In den Argumenten gegen rechts: "Zur begrifflichen
Differenzierung von völkischem und konstitutionellen Nationalismus"
war vom Volks- und Nationsbegriff bei Rousseau die Rede. Fetscher führt einige
neue Gesichtspunkte ein, die erklären, wie Rousseau zur Quelle für völkisches
Denken werden konnte, indem die historische Bedingtheit und die Relativierungen
übergangen wurden, z.B. bei C.Schmitt. Die Homogenitätsvorstellungen Rousseaus
galten für kleine überschaubare Organisationsformen, nicht für politische
Großformen, für die komplexen Gesellschaften, die zwangsläufig heterogen
sein müssen oder wie man heute sagte multikulturell.
VOLK UND GESELLSCHAFTSVERTRAG BEI JEAN-JAQUES ROUSSEAU
Von Iring Fetscher
Ingeborg Maus entwickelt in ihrem Artikel "'Volk' und 'Nation' im Denken der
Aufklärung" ("Blätter", 5/1994, S. 602 ff., d. Red.) eine
außerordentlich sympathische und freiheitliche Interpretation der Demokratieauffassung
von Jean-Jacques Rousseau. Sie verwirft zu Recht die nicht erst von Jean-Franois
Lyotard, sondern schon von Talmon vorgenommene Kritik an Rousseau und Kant, die
"postmodern" die "republikanische Identitätsbildung" als
freiheitsfeindlich verurteilen. Im Interesse ihrer Interpretation sieht sie aber
von mehr als einem zentralen Gesichtspunkt der Rousseauschen Gesellschaftstheorie
ab, um sie für die von ihr propagierte offene Konzeption der Volkssouveränität
vereinnahmen zu können. Auf diese Weise muß sie notwendigerweise auch
die Jakobinerherrschaft mit ihrer Tugendiktatur als akzidentell verharmlosen, um
allein den progressiven Text der Verfassung von 1793 für rousseauistisch zu
deklarieren.
Das zentrale Mißverständnis, dem Rousseaus Contrat Social nicht nur bei
Frau Maus unterliegt, besteht in der Annahme, es handele sich hier um eine Konstruktion,
die für jede Konstituierung einer demokratischen Nation verwendbar sein soll.
Im Contrat Social selbst hat aber Rousseau ausdrücklich wiederholt, daß
eine republikanische Konstitution nur unter bestimmten historischen Bedingungen
möglich ist, die z.B. für das zeitgenössische Frankreich ebensowenig
wie für England noch vorhanden seien. "Nicht jedes Volk ist in der Lage,
die einzig legitime Staatsform der Republik zu empfangen." (Vgl. Contrat Social,
III, 3-8) Sie kann nur dort eingeführt werden, wo zwar schon das Bedürfnis
nach einem festen politischen Zusammenschluß vorhanden ist, aber die "Einfachheit
der Natur" noch nicht völlig verloren wurde. Rousseau nimmt - entsprechend
den Beobachtungen seiner zeitgenössischen Umwelt - an, daß die sozialökonomische
Entwicklung zu immer größerer Differenzierung und vor allem zur Akkumulation
von Reichtum auf der einen Seite und von Armut auf der anderen führt. Damit
geht - so meine These - notwendig der Verfall der "einfachen Sitten" einher,
dann ist aber eine Bildung des gesetzgebenden Gemeinwillens nicht mehr möglich.
In seinem berühmten Brief an Mirabeau vom 26. Juli 1767 drückt er seine
ganze Verzweiflung darüber aus, daß für solche Völker keine
Rettung gibt: Wenn es nicht mehr möglich ist, eine Ordnung zu stiften, die
das Gesetz über die Menschen stellt, dann "sollte man meiner Ansicht nach
zum anderen Extrem übergehen und den Menschen einmal so hoch wie nur möglich
über das Gesetz stellen, folglich den willkürlichen Despotismus... errichten".
Aber Rousseau erklärt, daß er diese Alternative so schrecklich findet,
daß er sich weigert, sie weiter auszumalen. Einen "despotisme legal"
allerdings, wie ihn die Physiokraten propagierten, lehnt er als in sich widersprüchlich
ab (1). Soziale Voraussetzung für die Konstituierung
einer Republik ist für Rousseau eine weitgehende (wenn auch nicht völlige)
soziale Gleichheit. "Niemand soll soviel besitzen, um einen anderen kaufen
zu können, niemand sowenig, um sich an einen anderen verkaufen zu müssen."
Mit der dynamischen Entwicklung der zeitgenössischen Marktwirtschaft, vor allem
mit dem internationalen Handel, wird aber diese relative Homogenität einer
bäuerlichen, handwerklichen und Kleinhändlergesellschaft zerstört.
Korsika, auf das auch Frau Maus verweist, ist nicht nur der Sonderfall einer Republik,
die sogar eine "demokratische Regierung" haben kann, sondern diese Insel
wird schon im Contrat Social erwähnt als "ein Land in Europa, das zur
Gesetzgebung fähig ist". "Die Tapferkeit und die Beharrlichkeit,
mit der dieses mutige Volk seine Freiheit wiederzuerlangen und zu verteidigen wußte,
verdienten wohl, daß ein weiser Mann es lehre, sie zu bewahren." (II,
10) Dieser weise Mann, das wußte Rousseau damals schon, würde er selbst
sein. An dieser Stelle heißt es aber nicht "ein Land", das eine
demokratische Regierungsform erhalten kann, sondern allgemein ein Land, das
"zur Gesetzgebung fähig ist".
Das andere Volk, dem Rousseau politisch Ratschläge gab (abgesehen von seiner
Intervention in den Genfer Verfassungsstreit), war das polnische. Das Wahlkönigreich
Polen, die Adelsrepublik Polen unterschied sich vor allem durch seine eigentümlichen
Sitten und Gebräuche von den benachbarten Staaten. Die sozialen Unterschiede
selbst innerhalb des zahlreichen Adels waren jedoch ein schwerer Mangel. Rousseau
schlägt denn auch vor, vorsichtig diesen Mangel durch die Herausstellung von
Ehren für verdiente Staatsmänner und durch die Übernahme der Erziehung
von Kindern des armen Adels durch wohlhabende Großgrundbesitzer schrittweise
zu beheben. Darüber hinaus denkt er an eine allmähliche Erhebung von Bürgern
und Bauern in den Adelsstand.
Interessanter für das Verständnis der Rousseauschen Auffassung von Politik
ist aber, was er als "Sofortmaßnahme" den Adligen der Konföderation
von Bar, die ihn um Rat gebeten hatten, empfiehlt. Einleitend nennt er drei vorbildliche
Gesetzgeber: Moses, Lykurg und Numa. Moses wird dafür gelobt, daß er,
"um zu verhindern, daß sein Volk sich mit fremden Völkern vermenge,
ihm Sitten und Gebräuche gab, die mit denen der anderen Nationen nicht vereinbar
waren; er stattete es mit einer Vielzahl von besonderen Riten und Zeremonien aus,
legte ihm tausend Zwänge auf, um es unablässig in Atem zu halten und es
auf immer fremd unter allen anderen Menschen zu machen. Alle Bande der Brüderschaft,
welche er unter den Gliedern seines Gemeinwesens flocht, waren ebenso viele Schranken,
welche diese Glieder von ihren Nachbarn trennten." (2) Nur auf diese Weise sei es Moses gelungen, das jüdische Volk
zu erhalten, selbst nachdem es in alle Welt zerstreut worden war. Lykurg zeigte
dem Spartaner "ohne Unterlaß das Vaterland in... seinen Festen... adelte
es durch fortgesetzten Zwang... und erzeugte damit jene glühende Liebe zum
Vaterland, die stets die stärkste oder vielmehr die einzige Leidenschaft der
Spartaner war... (3) Numa vereinigte die Römer
vor allem durch religiöse, "scheinbar abergläubische Riten".
Ähnlich hätten es auch alle anderen "alten Gesetzgeber" gemacht.
Sie erhöhten "Stolz und Selbstachtung" der Bürger, indem "sie
ihnen die Geschichte, die Schicksalsschläge, die Tugenden, die Siege
der Vorfahren ins Gedächtnis riefen und (so) ihre Herzen gewannen, sie
zu lebhaftem Nacheifern entflammten und sie auf das stärkste an das Vaterland
fesselten, mit dem sie zu beschäftigen man nicht aufhörte" (4).
An diesen klassischen Vorbildern orientiert, entwickelt Rousseau seine Vorschläge
für Polen. Die Republik, das Vaterland, soll "im Herzen der Polen"
fest verankert werden. Hierzu sei es notwendig, die existierenden alten Sitten und
Gebräuche, die Nationaltracht usw. aufrechtzuerhalten. Die Polen sollen in
erster Linie Polen bleiben und nicht wie die meisten übrigen Europäer
ihre nationale kulturelle Identität verlieren. "Es gibt (nämlich)
heutzutage, was immer man auch sagen mag, keine Franzosen, keine Deutschen, keine
Spanier, selbst keine Engländer mehr, es gibt nur noch Europäer. Alle
haben den gleichen Geschmack, die gleichen Leidenschaften, die gleichen Sitten,
weil keiner eine nationale Gestalt durch eine besondere Einrichtung erhalten
hat. Unter den gleichen Umständen werden sie alle das gleiche tun: Ein jeder
wird sich uneigennützig nennen und ein Spitzbube sein; ein jeder wird vom öffentlichen
Wohle sprechen und nur an sich selbst denken... Ihr Ehrgeiz zielt nur auf Luxus,
ihre einzige Leidenschaft gilt nur dem Gold..." (5) Um diese Entwicklung in Polen zu verhindern, sollen öffentliche
Kampfspiele stattfinden, Feste und patriotische Feiern, an denen vor allem die Jugend
teilzunehmen hat. Rousseau führt diese volkspädagogischen Vorschläge
bis ins Detail aus. Die Jugend ist ausschließlich im Geist der polnischen
Nation und ihrer Geschichte zu erziehen. "Mit 20 Jahren soll ein Pole nicht
ein anderer Mensch sein, er soll ein Pole sein. Ich will, daß er mit 10 Jahren
alle Erzeugnisse seines Vaterlands kenne, mit 12 Jahren alle Provinzen, alle Wege,
alle Städte, daß er mit 15 Jahren dessen ganze Geschichte, mit 16 alle
Gesetze auswendig wisse, daß es in ganz Polen keine Großtat, keinen
erlauchten Mann gegeben hätte, der nicht sein Gedächtnis wie sein Herz
erfülle..." (6)
Soviel nur, um verständlich zu machen, daß es Rousseaus Politik nicht
gerecht wird, wenn man seine Auffassung vom Gesellschaftsvertrag und von der Volkssouveränität
für "abstrakt" und ohne konkrete, historische, soziale und kulturelle
Bedingungen für realisierbar hält. Rousseaus Republik war an eine möglichst
homogene oder wenigstens durch intensive patriotische Erziehung "homogenisierte"
Gesellschaft gebunden, die darüber hinaus so weit begrenzt sein sollte, daß
"direkte Gesetzgebung" nur durch das Volk möglich wird. Da natürlich
Polen hierfür viel zu groß war, schlägt Rousseau die Aufgliederung
des Staates in 36 föderierte kleine Republiken vor.
Nur wenn man diese - von der geschichtsphilosophischen Verfallstheorie Rousseaus
geprägte - Auffassung von der tugendhaften oder wenigstens patriotischen sozialen
Basis der Republik im Auge behält, wird auch verständlich, warum die Übertragung
der Rousseauschen Konzeption durch Saint-Just und Robespierre auf Frankreich zu
verhängnisvollen Formen der gewaltsamen Herstellung von egalitärer Tugend
führen konnte. Der Versuch, in einer eben erst zur frühkapitalistischen
Marktwirtschaft aufbrechenden Gesellschaft eine "Tugendrepublik" zu errichten,
mußte am Widerstand der vitalen Dynamik dieser Gesellschaft zerbrechen. Eine
den weit komplexeren Bedingungen der zeitgenössischen Gesellschaften heute
entsprechende Demokratietheorie kann an einer kritischen Auseinandersetzung mit
den tragischen Irrtümern der "Rousseauschüler" Robespiere und
Saint-Just kaum vorbeigehen. Rousseau war - als er seine republikanische Verfassungskonzeption
in bezug auf Frankreich für ungeeignet hielt - weit realistischer als die "praktischen"
Politiker, die sich später auf ihn beriefen und ihn - höchst selektiv
für ihre Zwecke - "benutzten".
1) Vgl. hierzu auch Iring Fetscher, Rousseaus
politische Philosophie, Neuwied 2 1968, S. 85 f.
2) Jean-Jaques Rousseau, Sozialphilosophische
und Politische Schriften, München 1981, S. 568 f.
3)Ebd., S. 569.
4)4) Ebd., S. 570.
5) Ebd., S. 572.
6) Ebd., S. 578 f.
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Most recent revision: April 07, 1998
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