieren durchgängig geltend ist."(I.Kant Werkausgabe XI, 11)
Daß ein Eskimo mit einem Inder, Afrikaner oder Mitteleuropäer sich fortpflanzen kann, zeugt dafür, daß es sich nicht um verschiedene Arten in irgendeinem biologischen Sinne handelt:
"Nach diesem Begriffe gehören alle Menschen auf der weiten Erde zu einer und derselben Naturgattung, weil sie durchgängig mit einander fruchtbare Kinder zeugen, so große Verschiedenheiten auch sonst in ihrer Gestalt mögen angetroffen werden. Von dieser Einheit der Naturgattung, welche eben so viel ist, als die Einheit der für sie gemeinschaftlich gültige Zeugungskraft, kann man nur eine einzige natürliche Ursache anführen, woraus sie, ungeachtet ihrer Verschiedenheiten, entsprungen sind, oder doch wenigstens haben entspringen können."(Kant, 11f)

3) Die Verschiedenheit, die - wie bereits der Augenschein belehrt - ja vorhanden ist, kann demnach keine wesentliche sein, sondern nur eine unwesentliche, jedenfalls tangiert sie keinesfalls die Menschennatur des Menschen. Der Mensch ist in der Tat nicht zureichend biologisch bestimmbar, da gerade die ihn von anderen Arten unterscheidenden Eigenschaften gar nicht biologischer Natur sind, sondern Produkte historischer Praxis: der Mensch macht den Menschen. Darum unterscheiden sich die Menschen in entscheidenden Dingen überhaupt nicht. Körperliche Eigenschaften wie Hautfarbe, Kopfgröße und Nasenlänge sind bei der Definition des Menschsein von keinerlei Bedeutung.
Ohne fruchtbare Nachkommen keine Vererbung, daher setzt Vererbung die Homogenität der Art voraus. Das ist Voraussetzung der Vererbungswissenschaft der Genetik, die zum Gegenstand hat, wie Unterschiede durch Mutation (Veränderung der Gene bei der Replikation) entstehen und sich auf Grund von Angepaßtheit an eine bestimmte Umwelt (Selektion) erhalten können. Der Mensch ist historisch nur einmal entstanden, durch natürliche oder historische Katastrophen bzw. Anpassung an die Umgebung kam es zu Abarten, die sich vererbten. Die Isolation von Populationen ist notwendige, nicht hinreichende Bedingung der Rassenentstehung, im Sinne von Subspecies. Diese werden allerdings, wie schon Kant wußte, durch Mischung wieder relativiert.
"Unter den Abartungen, d.i. den erblichen Verschiedenheiten der Tiere, die zu einem einzigen Stamme gehöre, heißen diejenigen, welche sich sowohl bei allen Verpflanzungen (Versetzungen in andre Landstriche) in langen Zeugungen unter sich beständig erhalten, als auch, in der Vermischung mit anderen Abartungen desselben Stammes, jederzeit halbschlächtige Jungen zeugen, Rassen."(Kant, 12)
Es gibt demnach erbliche Verschiedenheiten, die sich ggf. bei Endogamie (Inzucht) erhalten und bei Exogamie sich verändern und mischen. Je nachdem, welche Merkmale man verwendet, kommt man zu einer bestimmten Menge vererbarer Merkmale, die man zur Klassifikation verwenden kann. Die Rassisten des 19.Jh. haben vor allem sichtbare Merkmale nehmen wollen, wie die Hautfarbe, Kopfform, Körpergröße. Dies hat sich als nicht haltbar erwiesen. Zum einen erweisen sich einige Eigenschaften als von kulturellen Bedingungen: Kinderaufzucht, Ernährung usw. abhängig, zu anderen gibt es nachweislich Menschen gleicher Hautfarbe, bei denen sich kein Vererbungszusammenhang nachweisen läßt (afrikanische und australische Einwohner mit schwarzer Hautfarbe sind genetisch nicht verwandt) und umgekehrt kann nach außen hin verschiedenfarbig anmutende Haut, von der chemischen Struktur her identisch sein.
"Geeignete Definitionsmerkmale für verschiedene Rassen zu finden ist gar nicht so einfach. Die Ureinwohner Australiens und die afrikanischen Neger sind gleichermaßen dunkelhäutig, miteinander aber um keinen Deut enger verwandt als die Afrikaner mit den Europäern. Auch die Kopfform - dolichozephalich (länglich) oder brachyzephalisch (breit), nach einem 1840 von dem schwedischen Anatomen Anders A. Retzius gemachten Klassifizierungsvorschlag - gibt als Unterscheidungsmerkmal nicht viel her. Retzius und andere machten den Versuch, anhand der sogenannten zephalischen Index, d.h. des mit 100 multiplizierten Quotienten aus Kopflänge und Kopfbreite, die Europäer in einen nordischen, einen alpinen und einen mediterranen Typus einzuteilen, Allein die Differenzierungen von Gruppe zu Gruppe sind gering, die Variationsbreite innerhalb jeder Gruppe groß. Dazu kommt, daß für die Form des Kopfes im Einzelfall immer auch lebensgeschichtliche Faktoren eine Rolle spielen, beispielsweise chronischer Vitaminmangel, die Art, wie ein Säugling gebettet wird, usw.
Inzwischen ist jedoch ein ausgezeichneter Indikator der Rassenzugehörigkeit gefunden worden: die Blutgruppe. Der amerikanische Biochemiker William C. Boyd leistete bei der Erforschung dieses Zusammenhangs Pionierarbeit. Er zeigte, daß Blutgruppen nach einem einfachen und berechenbaren Mechanismus vererbt werden, nicht dem Einfluß lebensgeschichtlicher Faktoren unterliegen und eine jeweils rassetypische Verteilung zeigen." (I.Asimov, Die exakten Geheimnisse unserer Welt, S.271)
Da derartige Untersuchungen nicht auf Individuen anwendbar sind, sondern nur auf Populationen, werden Blutgruppenhäufungen genommen und Häufungen der Rhesusfaktoren. So kann man die berühmten Ausnahmen die Basken (60%RH-negativ 40% RH-positiv) anführen; oder die Aborigines, asiatische Völker, amerikanische Indianer und Afrikaner haben fast 100% Rh-positives Blut. Allerdings sieht man auch, daß historische Gründe immer schon hineinspielten, die die Isolation bewirken. Da mit der Entwicklung des Weltverkehrs die natürliche Isolation aufgehoben wurde, soll diese den Rassisten zufolge künstlich hergestellt werden. Hitler sprach davon, daß die Deutschen erst Rasse werden sollen, eben so wie man reinrasssige Hunde züchtet durch Isolierung wünschenswerter Eigenschaften, daher paart sich Rassismus auch mit Eugenik und Euthanasie.
Allein die Gruppen A, B, AB, 0, M, N und RH+ und RH- lassen schon einige Kombinationen zu. Wenn man nur 30 Merkmalshäufungen konstruiert, kommt es zu 2 hoch 30 mögliche Kombinationen, so viele wie es Menschen gibt. Auch Poliakov der bekannte Rassismusforscher bezieht sich auf die moderne wissenschaftliche Diskussion.
"Dagegen hat man im 20 Jh. (der Autor bezieht sich auf die Autoren des 19.Jh, die in dem Zitat oben auch erwähnt wurden MB) zahlreiche andere Unterscheidungsmerkmale entdeckt, so etwa die Häufigkeit verschiedener Blutgruppen innerhalb einer Population oder das Vorkommen gewisser erblicher Krankheiten. Nun zeigt eine Überschlagrechung, daß, wenn man nur etwa zwanzig der erblichen Merkmale nimmt - ihre Anzahl ist unendlich viel größer -, die verschiedenen Kombinationen, die sie miteinander bilden können, beinahe eine Million erreichen, und auf eine Million von Menschenrassen schließen. Deswegen sind gewisse Autoren soweit gegangen, die Existenz von Menschenrassen überhaupt zu verneinen. Die Soziologin Colette Guillham begründet diese Ansicht wie folgt: 'So groß ist die Vielfalt der Kombinationen, daß die Tendenz in die Richtung einer wuchernden Vermehrung von Klassen geht, und man kommt dazu, mehrere hundert Menschenrassen zu zählen. Im Grenzfall bildet jedes Individuum mit seiner spezifischen Zusammensetzung von Rassemerkmalen eine Rasse für sich.'
Vom streng logischen Standpunkt aus ist diese Position unangreifbar. Tatsächlich standen jedoch die Merkmale nicht immer in Widerspruch zueinander; im Gegenteil, manchmal ergaben sich analoge Resultate (so hat die Klassifizierung auf Grund von Blutgruppen-Häufigkeit die 'morphologischen' Kriterien eher bestätigt als widerlegt). Die Spezialisten konnten also weiterhin Klassifikationen ausarbeiten, und das taten sie auch: jeder legte seine eigene vor, und sie wurden so zahlreich wie die Spezialisten selbst! Da aber jede notwendigerweise in irgendeinem Punkt mit einer anderen in Widerspruch steht, bleiben alle nur Annäherungen"(L.Poliakov u.a., Rassismus S.17)
Die Unschärfe der Bestimmung ergibt sich also bereits bei der Konstruktion von Klassen, nicht erst ihrer Anwendung. Es erweist sich sehr schnell, daß sich die Individuen einer vermeintlichen Rasse untereinander mehr unterscheiden als die angeblichen Rassen selber. Wissenschaftlich kann das nicht befriedigend sein. Wer sich also unbedingt unterscheiden will, sollte sich darum bemühen sich vom Affen oder vom Hund zu unterscheiden, sich also menschlicher benehmen. Denn mehr als subjektiv-zufällig sind die Klassifizierungen nicht, da die Einteilungen Erkenntnis-Interessen entspringen, nicht der Sache selbst. In der Regel stimmt - warum wohl - das, was als eigenen Rasse konstruiert wird immer mit den durchschnittlichen sozial definierten gewünschten Eigenschaften überein. Und die fremden erscheinen stets dem gegenüber unähnlicher.
"Menschen sehen dich an.- Die Entrüstung über begangene Grausamkeiten wird um so geringer, je unähnlicher die Betroffenen den normalen Lesern sind, je brunetter, &hibar;schmutziger®, dagohafter. Das besagt über die Greuel selbst nicht weniger als über die Betrachter. Vielleicht ist der gesellschaftliche Schematismus der Wahrnehmung bei den Antisemiten so geartet, daß sie die Juden überhaupt nicht als Menschen sehen. Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom. Über dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er diesen Blick von sich schiebt - &hibar;es ist ja bloß ein Tier®-, wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen die Täter das &hibar;nur ein Tier® immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten."(Adorno, Mimima Moralia Aph. 68)
4) Fazit: Die Kombinationen von vererbbaren Merkmalen, Rassen, ergeben keinen definiten taxonomischen Begriff. Die Wissenschaftler können sich nicht auf objektive Kriterien einigen. Es bleibt letztlich nicht viel mehr an Weisheiten über wie die Trivialitäten, daß sich Schwarze und Weiße durch die Farbe ihrer Haut unterscheiden. Das hätte man aber mühelos auch so erkennen können.

5) Die Evolutionstheorie Darwins wußte bereits, daß durch planmäßigen Eingriff in die Reproduktion einer homogenen Population, durch Zuchtwahl, eine Population generiert werden kann, in der sonst nur rezessiv (also nicht in Erscheinung tretende) vererbbare Merkmale ausschließlich vorkommen. Rassen (es ist von reinen Rassen die Rede) sind grundsätzlich erst durch den Menschen überhaupt bei der Zucht von Pflanzen und Tiere geschaffen worden. Weil es sich um rezessiv vererbbare Merkmale handelt, ist Endogamie eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Reinheit der so generierten Rasse. Diese wird ergänzt durch fortlaufende Zuchtwahl, über die der Züchter befindet. Diese Praktiken auf die Menschen zu übertragen, widerspräche dem universellen Menschenrecht. Experimente mit Menschen sind nicht erlaubt.
Zoologisch sind Rassen also Großgruppen oder Populationen von sich untereinander geschlechtlich fortpflanzenden Exemplaren einer Art, die sich durch Gemeinsamkeit bestimmter Merkmale aus der Gesamtheit einer Art herausheben. Die Rassen sind untereinander unbeschränkt fruchtbar, die Zeugungsschranke, die die Artunterschiede definiert, ist also erst auf der nächsthöheren Ebene wirksam.

6) Wie ist es bei den Menschen? Biologisch hat sich der Mensch durch die stammesgeschichtliche Abspaltung als Homonidae von den äffischen Primaten entwickelt und zwar nur einmal (Monogenese). Alle heute lebenden Menschen haben also einen gemeinsamen Ursprung. Der Prozeß ist äußerst komplex gewesen, so daß er nur in einem anthropologischen Begriffssystem des Tier-Mensch-Übergangsfelds begriffen werden kann. Er umfaßt biologische Aspekte wie ökologische Ursachen der Spezifikation, die Konkurrenz um ökologische Nischen und die damit verbundenen Änderungen des Körperbaus der Hominiden und psychologische, wie die phylogenetisch ursprüngliche Entstehung des Bewußtseins im Übergang von hominiden zu humanen Hominiden, also der Menschwerdung im engeren Sinne.
Die Hominisation, der Übergang vom Tier zu Menschen, bedeutet allerdings nicht die vollständige Umwandlung aller psychischen Funktionen in bewußt kontrollierte Verhaltensweisen. Die Entwicklung des Bewußtseins betrifft nur einen begrenzenten psychischen Bereich motivationaler und kognitiver Kompetenzen, während für die Aufrechterhaltung physiologischer und elementarer verhaltensbiologischer Funktionen ein quasi-tierischer Bereich bestehen bleibt, der von unbedingten Reflexen, ererbter Koordinationen und Orientierungsmechanismen geprägt ist, welcher zu einen großen Teil der bewußten Kontrolle nicht bedarf und die auch außer Kontrolle bleibt. Die gesellschaftliche Entwicklung überführte allerdings einen immer größeren Anteil des psychischen Grundrepetoirs teils auf die bewußte Reflexionsebene teils auf unbewußte gewordene kulturelle Verhaltensmuster. Mit der Entwicklung der technischen und kulturellen Produktivkräfte, wird das Naturmoment ständig zurückgedrängt, beschleunigt vornehmlich in der Industrialisierung, die bestimmte Verhaltensformen weltweit verallgemeinert, die funktional für die Arbeit in der kapitalistischen Industriegesellschaft sind. Diese sich seit einigen Jahrhunderten entwickelnde sich globalisierende Gesellschaft löst die einst entstandene Trennung von Unterarten oder Rassen der Menschen auf.
Menschen-Rassen kamen folgendermaßen zustande. Es gab in Vorzeiten durch Naturkatastrophen und Witterungseinflüsse isolierte menschliche Populationen, die aufgrund ihrer natürlichen, geographischen Isolierung relativ endogam wurden. Die Isolation über Generationenfolgen hinweg war Ursache der Rassengenese. D.h. Menschenrassen kamen zustande dadurch, daß die ungehinderte Zeugungsbeziehung nur als denkbare Möglichkeit gegeben war, während sich die realen Zeugungsbeziehungen über einen begrenzten Raum erstreckten.
Dem machte die Weltgeschichte allerdings ein Strich durch die Rechnung. Mit der Entdeckung der letzten isolierten Populationen hatte auch deren Isolierung und mit ihr die Endogamie ein ebenso natürliches wie gesellschaftliches Ende. Mit anderen Worten der universalhistorische Vergesellschaftungsprozeß homogenisiert natürlich entstandene Differenzen, das war die große Verallgemeinerungsleistung des Weltmarktes. Allerdings beginnt paradoxerweise mit dem Anfang vom Ende der Menschenrassen historisch auch der Rassismus, wie er in der Renaissance-Zeit auftritt.

7) Mit der Entdeckung der neuen Welt hatten die imperialistischen Entdecker weitere isolierte endogame menschliche Populationen entdeckt. Da sich Ausplünderung und Völkermord schlecht mit dem christlichen Selbstverständnis vertrugen, machten sie sich den Gebrauchswert dieser Entdeckung für die Aneignung fremden Reichtums zunutze. Hier beginnt im engeren Sinne die Geschichte des traditionellen Rassismus, der Populationen abwertet, um sie gewissenslos abschlachten zu können.
Der Rassismus begann demnach als Rechtfertigungsideologie der welthistorischen materiellen, militärischen und technischen Überlegenheit der Europäer zur Zeit der Expansion in die Neue Welt, vornehmlich in Übersee. Dann schritt er fort im Zeitalter der Aufklärung und der Industrialisierung, um sich im Zeitalter des Imperialismus, der euroamerikansichen Expansion einen vorläufigen Höhepunkt zu finden. Im 20.Jh. radikalisierte sich der Rassismus einerseits in Deutschland, anderseits im Südafrika der Apartheid. Keineswegs hat er etwas mit den biologischen Aufteilungen in Rassen zu tun. Anfänglich bei Françoir Bernier war "Rasse" noch synonym mit espèce (Spezie, Art, Gattung) verwandt worden, so wie man heute von menschlicher Rasse manchmal spricht und fungierte auch schon dort im 17.Jahrhundert als Prinzip wertneutral intendierter Klassifizierung.
Allerdings gingen von Anfang an unbewußt oder bewußt positive oder negative geistige und moralische Wertungen vorab in die Begrifflichkeit ein, so daß selbst der wissenschaftlich intendierte Begriff von Menschen-Rassen rassistisch affiziert war. Die anfänglichen Idealisierung des Primitiven, der "Mythos des edlen Wilden" im 18.Jh., wich bald dem Stereotyp des zu missionierenden faulen, undisziplinierten, unfähigen Wilden, der dem aufklärerischen Ideal der Mäßigung und Ordnung widersprach. Ersetzt wurde dieser Mythos durch das klassische - am alten Griechenland orientierte - Schönheitsideal, wie sie in der paradigmatischen Formulierung von Winckelmanns der Schönheit als "edle Einfalt und stille Größe" sich ausdrückte.
Diese Vorstellungen gingen dann bei dem Begründer der biologischen Anthropologie Johann Friedrich Blumenbach als Werturteil in die Typisierung ein, obgleich er noch an der Einheit der menschliche Rasse festhielt und Umweltfaktoren wie das Klima heranzog, um Unterschied von Hautfarbe und Gestalt zu erklären. Da stand er noch in der Tradition von Lamarck, Buffon usw.
Der schwedische Biologe Carl von Linné paarte dagegen eindeutig Beobachtungen mit subjektiven Werturteilen und wurde so zu einem der Vorkämpfer rassistischer Klassifikationen. So enthielt die Definition der weißen Rassen bereits die Werturteile, es handele sich um eine die schöpferisch, erfinderisch, ordentlich und von Gesetzen regiert sei, die überlegen sei, weil sei mittelständische Werte widerspiegele, während die "Neger" mit allen negativen Eigenschaften "begabt" seien, faul, unaufrichtig und unfähig sich selber zu regieren. Was kümmerte danach noch das Urteil Blumenbachs, daß alle Neger sich mehr oder weniger voneinander unterscheiden und in allen Nuancen ummerklich in das Aussehen von Menschen anderer Rassen übergehen, die ästhetischer - soll heißen klassisch-griechischer - seinen.
Die "Entdeckung" von Gesichtswinkeln durch den holländischen Anatomen Peter Camper, der dann zu Schädelmessungen und Vergleichen von Kalmücken und Negern mit denen von Weißen führte. Campere vermaß zum Vergleich dann auch die Schädel von Affen- und Hundeschädeln und behauptete vergleichbare Gesichtswinkel mit Negern. Mitte des 19.Jh. waren die Sterotypen des Menschen nahezu perfekt und der Rassismus verschmolz mit dem völkischen Nationalismus, dem Versuch mit rassistischen Kriterien nationale Mythen zu spinnen und Nationalbewußtsein zu produzieren, bis heute geeigneter Indikator für gelungene rassistische Indoktrination. Konstruktionen wie die von Arthur Comte de Gobineau, der die Welt in gelb, schwarz und weiß einteilte, wiesen den Weg, den der Rassismus einschlagen sollte. Robert Knox Vorlesungen "Races of men" schwadronierten von "Rasse ist alles, Kultur häng von ihr ab." Er konstruierte gleich zwei edle Rassen: die Sachsen und die Slaven, die ersten groß, stark und athletisch, aber unfähig zum denken und die letzteren äußerlich häßlich, aber mit guten intellektuellen Fähigkeiten. Die alten Griechen galten ihm als vollendete Synthese, die die Schönheit der Sachsen mit der Gedankentiefe der Slaven verbanden. Die Schwarzen galten dagegen als so minderwertig, daß ihnen selbst wenig schmeichelhafte Eigenschaften fehlten, sie seien der rudimentären Natur der Tiere näher. Und die Juden galten ihm als schwarz-, braun- und gelbhäutige Menschen mit pechschwarzen Haar und schwarzen Augen, ein Gegenstück zum vollkommen Menschen des antiken Griechenlands. Zur Naziideologie ist der Schritt also dann nicht mehr weit.
Charles Darwin beklagte dann ja in der Tat bei den Biologen die größtmögliche Meinungsverschiedenheit, ob der Mensch "als eine einzige Art oder Rasse klassifizierte werden soll, oder als zwei (Virey), drei(Jaquinot), vier(Kant), fünf (Blumenbach), sechst (Buffon), sieben (Hunter), acht (Agassiz), elf (Pickering), fünfzehn (Bory St. Vincent), sechszehn (Desmoulins), zweiundzwanzig( (Morton), sechzig (Crawford) oder nach Burke als dreiundsechzig Arten oder Rassen"(Darwin, Die Entstehung der Arten, Stuttgart 1886, S.261)
Heute ist das Durcheinander nur etwas größer und zwischen keine Rassen bis jedes Individuum ist eine eigene, ist alles schon dagewesen. So fragt sich, warum dann überhaupt solche unbrauchbaren Einteilungen aufgestellt werden. Das kann nur daran liegen, daß der Rassismus eine bestimmte Verfolgungspraxis von Menschen rationalisiert, die bis zum Mord gehen kann.
Es ist fraglich, ob es überhaupt einen anderen Zweck gibt, als zu morden oder eine Verfolgungspraxis zu rationalisieren, Menschen in Rassen einteilen zu wollen. Das gilt auch für den differentiellen Rassismus. Foucault schreibt daher zurecht:
"Die Rasse, der Rassismus, das ist die Akzeptabilitätsbedingung des Tötens in einer Normalisierungsgesellschaft. Dort, wo Sie eine Normalisierungsgesellschaft vorfinden, dort, wo Sie eine Macht vorfinden, die zumindestens in erster Instanz, in erster Linie eine Bio-Macht ist, dort ist der Rassismus notwendige Bedingung dafür, jemanden zum Tode bringen zu können. Die Tötungsfunktion des Staates kann, sobald der Staat nach dem Modus der Bio-Macht funktioniert, nicht anders gesichert werden als durch den Rassismus.
Somit läßt sich die Bedeutung...des Rassismus für die Ausübung einer solchen Macht verstehen: Er ist die Bedingung, unter der das Recht zu töten ausgeübt werden kann. Wenn die Normalisierungsmacht das alte souveräne Recht des Tötens ausüben will, dann muß sie sich des Rassismus bedienen."(M.Foucault Leben machen und sterben lassen. Die Geburt des Rassismus in: Bio-Macht Diss-Texte Nr. 25 S.43)
8) Die Entstehung des Rassismus geht historisch einher mit der Auslöschung der biologischen Rassenunterschiede. Denn nachdem die natürliche Bedingung der Endogamie, die Isolation, weggefallen war, fielen tendenziell alle natürlichen Schranken zwischen den Rassen. Zwar versuchten die Kolonisten durch Dekrete und rassistische Indoktrination, die Brauchbarkeit der neu entdeckten Populationen für die Ideologie zu sichern. Aber dies konnte auf Dauer kein Erfolg haben. Jeder Mestize, jeder Mischling widerlegt die Vorstellung von Menschenrassen praktisch. Diese Widerlegung ist der legitime Bastard des Kolonialismus, der auf der anderne Seite den den Rassismus als Rechtfertigung seiner Massaker ersann.

9) Die Rasse, von der der Rassist spricht, ist allerdings ohnehin keine Rasse im biologischen Sinne:
"Wenn der Biologe heute eine mehr oder minder genaue Definition von Rasse liefern kann, dann ignoriert der Rassist seinerseits diese Definition vollständig"(Poliakov S. 26)
Wenn die "Schwarzen" diskriminiert werden, so trifft es eine durchaus heterogene Menge von Untergruppen, die auf physischer Ebene nicht mehr Gemeinsamkeiten haben als Schwarze und Weiße. Für das reale biologische Substrat, das Menschen unterscheidet, das kaum jemand, der den Rassenbegriff für irrelevant erklärt, abstreitet, interessiert sich der Rassist gar nicht oder nur zum Schein. Er erklärt bestimmte intellektuelle oder kulturelle Merkmale, vor allem aber institutionalisierte Unterschiede von Arm und Reich zu Unterscheidungen, zu Unterteilungen, die angeboren und universell, von Natur aus vorhanden sein sollen.
"Der Nationalismus denkt - darauf kommt es an - in historisch- schicksalhaften Begriffen, während der Rassismus von immerwährenden Verunreinigungen träumt, die sich vom Ursprung der Zeiten an in einer endlosen Folge ekelerregender Kopulationen fortpflanzten: außerhalb der Geschichte. Neger sind dank des "unsichtbaren Mals" auf ewig Neger, und Juden, die Brut Abrahams, sind auf ewig Juden - ganz gleich welchen Paß sie besitzen oder welche Sprache sie sprechen und schreiben. (..) Die Ideologien, in denen die Phantasien des Rassismus ihren Ursprung haben, sind in Wirklichkeit eher solche der Klasse als der Nation: vor allem Ansprüche auf ihr Gottesgnadentum und der Aristokraten auf "Blaues" oder "weißes Blut" und ihre "Herkunft". Es kann darum weder überraschen, daß der mutmaßliche Ahnherr des modernen Rassismus kein kleinbürgerlicher Nationalist, sondern Joseph Arthur, Comte de Gobineau ist, noch daß Bekundungen von Rassismus und Antisemitismus im allgemeinen die Grenzen einer Nation nicht überschreiten, sondern auf sie beschränkt bleiben. Wo immer im 19.Jh. außerhalb Europas Rassismus entstand, war er - aus zwei miteinander verknüpften Gründen mit europäischer Herrschaft verbunden." (B.Anderson, Die Erfindung der Nation, S. 150)

10) Die signifikanten Unterschiede zwischen den Menschen sind kultureller, gesellschaftlicher Natur, sie kennzeichnen jede auf Ungleichheit basierende Gesellschaft. Die rassistische Auffassung ist daher auch dadurch gekennzeichnet, daß sie diverse Formen sozialer Gruppierungen, die durch sprachliche, religiöse, politische oder andere geschichtlich gewordene, keineswegs natürliche Eigenschaften geprägt werden, mit der Bezeichnung einer biologisch homogenen Gruppe belegt. Dies widerspricht absolut dem, was Biologen darüber aussagen:
"Da der Homo sapiens seit langem die Tendenz erkennen läßt, die Erde zu einem einzigen zusammenhängen oder gar uniformen Lebensraum zu machen, haben sich bislang keine grundlegenden Differenzierungen herausgebildet, die zu einer Aufspaltung der Menschheit in unterschiedliche Arten führen könnten; daß dies in Zukunft geschehen könnte, ist erst recht unwahrscheinlich. Die Entwicklung läuft eher auf eine zunehmende Vermischung der verschiedenen Rassen und eine Nivellierung der bestehenden Unterschiede hinaus."(Asimov, a.a.O. S.270)
Selbst dann, wenn man die nur noch unscharfen Unterschiede des Natursubstrats theoretisch festhalten will, zerfließen sie in der Praxis.
Auch Poliakov kommt zum selben Schluß, daß die Unterschiede des Natursubstrats der Menschen verschwindende sind:
"Die allgemeine Tendenz zielt in unserer heutigen Welt, so wie sie nun einmal ist, auf eine biologische Gleichförmigkeit der Menschen."(S. 20)
Daher ist die Unterhosenriecherei, die manche beginnen wollen, auch nur ein Anzeichen von Rassismus. Denn es ist ja doch vorab entschieden, wen sie diskriminieren, selektieren und schließlich vernichten wollen. Das außergewöhnliche Interesse am Festhalten von Verschiedenheiten, die am Verschwinden begriffen sind, ist vorab verdächtig, Herrschaftszwecken und rassistischer Ideologie zu dienen.

[ Top | Zurück ]


Most recent revision: April 07, 1998

E-MAIL: Martin Blumentritt