Die Morgenthau-Legende
Rezension:
Bernd Greiner, "Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Plans." Preis 48 DM.


Fünfzig Jahre nach der totalen militärischen Niederlage ist Deutschland heute die mit Abstand stärkste Macht in Europa, und deutsche Eliten fordern eine weltpolitische Führungsrolle für Deutschland. Exakt diese Entwicklung sah Präsident Roosevelts langjähriger Finanzminister, Henry Morgenthau jun., nicht nur voraus, sondern er wollte sie verhindern. Dieses Engagement machte ihn zum wohl meist verleumdeten Akteur der Zeitgeschichte vor allem in Deutschland.
Es war Goebbels, der am 4.Oktober 1944 reklamierte: "Haß und Rache von wahrlich alttestamentarischem Charakter sprechen aus diesen Plänen, die von dem amerikanischen Juden Morgenthau ausgeheckt wurden. Das industrialisierte Deutschland soll buchstäblich in einen riesigen Kartoffelacker verwandelt werden."
Deutsche Historiker, deutsche Politiker, deutsche Lehrer, deutsche Journalisten und deutsche Gewerkschaftsführer - sie alle variieren Goebbels Losung bis auf den heutigen Tag. Mal mit, mal ohne antisemitische Begleitmusik. Doch meistens mit. Was waren Morgenthaus wirkliche Absichten?
Das kann man nun in dem gründlich recherchierten und packend geschriebenen Buch des Historikers Bernd Greiner nachlesen. Nach einem heute geläufigen Begriff hatte Morgenthau nur ein Ziel: Die Nichtangriffsfähigkeit Deutschlands für alle Zeit sicherzustellen. Hierfür war nach seiner Überzeugung die Realisierung der vier großen "D" vonnöten: Die Demilitarisierung, Denazifizierung, Dekartellisierung und Demokratisierung Deutschlands. Das Programm sah die Stillegung und spätere Demontierung der weltweit größten Konzentration von Waffenfabriken - an Rhein und Ruhr - vor. Ferner sollten alle aktiven Nazis und ihre Schergen aus öffentlichen Ämtern entfernt, vom Rechts-, Erziehungs-, und Pressewesen sowie von Führungspositionen in der Wirtschaft ausgeschlossen werden. Sie sollten überdies vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgenommen werden. Diese Maßnahmen waren auch für die Offiziere aller Waffengattungen und für Großgrundbesitzer vorgesehen. Mitglieder der SS, Gestapo und ähnlicher Organisationen sollten für den Wiederaufbau der zerstörten Nachbarländer zwangsverpflichtet werden.
"Erzkriminelle", wie Hitler, Göring, Goebbels oder Himmler sollten, sobald zweifelsfrei identifiziert, standrechtlich erschossen werden. Am 15. September beriet sich Roosevelt mit Churchill im kanadischen Quebec und gab seine Zustimmung zum Programm Morgenthaus. Wir wissen, daß kaum ein Punkt des Planes erfüllt wurde - er wurde von Anfang an sabotiert. Besonders natürlich von der alten deutschen Machtelite - aber auch von ihren Verbündeten in den Vereinigten Staaten. Diese gab es schon immer und in großer Zahl. Sie waren auch im Regierungsapparat stark - auch während Roosevelts Präsidentschaft. Wie der Autor darlegt, waren die Verpflechtungen zwischen deutschen und amerikanischen Bank- und Industriemonopolen nach dem Ersten Weltkrieg massiv ausgeweitet worden. Das ermöglichte den Deutschen die Aushebelung der rüstungsfeindlichen Bestimmungen des Versailler Vertrages - bereits sie hatten die Nichtangriffsfähigkeit Deutschlands zum Ziel. Dank amerikanischer Kooperation kam jedoch alles anders. Nach Hitlers Machtergreifung wurde das wieder hochgerüstete Reich schnell auch zu einer Gefahr für die Vereinigten Staaten. Roosevelt hatte das früher als andere europäische Staatschefs erkannt. Aus diesem Grund wollte er die Rüstungsproduktion ankurbeln. Roosevelt wollte auch England verstärkt mit Waffen beliefern. Aber er machte eine niederschmetternde Erfahrung: Die U.S.-Rüstungsindustrie sah sich außerstande, die Regierungsaufträge auszuführen. Wie das? Es waren Kartellabkommen mit deutschen Firmen, die amerikanische Produzenten an der Ausweitung ihrer Fertigung hinderten. Seit den zwanziger Jahren hatten sich deutsche und amerikanische Trusts die Weltmärkte aufgeteilt. Erst durch juristische Interventionen seitens der US-Regierung konnten die geschilderten Hindernisse beseitigt werden.
Die Anti-Trust-Division des U.S.-Justizministeriums ermittelte gegen 180 in- und ausländische Unternehmen, wie der Autor berichtet:
"Von American Bosch über Dow Chemical bis hin zu General Electric und E.I. du Pont de Nemours & Co. reichte die Liste der prominenten Namen. 63 Betriebe hatten allein mit der I.G. Farben Verträge geschlossen, die nach amerikanischem Recht illegal waren..."
Parallel zu diesem Verfahren führte das Justizministerium Ermittlungen über das deutsche Wirtschaftssystem durch. Die 60 Ermittler der "Economic Warfare Section" legten 3600 Akten an. Die Ermittlungen ergaben, daß die deutschen Unternehmer einen Wirtschaftskrieg zugunsten der Nazis angezettelt hatten. Es war das genaue Wissen um all diese Zusammenhänge, die Morgenthau und sein Team harte Bedingungen ausarbeiten ließen. Er war als eigentliche Notbremse gegen die Wiederholung verhängnisvoller Fehler gedacht. Daß die vom Kriegministerium gesteuerte Politik zum Zerwürfnis mit dem Bündnispartner Sowjetunion und zu einem ruinösen Wettrüsten führen mußte - vor dieser Gefahr warnte Morgenthau eindringlich. Morgenthau war auch schon früh über die Verantwortlichen des Holocaust im Bilde; er wußte, daß der Massenmord das gemeinsame Werk von Nazipartei, Staat und deutscher Industrie war - und er wollte die Mörder nicht entkommen lassen. Doch Morgenthau hatten gegen die Front seiner einflußreichen Gegner beidseits des Atlantiks keine Chance. Greiners faktenreiche Arbeit belegt das eindrücklich: Nach Goebbels Startschuß wurde Morgenthau von einer unzimperlichen Koalition unter Dauerfeuer genommen. Diese Kampagne brachte auch Roosevelt in Bedrängnis, der sich 1944 zum vierten Mal zur Wahl stellte; er gab seine Position zu Morgenthaus Plan schrittweise preis und ließ seinen langjährigen politischen Weggefährten im Regen stehen. Die Kampagne gegen Morgenthau trug nicht nur von deutscher Seite offen judenfeindliche Züge. Nach Roosevelts Tod war Morgenthaus Verbleib im Amt vollends unmöglich geworden. Er erklärte am 5. Juli 1945 Präsident Truman gegenüber seinen Rücktritt. Greiner erläutert das große Ringen um die amerikanische Nachkriegspolitik außergewöhnlich faktenreich und spannend. Es ist eine bittere Lektüre über ein bitteres Kapitel sogenannter "Realpolitik"."
Rezension von Heinz Moll in: Aufbau 07.07.

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Most recent revision: April 07, 1998

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