Martin Blumentritt
Was ist eine multikulturelle Gesellschaft? Oder wie die Angst vor der Multikulturalität
die Rassisten selber zerstört.
Eigentlich ist die Wortkombination multi + kulturell ein Pleonasmus, so wie weißer
Schimmel, monokulturell kann eine Gesellschaft nicht sein.
"Kultur ist das, was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden
entsteht, sie stellt das Produkt der Veränderung des Eigenen durch die Aufnahme
des Fremden dar."(Mario Erdheim, Das Eigene und das Fremde in: Pysche 46 (8)
S. 730ff hier S.734)
Kultur ist also immer multikulturelles Tun. Kultur ermöglicht uns dem dumpfen
Zustand, in dem wir uns selbst fremd sind, zu verlassen. Im Englischen gibt es zwei
Wörter, für das was wir mit "fremd" übersetzen strange
und unknown. "Strange" ist jemand, der zwar schon vertraut ist, aber doch
anders. So können Eltern ihre Kinder verstoßen und sagen: "Von und
an bist Du eine Fremde für uns." Man kann sich also auch fremd werden.
Bei "Unknown" tritt das auch auf. Mancher erkennt sich selbst nicht mehr
wieder, weil Regungen an ihm ihm völlig fremd waren. Bei Goethe heißt
es:
"Nur ein Fremdling, sagt man mit Recht, ist der Mensch hier auf
Erden; Mehr als ein Fremdling als jemals, ist nun ein jeder geworden." (Hermann
und Dorothea 9.Ges. 269f)
Kultur ist etwas, daß die Fremde aufhebt, indem man sich selbst fremd wird.
In der Kultur schauen wir uns selber als fremd an. Dazu bedarf es aber des Kontrasts.
"Fremde sind wir uns selbst" heißt ein Buch von Julia Kristeva.
Das an uns Fremde muß allerdings uns erst noch fremd werden, damit wir es
erkennen. So hat Schelling Hentheismus von Monotheismus unterschieden, bei beiden
gibt es nur einen Gott, bei dem ersten, weil man nur den eigenen kennt, die der
anderen nicht, bei zweiten, weil man die Pluralität der Götter zwar kennt,
aber verneint. Kultur entwickelt sich also dadurch, daß sie durch Kontrasterfahrung
sich selber erst erkennt und damit fortentwickeln kann.
Dem Fremden gegenüber verhalten wir uns ambivalent (mit doppelter Wertigkeit
also).
"Im Gegensatz zum Anderen, das mir gleichgültig sein kann,
löst die Kategorie des Fremden immer eine positive oder negative Betroffenheit
aus."(Mario Erdheim, Das Fremde in: Streeck (Hrg.) Das Fremde in der Psychoanalyse
S.168)
Das Fremde kann zum Eigenen werden, wie auch umgekehrt das Eigene fremd. Sauerkraut
mit Rippchen, ein Frankfurter Leibgericht, stammt aus Innerasien und ist nach und
nach über die Turkvölker, Tartaren, Slowenien nach Mittelleuropa gekommen.
Die Kartoffel stammt aus Amerika und das Bier aus Babylonien, es gelangte über
den Vorderen Orient in den gesamten Mittelmeerraum und landete mit der Römischem
Invasion in den Norden, so wie der Wein. So manche als "deutsches Volkslied"
bekannte Lieder wie "Kein schöner Land" stammen von dem Italiener
Antonio Florentino von Zuccalmaglio, der sich den deutschen Namen Wolhelm von Waldbröl
gab.
Fremd ist ein Relationsbegriff, so wie das Eigene oder das Vertraute. Das eine ist
ohne das andere nicht. Allerdings kann man zum Fremden werden, aneinander fremd
werden:
"Mein Name ist Borislaw Herak, geboren in Sarajewo..1971. Ich habe
in Sarajewo, Drinska 48 gewohnt. Wo ich gewohnt habe, lebten Serben, Muslime und
Kroaten. Noch zuletzt, als der Beschuß kam, richteten wir gemeinsame Wachen
ein, alle zusammen...Als noch Friede war, gingen wir mit den Muslimen aus. Zu Weihnachten
kamen sie zu mir, zum Bajram ging ich zu ihnen. Wir waren eine richtige Clique."(Die
Zeit, 18.6.1993 51)
Wie der Nationalismus aus Freunden Fremde machte, können wir uns vorstellen.
Plötzlich befinden sich die Leute im Kriegszustand. Herak wird gewarnt, die
bosnische Territorialverwaltung würde seine Wohnung durchsuchen und sie würden
ihn und die Mutter umbringen, weil sie Serben sind. Feindschaft wird aufgebaut.
Zur Gewalt gegen Andere besteht per se kein Grund. Der Christ kann den Muslim zum
Weihnachtsfest einladen und umgekehrt sein Freund ihn zum Bajram.
Allein hieraus ersehen wir, daß Fremdheit etwas Relatives ist, mal bereitet
es Angst, mal bereitet es die Freude des exotischen Genusses, des Neuen. In ganz
Europa haben wir eine wechselhafte Geschichte gehabt. Das Eigene wurde immer wieder
sich selbst fremd. Im Gegensatz zu den Naturgesetzen (und auch hier eigentlich im
strikten Sinne nicht, wenn man von einer Physik des Werdens ausgeht(Prigogine))
ist die Kultur etwas sich ständig Veränderndes.
Sie hat zur Voraussetzung das Anerkennen ihrer Vielfalt als Quelle ihres Reichtums
und die Ablehnung jedes Zwangs zur Homogenität, die Statik bedeuten würde.
Es gibt keine geschlossene Kultur, Kultur ist nichts Statisches, sondern etwas Dynamisches.
Das verkennt der Neorassismus, der Ethnopluralismus(Apartheid), der so wie hier
Benoist behauptet " Sie seien für Anerkennung und Respektierung der Verschiedenheit
des jeweils anderen statt für deren Einebnung."(nach Herzinger, Die Zeit
20.8.1993) und als Voraussetzung "sei die Selbstbesinnung der Völker auf
ihre unverwechselbare und unaustauschbare 'Identität'."(ebenda) Diese
sog. kollektive "Identität" wird als substantiell, unveränderliches
Produkt der Geschichte betrachtet. Solch ein kultureller Artenschutz, wie man spotten
kann, wäre der Tod jeder Kultur. Für Innovation wäre dann kein Platz
mehr, die Kultur wäre tot oder so lebendig wie die lateinische Sprache. Kulturleben
besteht aber im Austausch mit dem Fremden. Nur Gesellschaften, die nicht statisch,
geschlossen, homogen sind, können in der heutigen Zeit für die Zukunft
anschlußfähig bleiben.
Multikulturelle Gesellschaft kann also nicht heißen, daß sich
geschlossene Kulturen begegnen und voneinander geschieden vor sich hin existieren.
Man würde dann kein Sauerkraut mit Rippchen, diese asiatische Delikatesse in
Frankfurt bekommen, sie wäre im Osten geblieben und man könnte sich auch
nicht über die Kartoffelfresser (Deutsche) erregen, weil die Kartoffel immer
noch in Amerika angesiedelt wäre. Wir hätten auch kein Beethoven, kein
Bach, kein Mozart ohne die Aneignung der orientalischen, griechischen und italienischen
Musik, kein Christentum mit seinem Geschichten über die Weisen aus dem Morgenlande.
Ernest Gellner hat treffend das Verhältnis des Nationalismus zur Kultur bestimmt:
"Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, und nicht
umgekehrt. Zugegebenermaßen nutzt der Nationalismus die bereits bestehende,
historisch ererbte Bandbreite von Kulturen oder kulturellem Reichtum, obwohl er
sie selektiv einsetzt und sie meistens radikal umwandelt. Tote Sprachen können
wiederbelebt, Traditionen erfunden, recht fiktive Urzustände restauriert werden.
Aber dieser kulturell kreative, phantasievolle, positiv erfinderische Aspekt nationalistischen
Eifers sollte niemanden zu dem irrtümlichen Schluß verführen, der
Nationalismus sei eine zufällige, künstliche, ideologische Erfindung:
so, als wäre er niemals ins Leben getreten, hätten nicht jene verfluchten
wichtigtuerischen europäischen Denker dieses ideologische Gebräu zusammengemixt
und verhängnisvollerweise in das Blut eigentlich gesunder Gemeinwesen injiziert.
Die kulturellen Fetzen und Flicken, derer sich der Nationalismus bedient, hätte
die gleichen Dienste getan. Aber daraus folgt keineswegs, daß das Prinzip
des Nationalismus selbst - im Gegensatz zu den Offenbarungen, die er für seine
Inkarnation nutzt - ein willkürliches oder zufälliges Phänomen darstellte.
Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein als eine derartige Vermutung.
Nationalismus ist nicht das, was er scheint; und vor allem ist er nicht, als was
er sich selbst erscheint. Die Kulturen, die er zu verteidigen und wiederzubeleben
beansprucht, sind häufig seine eigenen Erfindungen oder werden zur Unkenntlichkeit
modifiziert. (...)
In Nürnberg verehrte sich Nazideutschland nicht etwa selbst in der Maske Gottes
oder auch nur Wotans; offen betete es sich selbst an."(Gellner Nationalismus
und Moderne S. 87f)
"Der Nationalismus ist seinem Wesen nach die allgemeine Durchsetzung einer
Hochkultur in einer Gesellschaft, in der zuvor niedrige Kulturen das Leben der Mehrheit
und in manchen Fällen der Gesamtheit der Bevölkerung ausmachte. Er bedeutet
die generalisierte Ausbreitung eines durch das Schulwesen vermittelten und durch
Akademien überwachten Idioms, das für die Erfordernisse einigermaßen
bürokratischer und technologischer Kommunikation kodifiziert wird. Der Nationalismus
steht(...) für die Einrichtung einer anonymen, unpersönlichen Gesellschaft
aus austauschbaren atomisierten Individuen, die vor allem anderen durch eine solche
gemeinsame Kultur zusammengehalten wird."(Gellner S.89)
"Wenn der Nationalismus gedeiht, schaltet er die fremde Hochkultur aus, ersetzt
sie jedoch nicht durch die alte lokale niedrigere Kultur; er belebt oder erfindet
eine eigene lokale "hohe", d.h. eine schriftkundige und von Spezialisten
übermittelte Kultur, wenn auch diese neue Hochkultur durchaus einige Verbindungen
mit den früheren lokalen Volksstilen und Dialekten aufweisen mag."(Gellner
S.90)
Die lange ehrwürdige Tradition, auf die der Nationalismus sich beruft, ist
sein eigenes Gespinst, keine Realität. Erst dieses Gespinst bringt eine Realität
hervor, ein System von Vorstellungen, Wertungen und Normen, eine Ideologie, die
vermittelt durch Indoktrination von größeren Mengen geteilt werden kann.
Da in Gesellschaften die Identität aller, die Gemeinsamkeit von Merkmalen,
die alle teilen, nicht möglich ist, kann es sich nur um Identifikation, nicht
um Identität handeln.
Der Nationalismus, der von der Idee zur Realisierung voranschritt, führte zu
der Bildung von Nationen im Sinne von Staaten, die ein Gewaltmonopol aufrichten,
der sich alle unterordnen. Wird der Nationalismus reaktiviert, so zeigt er einen
Mangel an Integration des Gemeinwesen an. Wenn die Gesellschaft ökonomische
Ungleichheiten verschärft, die Differenz von Arm und Reich sich vergrößert,
die bloß ideologisch vorgestellte Gemeinschaft ersetzt die Verwirklichung
von sozialer Gerechtigkeit.
Nach E.Sieyès ist die Nation eine "Gesellschaft, welche unter einem
gemeinschaftlichen Gesetz lebt und durch ein und dieselbe gesetzgebende Versammlung
vertreten wird."(Was ist der Dritte Stand S. 34) Der Befreiungsnationalismus
richte sich gegen die Vorrechte und Privilegien des Adels, gegen den Konservativismus
als der politischen Strömung die mit dem Adel verbunden war und mit ihm verschwand.
Der Nationalismus von Sieyès richtet sich diskriminierend gegen den Adel,
der Dritte Stand ist die vollständige Nation. Über diese Diskriminierung
entsteht die französische Nation. Diese revolutionäre Tradition wurde
bewahrt. Das war möglich, weil das Territorium, auf dem die Revolution stattfand,
vorher schon relativ feststand. Das jus soli, das Staatsbürgerrecht, nach dem
jeder der auf dem Territorium geboren wird, Staatsbürger ist, regelt das Verhältnis
von innen und außen. Wo das nicht möglich war, wo der Nationalismus überhaupt
erst das Territorium erringen mußte, so dort wo Deutschland entstand, war
der Nationalismus von Anfang an ein völkischer, mit Ausnahme von jakobinischen
Strömungen, die keinerlei politische Bedeutung errangen.
Dem Nationalismus wohnt inne, daß eine Gruppe der Bevölkerung einen Staat
konstituiert. So kann es auch Nationalismus ohne Nation geben, wenn der Nationalismus
nicht die Massen ergreift oder der militärische Erfolg ausbleibt. Max Weber
betont:
"'Nation' ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig,
dann nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten definiert werden kann. Er
besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig gebrauchen, zunächst unzweifelhaft:
daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden zuzumuten
sei, gehört also der Wertsphäre an. Weder darüber aber, wie jene
Gruppen abzugrenzen seien, noch darüber, welches Gemeinschaftshandeln aus jener
Solidarität zu resultieren habe, herrscht Übereinstimmung. 'Nation' ist
zunächst nicht identisch mit 'Staatsvolk', d.h. der Zugehörigkeit zu einer
politischen Gemeinschaft."(Wirtschaft und Gesellschaft S.528)
Weber führt Sprachgemeinschaften an, die manchmal den Nationalismus ausmachen
(Sprachnationalismus), sieht aber, daß das weder eine notwendige noch hinreichende
Bedingung sein muß, da es Sprachgemeinschaften gibt, die keinesfalls Nationen
bilden. Da wo Sprachenkämpfe eine Rolle spielten, war das eher der Fall.
Die Suggestion von Gemeinschaft der Verschiedenen kann also verschieden sein, sie
kann wie in Frankreich territorial sich ergeben, durch Heranbildung einer Hochsprache,
die die vielen unterschiedlichen Sprachen verdrängt, sie kann religiös
sein oder gar rassistisch, wie in Deutschland, auf angeblicher Blutsgemeinschaft
beruhen, wobei Weber auf den Sachverhalt hinweist, daß "radikale Nationalisten
oft von fremder Abstammung sind".
Wo die inneren Interessengegensätze zunehmen, wurde oft ein sekundärer
Nationalismus geschürt. Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit werden
politisch gefördert, um die inneren Interessengegensätze zu vertuschen.
Besonders schlimm war die Förderung von Haß gegen Fremde bei den frühen
Nationalisten in Deutschland, so z.B. bei Ernst Moritz Arndt:
"Ich will denn Haß, festen und bleibenden Haß der Teutschen
gegen die Welschen und gegen ihr Wesen, weil mir die jämmerliche Äfferei
und Zwitterei mißfällt, wodurch unsere Herrlichkeit entartet und verstümpert
und unsere Macht und Ehre den Fremden als Raub hingeworfen ward; ich denn Haß,
brennenden und blutigen Haß, weil die Fremden laut ausrufen, sei seien unsere
Sieger und Herren von Rechts wegen,, und weil wir das nicht leiden dürfen...
Ich will den Haß gegen die Franzosen, nicht bloß für diesen Krieg,
ich will ihn für lange Zeit, ich will ihn für immer. Dann werden Teutschlands
Grenzen auch ohne künstliche Wehren sicher sein, denn das Volk wird immer einen
Vereinigungspunkt haben, sobald die unruhigen und räuberischen Nachbarn darüber
laufen wollen. Dieser Haß glühe als die Religion des teutschen Volkes,
als ein heiliger Wahn in allen Herzen und erhalte uns immer unserer Treue, Redlichkeit
und Tapferkeit..."(Über Volkshaß und über den Gebrauch einer
fremden Sprache 1813)
So macht man eine Nation. 1871 war es dann soweit, die deutsche Nation wurde mit
Blut und Eisen von oben oktroyiert. Ergänzt wurde das dann durch die antisemitische
Hetze von Treitschke (Über die Judenfrage 1879) und durch den Hofprediger Adolf
Stöcker (Das Judentum im öffentlichen Leben ist eine Gefahr für das
Deutsche Reich Rede 3.2.1882) und später Rosenberg (Der Rassengedanke im Nationalsozialismus
1922), wo die Deutsche als Bluts- und Schicksalgenossen konstruiert werden. Diese
Auffrischung durch Nationalismus bedarf die Nation gerade da, wo die Heterogenität
besonders ausgeprägt ist und wo die Nation sich nicht territorial definiert
oder wo es darum geht Eroberungen zu machen, dann kann sich auch der konstitutionelle
Nationalismus in den völkischen, rassistischen übergehen. So bei Paul
de Saint-Victor (Der Heilige Haß der Franzosen 1871), der sich gegen die Pariser
Commune wandte, sie hätte den Haß auf Preußen geschwächt:
"Die Kommune ist gestürzt, die Anarchie vergeht, Frankreich
wird wiedergeboren. Wenn wir jedoch wollen, daß es von neuen zu seiner ganzen
Größe gelangt, dann müssen wir schnell diesen unmittelbaren, lebendigen,
wirklichen Haß in unsere Seele zurückkehren lassen."(Barbaren und
Banditen)
Je nach Sprachgebrauch wird auch in ruhigen Zeiten von Patriotismus gesprochen und
in aggressiven von Nationalismus. Das ist nur eine Frage der Terminologie. Furcht
und Bange muß einem werden, wenn nationale Erweckungsbewegungen entstehen,
dann kann man das Blut in Strömen fließen sehen. Dabei hat es stets mit
Definitionen wie der Kulturnation begonnen, aber gerade hier zeigt sich, daß
Nation ohne Feindbestimmung nie auskommt.
Und da wären wir wieder bei der Bestimmung des Eigenen und Fremden. Die Nation
ist ein Fetischbegriff. Ein Relationsbegriff wird zum Substanzbegriff umgelogen.
Beim Individuum gilt, desto stabiler und integerer es ist, desto aufgeschlossener
ist es Fremden gegenüber. Ein Individuum ist umso stärker, je mehr es
ihm gelingt sich zum Fremden in Beziehung zu setzen. Eine zerrüttete Person
kann kaum Fremdes ertragen. Alles Unbekannte muß es auf ein Bekanntes reduzieren.
Es handelt sich um einen zweifachen Mord:
"Es ist ein zweifacher Mord, den der Rassist verübt. In einer
erste Attacke macht er aus dem Fremden - der allein durch sein Anderssein und Andersbleiben,
durch seine Existenz, die Chance untergräbt, endgültig die "Wahrheit
des Menschen" zu finden und insofern die Subjektivität des Rassisten bedroht-,
einen Feind, seinen biologischen Feind. Der erste Mord des Rassisten besteht darin,
die Bedrohung, die er spürt, umzubenennen.
Doch was hat er davon? Er ersetzt eine Todesgefahr durch eine andere - meint er,
sich dadurch zu retten? In der Tat ist die Schaffung eines Todfeindes für ihn
die Rettung aus der Gefahr, denn ein Todfeind ist (rassistisch gesehen in jeder
Hinsicht besser zu gebrauchen als ein "Todfremder".
Paradoxerweise macht der Rassist den Anderen zunächst sich selbst gleich. Das
heißt nicht, daß er ihn anerkennt oder sich mit ihm verbunden fühlt,
sondern daß er ihn zu seinem eigenen Schatten, zu seiner eigenen Kehrseite
modelliert.
Den idealen Feind hat sich der Rassist geschaffen, wenn er aus einem, der anders
ist als er, jemanden gemacht hat, der nicht so wie er ist. Der Unterschied
ist gewaltig, denn während der Andere das Ende des alles beherrschen wollenden
"Subjekts Rassist" ist oder es ihm zumindest ankündigt, hat der biologische
Feind, dieser "Nicht-so- wie Mensch" zwei besonders wichtige Funktionen
für den Rassisten: Erstens kann man ihn erkennen und zweitens kann man sich
in ihm erkennen.
Der biologische Feind ist erkennbar, denn alle seine unheimlichen und dennoch menschlichen
Kennzeichen haben sich im Blick des Rassisten verwandelt in und reduziert auf eine
pathologische Abart dessen, was diesem als bekannt und normal gilt.
Hat der Andere einen anderen Körper und mit ihm vielleicht eine völlig
andere Art zu leben? Der Rassist weiß, was dieser andere Körper bedeuten
muß, damit mit ihm nicht in verständnisloses und angstvolles Chaos stürzt:
dieser andere Körper und mit ihm das Individuum, das der Rassist in ihm im
wahrsten Sinne des Wortes "verkörpert" sieht, ist behindert und krank.
Ist der Andere homosexuell? Das kann für den Rassisten nur heißen: "reproduktionsuntauglich",
ein Hemmnis bei der "Weiterentwicklung des Lebens".
Kommt der Andere aus einem fernen Land, spricht und verhält er sich anders,
hat er eine andere Religion und Erfahrungen gemacht, die der Rassist sich niemals
wird vollständig aneignen können? Flugs macht der Rassist aus diesem einen
"Artfremden", der in ein geschlossenes biologisches System eingedrungen
ist, Krankheitskeime eingeschleppt hat und die geregelte Reproduktion aufs Spiel
setzt.
Der Rassist weiß, wo es langgeht mit diesem Anderen, er hat ihn durchschaut
und seine Wahrheit gefunden: Nichts weiter als sein pathologisches Ich meint er,
in ihm entdeckt zu entdecken. (...)
Und so wird der Rassist, weil er einen Feind hat, sich selbst zum Freund. Anderes
ausgedrückt: indem sich der Rassist einen "ungleichen Gleichen" schafft,
ist es für ihn möglich geworden, sich mit sich selbst vollständig
im Gleichgewicht zu fühlen.
Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan: Er hat sich erkennen lassen und dem Rassisten
Selbsterkenntnis verschafft, die Wahrheit ist enthüllt, vielmehr der Rassist
hat sie enthüllt.
Und nun kann der Mohr gehen. Der Rassist tötet ihn ein zweites Mal - nun "wirklich".
Verblutend, verbrennend, verrauchend nützt er dem Rassisten noch ein letzes
Mal, denn sein Tod bedeutet die Vollendung der rassistischen Wahrheit."(Angelika
Magiros, Faucaults Beitrag zur Rassismustheorie, S.62f)
Die Fremden, Ausländern, Homosexuellen, Andersgläubige werden also einmal
ermordet, indem sie als solche gar nicht vorkommen, sondern nur als Schatten des
Rassisten, des Fremdenhassers. Er braucht dieses Gegenbild, um sich zu erkennen.
Aber er erkennt sich dabei nicht wirklich, weil er nicht von sich selber wirklich
loskommt, sich von sich nicht distanziert. Er bleibt sich in Wahrheit fremd. Und
daß der Fremde seinem Bild, das er sich von ihm macht, nicht gehorcht, das
bedeutet ein neue Drohung. Der Fremde muß also, weil er anders ist als das
Bild, das der Rassist sich von ihm macht, fort. Er muß ihn vernichten, um
nicht sein Selbstbildnis zu zerstören, seine eigenes Selbstbewußtsein
als Schatten. Damit zerstört er allerdings auch sein Selbstbewußtsein,
wie es sich nach 1945 auch zeigte. Das sog. Wirtschaftswunder wurde zum neuen Identifikationsobjekt.
Mit der Wirtschaftskrise 1975 und dem Debakel der Wiedervereinigung verschwindet
diese Identifikation. Das heillos zerrütte Ich des Rassisten sucht sich wieder
seinen Schatten und das Spiel geht von vorn los.
Da die Ausländer sich nicht so anschicken so zu sein, wie der Ausländerfeind
ihn sich ausmalt, muß er vernichtet werden. Aber nach Auschwitz ist das nicht
so einfach möglich offensiv rassistisch zu argumentieren. Das Ganze ist diskreditiert.
Daß er nicht offensiv alles Fremde sich zum Feind erklären kann, zerrüttet
das Selbstbewußtsein des Rassisten. Er empfindet jeder Erinnerung an Auschwitz
als "Auschwitzkeule". Sie erinnert ihn ja auch an die eigene Selbstzerstörung,
die er betreibt. Rasse, Nation, Volk ist nur zu haben in Bezug auf ein Fremdes,
das in seiner Beschaffenheit zurechtgemodelt wird, als pathologische Projektion.
Aber gerade, weil das Identitätsstiftende Schein ist, raubt sich der Nationalist,
der Rassist, der Fremdenfeind sich ein angemessenes Selbstbewußtsein. Es ist
ersetzt durch ein narzißtischen Größenwahn, das alles wirklich
Fremde, so wie es ist als Bedrohung, als Kränkung ansieht. Weder gibt es den
"potenten Neger", noch das ausschweifende Leben der Homosexuellen, das
der Schwulenfeind gern hätte, der gelebte Islam macht keine Anstalten, so zu
sein, wie der Ausländerfeind ihn sich vorstellt. Er ist also in ständiger
Angst vor dem "Nichtidentischen"(Adorno), er muß alles Unbekannte
in das Bekannte verwandelt, in sein eigenes Spiegelbild, allerdings das eines Zerrspiegels,
wo er besonders groß erscheint. Daß Ausländer, Menschen anderen
Glaubens, Menschen die lieber gleichgeschlechtlich lieben, oder auch Frauen selbstständig
sind, eigenwillig, sich dem Schattenbild entziehen, macht den Rassisten, Sexisten,
Schwulenfeind zum Schatten seines Schattens. Kurz er hat (nur) einen Schatten.
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt