Plädoyer für einen gesellschaftlich verantwortlichen Umgang mit Minderheiten

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Mitteleuropa ist schon immer ein im weitesten Sinn multikulturelles und - unabhängig davon - regional aufgefächertes und seit langem eher förderales Gefüge. (Anm 61: "Dies ist die wohl entscheidenste Voraussetzung für die gesamte Argumentation. Wenn dies gilt - und das bestätigen zumindestens neuerdings verschiedenste kultursoziologische Untersuchungen, beispielsweise im Blick auf die Lage von Jugendlichen ... -, dann steckt die Problematik nicht in einer möglichen Multikulturalität der Gesellschaft, sondern in der _Verdrängung_ dieser Multikulturalität, weil Multikulturalität die Grundlage der Moderne bildet und weil dann deren völkisch-nationale Verdrängung due uns heute geläufigen Probleme hervorruft...) Dies hat die vorliegende Analyse erneut bestätigt. Und doch scheint es erforderlich zu sein, diese wohl plausible und zumindest tendenziell akzeptierte Erkenntnis erneut zu unterstreichen. Sie wird nämlich immer wieder gerade dort ignoriert und verleugnet, wo sie von besonders zentraler Bedeutung ist, nämlich im Umfeld der "Ausländerpolitik" - angefangen bei der Ausländerforschung und aufgehört bei den vielfältigen alltäglich wie pointiert politischen Äußerungen zum "Ausländer". Dreierlei unterstützt das:
a) Gesellschaftsgeschichtlich bleibt festzuhalten: Vieles spricht dafür, daß das, was die fortgeschrittenen Industrieländer heute ausmacht, nicht trotz der multikulturellen und vielstaatlichen Konstellation Mitteleuropas, sondern gerade dank dieser Situation entstanden ist. Und immer dann und immer dort, wenn und wo man begonnen hat, diese Vielfalt zu ignorieren, zu leugnen, ja zu bekämpfen, sind die Probleme entstanden, Probleme, mit denen wir teilweise noch heute zu tun haben. Am Anfang des Unheils steht stets die Beschwörung einer nationalen Homogenität; dann folgt in der Regel die Formulierung einer nationalen Identität, die alsbald mit völkischen Traditionen gemischt wird, bis diese schließlich die Oberhand gewinnen.
b) Man kann es analog gesellschaftstheoretisch formulieren: Es wird zunehmend deutlich, daß für fortgeschrittene Industriegesellschaften ethnische Spezifika wie überhaupt alle persönlichen Einstellungen usw. in einer besonderen Weise belanglos werden - im Prinzip jedenfalls - systemisch wie sozial längst "ohne Ansehen der Person" integriert. Insofern können auch mögliche Minderheiten weniger denn je zu einem Problem werden. Gleichzeitig sind sie aber für den politischen Diskurs von zunehmender Bedeutung. Kulturelle Vielfalt, Kreativität, als eine multikulturelle Ausrichtung, wird mehr und mehr erforderlich, um im politischen Diskurs überhaupt noch die gebotenen Antworten finden zu können. Persönliche Einstellungen, Meinungen und Wertetraditionen, religiöse Aussagen usw. sind Grundlage des politischen Diskurses, Basis für die Formulierung von Argumenten und Voraussetzung für eine erfolgreiche Suche nach dem besseren Argument.
c) Vielfalt ist also nicht nur historisch gewachsen, sondern auch angesichts der augenblicklichen gesellschaftlichen Entwicklung dringend geboten. Gleichzeitig bildet sie eine entscheidende Voraussetzung für die Realisierung dessen, was aus menschenrechtlichen Überlegungen heraus zur Verwirklichung des einzelnen Gesellschaftsmitgliedes geboten ist. Sie garantiert den notwendigen Freiheitsspielraum für die Teilnahme an der Gesellschaft und die Souveränität über die Gesellschaft...In diesem Sinn wird eine "multiple reality", wird auch eine multikulturelle Gesellschaft mehr und mehr zur Existenzvorausetzung....
In der Tat, was eine gesellschaftlich verantwortliche Position impliziert, ist zumindest prinzipiell eine keineswegs neue Erkenntnis. Und selbst die Deutung einzelner Aspekte dürfte weitgehend common sense innerhalb der Sozialwissenschaften entsprechen und auch darüber hinaus Zustimmung finden. Sie korrespondiert sicherlich mit dem, was jeder aus einer Position gesellschaftlicher Verantowrtung heraus geltend machen kann. Freilich - die allgemeine Zustimmung gilt nur auf abstrakter Ebene. Und sie gilt, soweit sie praktisch eher folgenlos bleibt. Oder umgekehrt formuliert, je relevanter und damit möglicherweise konsequenzenreicher diese Position im alltäglichen Umgang mit Minderheiten wird, umso weniger scheint sie realisiert zu werden. Dies ist zumindest in der Tendenz unschwer zu belegen. Je näher man nämlich der "Ausländerpädagogik" und der politischen, kulturellen und sozialen "Ausländerpraxis" kommt, umso partikularer und problematischer wird die Position. Das weist auf ein Problem hin, das hier mit diskutiert werden muß, nämlich die Frage nach der Motivation, die dem Umgang mit Minderheiten jeweils zugrundeliegt.
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a) Die Forderung, mir Minderheiten verantwortlich umzugehen, basiert auf einer mehr oder weniger eindeutigen Motivation. Es geht letztlich nicht um eine moralische oder sonstwie altruistische Angelegenheit, sondern um eine Position, die von eigenen Selbstverständnis, sich als Mitglied einer republikanischen Tradition verpflichteten Gesellschaft zu betrachten, motiviert wird - mit Elwert könnte man vermuten: "aus dem wechselseitigem Respekt der Menschen füreinander" angestoßen wird. Jedenfalls, nicht Mitleid oder Helfermentalität sind gefragt, sondern bloß die Bereitschaft, sich von einer universalistisch verallgemeinerten eigenen gesellschaftlichen Existenz motivieren zu lassen. Grade angesichts der hier vorliegenden Thematik muß vor der Mitleidsperspektive oder der Helfermentalität gewarnt werden. Ein Helfer braucht Hilfebedürftige, braucht Klienten und stellt damit a priori ein spezifisches Gefälle her, das sich in ein-wegiger Interaktion, in der Erwartung von Dankbarkeit wie Dienstbarkeit oder Gehorsamsbereitschaft materialisiert. Das hier relevante soziale Feld ist voll von Klientelisierung. Aus der Perspektive einer bewußt ins allgemeine gehobenen Wahrnehmung der eigenen gesellschaftlichen Existenz diskreditiert die Diskriminierung von ganzen Bevölkerungsgruppen auch den alteingesessenen Bürger in seinem Status der "civil society".
b) Damit wird indirekt schon die andere Position angesprochen. Positionen, die Minderheiten im Sinne defizitärer Entitäten beschreiben, sie von dort aus diskriminieren usw., sind von einer anderen Motivation bestimmt. Diese Motivation ist dem restaurativen Strom überhaupt eigen und kommt in dem Projekt einer Nutznießersolidargemeinschaft nur in spezifischer Weise und im Blick auf Minderheiten ganz besonders zum Zuge. In jedem Fall kommt zunächst einmal eine bestimmte Tendenz zur Geltung. Es ist eine Tendenz, die sich darin ausdrückt, daß in dem Prozeß der Ausbreitung und inneren Ausdifferenzierung fortgeschrittener Industriegesellschaften spezifische Zonen und Grenzen auftreten. Und diese Zonen und Grenzen sind kein Produkt des Zufalls, sondern besitzen eine klar erkennbare Aufgabe. Sie dienen dazu, die sozialintegrative Gewalt der Solidarität einzuschränken und für die Hauptnutznießer zu reservieren, die Chance der Hauptnutznießer der gegenwärtigen Modernisierung zu verbessern. Die Motivation könnte man kennzeichnen:
Die Gesellschaft soll über die Einrichtung von Zonen und Grenzen in Übereinstimmung mit einer vorteilhaften Verteilung von Wissen, Geld und Beziehungen gebracht werden, um auf diese Weise eine strukturelle Härtung von Chancen zu erreichen. Das ist wohl der Kern der Sache.
Dies ist jedoch nicht nur irgendeine Motivation, sondern eine folgenreiche Einstellung. Sie erzeugt nicht nur einen problematischen Umgang mit den Minderheiten, sondern evoziert auf der dann "anderen" Seite eine komplementäre Einstellung. Sie spiegelt sich zunehmend "negativ reziprok" in den Abstrengungen der kleinen ethnischen Unternehmer wieder, wenn jene gegen Entzug von ökonomischen und kulturellem sowie sozialem "Kapital" ihre autonome Existenz setzen. So evoziert Diskriminierung nicht nur eine Absonderung, sondern auch eine Ghettobildung, die dann schließlich in ihrer "Contraidentität" genau die Motive hervorbringt, die auf der "Gegenseite" gelten: kontrafaktische Integration.
Die oben beschriebene strukturelle Ethnisierung ethnischer Minderheiten ist nichts als die Kehrseite des Wunsches nach einer strukturellen Härtung der Chancen, eine Nutznießersolidargemeinschaft zu etablieren und für sich zu reservieren Die Ethnisierung von Minderheiten und die Errichtung von Nutznießersolidargemeinschaften vollziehen sich parallel, wobei die Akkumulation der Macht auf seiten Nutznießersolidargemeinschaft im Verlauf der Entmachtung des Bevölkerungsrestes durch den Erfolg dieser Maßnahmen auch noch ihre Bestätigung findet.
(3) Es bleibt die Frage, wie dieser partikularistischen Motivation eine ausreichend breite Geltung verschafft wird und welche Gegenkräfte dabei auftreten. Wie wird dieser Härtungsprozeß durchgesetzt? Am Anfang steht ein doppelter Definitionsdiskurs. Der eine Teil des Diskurses besteht darin, die Situation der Minderheiten zu problematisieren und die Probleme auf seiten der Minderheiten zu lokalisieren. Der andere Teil des Diskurses besteht darin, die Interessen derer, die die Verfügungsmacht beanspruchen, in die Form sozialer Wir-Gruppen-Prozesse zu gießen und auf diese Weise zu fixieren. Dabei tritt an die Stelle eines politischen Diskurses und damit des besseren Argumentes eine populistisch gestaltete Öffentlichkeit mit imaginären ethnologischen Feststellungen und Behauptungen, tritt an die Stelle des Arguments die Beschwörung. Kulturdifferenzen werden hervorgeholt, beschworen, für konstitutiv erklärt und zum Kontrapart der Modernisierung stilisiert. Am Ende eines solchen Verfahrens bleibt der Minderheit zunächst nur:
- die Möglichkeit eines Moratoriums in der Form des Ausharrens in der Segration und der Errichtung von Ghettos.

Und das bedeutet langfristig:
- im besten Fall die Chance zur Integration in der Form des Erwerbs der Staatsangehörigkeit und der soziokulturellen Assimilation an den behaupteten Durchschnittsbürger,
- im schlimmsten Fall die Vertreibung ("Remigration") und unter Umständen sogar die Vernichtung, wenn dieser letzte Punkt heute vorerst auch nur in Witzen am Stammtisch oder "an der Ecke" erwogen wird, wo die alten "Judenwitze" in "Türkenwitze" modernisiert werden.

Welche der Möglichkeiten schließlich real werden, hängt ausschließlich vom politischen Kalkül der Nutznießergemeinschaft ab, von einer Kombination von "nationalen Interessen" und dem Stand der "Entsorgung der Vergangenheit". Welche der Möglichkeiten den Zuschlag erhält, hat also nichts mit grundsätzlichen Erwägungen, nichts mit einer letzten rationalen Entscheidung, sondern allenfalls mit einem oberflächlichen zweckrationalen Politikmanagement zu tun.
Der populistische Diskurs findet heute bereits täglich statt. Und seitdem die Republikaner zu einer politisch relevanten Größe avanciert sind, werden die Aussagen der neuen Restauration klarer und zugleich schärfer. Unter dem Druck der rechten Konkurrenz gewinnt die neue Restauration weiter an Konturen und damit an Publizität. Entsprechende Maßnahmen und Verlautbarungen häufen sich bei jedem sich bietenden Anlaß. Der populistische Diskurs zielt jedoch nicht nur darauf, ggf. selbst verantwortungslose Positionen durchzusetzen, sondern auch darauf, ausgewiesen gesellschaftlich verantwortliche Positionen zu desavouieren oder gar zu diskriminieren. Er unterstellt zum Beispiel einer anderen Ansicht blanken Eigennutz, führt sie auf eine sich bloß kaschierende, letztlich jedoch rein den eigenen Zwecken dienenden Kundgabe von Positionen zurück. Durch solche und andere Strategien schwindet in der Öffentlichkeit die Bereitschaft, ja schon die Wahrnehmungsfähigkeit für die Entwicklung und Durchsetzung gesellschaftlicher Verantwortung. An ihre Stelle tritt das bloße Kalkül der Macht, angesichts dessen eine neue Form der Verantwortung modisch wird: ein Begriff von Verantwortung, der zur Negation gesellschaftlicher Verantwortung gerät. So erklärt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU am 17.10.1989 zum Thema Ausländerwahlrecht:
"Die Kommunen sind als Spielwiese für unverantwortliche, parteitaktische Experimente mit der Demokratie (Gemein ist das Ausländerwahlrecht W.D.B.) gänzlich ungeeignet."

Der Begriff der Verantwortung, der hier gebraucht wird, ist bei Lichte betrachtet tatsächlich eine Negation dessen, was nach den vorliegenden Überlegungen mit gesellschaftlicher Verantwortung gemeint ist. Tatsächlich wäre es durchaus verantwortungsbewußt, wenn schon nicht auf gesamtpolitischer, so doch wenigstens auf kommunaler Ebene eine Gleichstellung Gleichstellung ethnischer Minderheiten anzustreben. In anderen Ländern wurde auf dieser Ebene mit der politischen Gleichstellung begonnen, um - insbesondere bei den Einheimischen - schrittweise ein entsprechendes Verständnis zu erreichen. Es handelt sich dabei jedoch nicht nur um einen unsachgemäßen Gebrauch eines Begriffs, sondern um gezielten Populismus, weil man bei dieser Argumentation im Grunde die Logik einer ausländerfeindlichen Position zur Basis macht und sie damit nicht nur bestätigt, sondern sogar stillschweigend an sie appelliert und sie somit fördert.
Die knappen Bemerkungen enthalten aber noch weitere verantwortungslose Implikationen. Gleichzeitig wird nämlich auch noch jegliches politisches Engagement für das Wahlrecht als bloß wahltaktisches Manöver bezeichnet. Diese Behauptung ist zunächst einmal sachlich falsch, insofern diejenigen, die für das Wahlrecht der Minderheiten eintreten, schon deshalb niemanden dazu nötigen könnten, für die Gleichstellung der Minderheiten einzutreten, weil sie bislang eine - wenn auch verantwortungsbewußte - Minderheit darstellen. Sie ist aber auch insofern falsch, als zwischen dem Engagement für das Wahlrecht und einer und einer entsprechenden Wählergunst seitens der Betroffenen durchaus keine Kausalität aufkommen muß, wofür die Partei der Grünen ein Beleg ist. Ihr wird nämlich das Eintreten für das Ausländerwahlrecht von den verschiedenen Minderheiten keineswegs honoriert, ein Phänomen, das entsprechende Untersuchungen z.B. in den Niederlanden bestätigen. Auch diese Bemerkung ist nichts als ein populistisches Argument, weil es auf die Logik des Schielens nach der Wählergunst abhebt, ein Standardvorwurf innerhalb der parteipolitischen Polemik.
Beide Argumente stellen eine Bündelung populistischer Argumente dar, die kontrafaktisch angelegt sind, gleichwohl aber ihre Wirkung angesichts der gegenwärtigen politischen Lage nicht verfehlen dürfe. Die Forderung nach einer Rücknahme der Diskriminierung von Minderheiten wird auf diese Weise in die Nähe des bloß partikularistischen Kalküls gerückt. Und was aus republikanischen Überlegungen heraus zu den fundamentalen Grundsätzen einer Demokratie gehört, wird hier auf das Niveau einer undemokratischen Position gehoben. Zusammen ist dies ein Beleg für die "rechtspopulistischen Potentiale"(Elfferding) innerhalb der Neuen Restauration. Denn nach republikanischer Tradition wäre es ja durchaus keine Spielerei, sondern ein Beispiel für die Volkssouveränität, wenn alle Gesellschaftsmitglieder an dem politischen Diskurs teilnehmen können. Politische Konzepte werden gewendet, bis sie das Gegenteil dessen aussagen, was sie historisch betrachte implizieren, weil nach republikanischen Verständnis die Basis der Demokratie weder Gott noch der König noch eine Nutznießersolidargemeinschaft ist, sondern eben die Bevölkerung selbst.
Um eine gesellschaftlich verantwortliche Position formulieren zu können, muß man bei der gesamten "Ausländerproblematik" ansetzen, sich von partiellen Motiven freimachen und berücksichtigen, daß es sich hier um Prozesse handelt, die nicht erst im Umfeld der Minderheitenproblematik entstanden sind, sondern ihren Ausgangspunkt bei den Inhabern des ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals haben. Diese beanspruchen mehr und mehr die Definitionsmacht. Sie sind daran interessiert, die Modernisierung voranzutreiben und eine entsprechende Nutznießersolidargemeinschaft zu installieren. Und dann kann man auch erkennen, daß die im Vollzug dieser Absicht entstehenden Resultate wie die Minderheiten in deine spezifische Dynamik gedrängt werden, die dann am Ende scheinbar bestätigt, was zunächst bloß postuliert wurde. Die Minderheiten, zur strukturellen Verfestigung genötigt, reagieren schließlich mit der Ausdifferenzierung ethnischer Ghettos. Sie wissen sich nur so zu wehren; sie können nur aus der ihnen vorgegebenen Logik heraus agieren. Insofern reagieren sie auf Übertragung mit Gegenübertragung. Und insofern kann man ganz zurecht von einer Modernisierungsfalle sprechen, einfach weil sie, wie oben gezeigt, ihrerseits eine motivationale Anpassung vornehmen und damit wohl auch blindlings auf Modernisierung zu setzen beginnen. Was auch immer die Minderheiten jetzt anstellen, sie geraten nur noch mehr in eine "existentielle Sackgasse".
(4) Es geht schließlich nicht nur um den Diskurs allgemein. Es geht auch um den wissenschaftlichen Diskurs, hier die bereits einleitend erwähnte Rolle der Sozialwissenschaften, denen gerade im vorliegenden Zusammenhang eine besondere Bedeutung zugewachsen zu sein scheint. Es gibt nur wenige gesellschaftliche Zonen, in denn die sozialwissenschaftliche Forschung eine derartige Relevanz gewonnen hat, hier insbesondre die sogenannte Ausländerpädagogik und alles, was damit verbunden ist. Sie hat in der Tat, wie das oben zuletzt betont wurde, ihre gesellschaftliche Definitionsmacht intensiv wahrnehmen können, leider jedoch zumeist in einer Weise, die der Anbahnung der neuen Restrauration hilfreich war. Natürlich kann man hier auf die Kräfte des "Marktes" verweisen. Der Einwand, daß die Sozialwissenschaften hier bloß bei der öffentlich-diskursiven Verwendung ihrer Ergebnisse in den Sog der "Eigendynamik von Argumentationsprozessen" geraten seien, wie sie Christoph Lau in einem vergleichbaren Zusammenhang erwähnt, ist jedoch beispielsweise bei den Untersuchungen von Anette Treibel kaum zu enthalten. Die mit dem Kulturdifferenz- oder Modernitätsdifferenz-Axiom arbeitenden Konzepte erzeugen bereits vom Argumentationskern her genau die Definitionen, die dann bloß noch dem entsprechen, was insbesondere vom Projekt der Nutznießersolidargemeinschaft her gefragt war. (...)
Wer sich mit der Multikulturalität als einer historisch eingespielten und im Grunde bewährten Position identifiziert, für den stellen sich eine Fülle von Anschlußfragen. Man wird überlegen müssen, was man gegen die wieder einmal strukturell verfestigte Indienstnahme von Minderheiten und gegen die wieder darin eingeschlossenen Machtansprüche setzen kann. Die Nützlichkeit von Minderheiten zu beschwören, ist da wohl der falsche Weg. Solange das nicht geklärt ist, bleiben eine Reorganisation der Multikulturalität und die Emanzipation der Minderheiten, wie das Philip Cohen mit Recht betont, Illusion. Das schließt natürlich kurzfristige Überlegungen, eher pädagogisch orientierte Anschlußfrage, wie sie Wolfgang Niecke vorträgt, nicht unbedingt aus: Wie könnte man "eine Majorität gemeinsam mit einer Minorität auf ein vernünftiges Zusammenleben in einer dauerhaft multikulturellen Gesellschaft" vorbereiten? Aber im Grunde geht es um etwas anderes, darum einen politischen Rückstand gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung im Sinn der Fortentwicklung von Demokratie zu beseitigen, - oder soziologisch formuliert - darum, die heute möglichen Formen systemischer wie sozialer Integration politisch zu bewältigen statt restaurativ zurückzuschieben.
aus: Wolf-Dietrich Bukow, Leben in der Multikulturellen Gesellschaft, S. 187ff

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Most recent revision: April 07, 1998

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