Detlev Claussen

Vom Judenhass zum Antisemitismus


Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert noch möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist. Walter Benjamin *Geschichtsphilosophische Thesen (1940)
Die Barbarei existiert inmitten der Zivilisation. Auschwitz markiert den äußersten Punkt in der Kette des Barbarischen, das aber nicht mit den Konzentrationslagern verschwunden ist. Es lebt fort in der psychischen Verfassung der Menschen ebenso wie in den gesellschaftlichen Bedingungen, die kaltes Massentöten von Millionen friedlicher unbewaffneter Menschen ermöglichten. Psychische Bedingungen der Individuen und gesellschaftliche Bedingungen ergänzen einander; aber es hängt von den gesellschaftlichen Bedingungen ab, daß die Menschen vom Antisemitismus nicht loskommen und ihn affektiv besetzen. An dem nach Auschwitz fortlebenden Antisemitismus läßt sich die fortwirkende Barbarei erkennen, an der Aufklärung ihre Grenzen erfährt.(1)
Aufkläerung versprach einst, im 18. Jahrhundert, die Menschen aus ihren Grenzen herauszuführen, ihnen eine kosmopolitische Welt zu eröffnen. Judenhass galt damals als der Inbegriff finsteren Mittelalters, das man überwunden glaubte. Aufklärung koppelte sich an den Fortschrittsbegriff, und das europäische neunzehnte Jahrhundert wird geprägt durch die Vorstellung vom Verschwinden des Überholten. Aber der Judenhass verschwindet nicht im 19. Jahrhundert, er transformiert sich zum modernen Antisemitismus. Inhaltsleerer Fortschrittsglaube muß dazu herhalten, die Gegenwart des Antisemitismus aus dem Bewußtsein der Menschen fernzuhalten. Alltagsvorstellung vom Leben und wissenschaftliche Praxis decken sich in der falschen Überzeugung: Antisemitismus hat es gegeben, aber gibt es nicht mehr. Dieses moderne Durchschnittsbewußtsein identifiziert Judenhaß mit Antisemitismus oder unterscheidet bloß formal zwischen christlichem Mittelalter und säkularasierter Neuzeit.
Die Unterscheidung zwischen Judenhaß und Antisemitismus eröffnet aber dem Erkennenden die Möglichkeit, sich vom naturwüchsigen Antisemitismus zu befreien. Die stete Wiederkehr des Antisemitismus erzeugt den Schein des "ewigen" Antisemitismus - aber dies ist ein falscher Schein. Spätestens nach Auschwitz, hat man gemeint, sei es unmöglich, noch Antisemit zu sein. Adorno und Horkheimer haben dies prägnant in ihrem Schluesselwerk "Dialektik der Aufklaerung" ausgedrückt: "Aber es gibt keine Antisemiten mehr."
(2) A la lettre genommen, können wir über diese Formulierung aus dem Jahre 1947 vierzig Jahre später nur milde laecheln; aber es wird ein richtiger Gedanke angezeigt: Der Antisemitismus, der zu Auschwitz führte, und der Antisemitismus nach Auschwitz sind nicht identisch. Dieser Gedanke führt über das eng abgesteckte Feld der Antisemitismusforschung hinaus: Antisemitismus ist ein Moment im gesellschaftlichen Prozess, das nur künstlich zu isolieren ist. Auf den gesellschaftlichen Zusammenhang kommt es an, in dem der Antisemitismus erscheint. Dieser gesellschaftliche Zusammenhang läßt sich nur erkennen, wenn man die geschichtlichen Unterschiede herausarbeitet.
Die Rede vom "ewigen Antisemitismus" bedeutet nichts anderes als eine intellektuell-politische Kapitulation vor dem Sachverhalt: Man isoliert den Antisemitismus aus seinem jeweiligen gesellschaftlich-geschichtlichen Kontext und verwandelt ihn in eine anthropologische Konstante. Schnell folgt daraus der Kurzschluss auf angebliche Nationalcharaktere, zu denen ein nationalspezifischer Antisemitismus gehört. Die Rede von "Deutschen und Juden" macht den Antisemitismus zu einer Angelegenheit von anthropologisch differenten Personengruppen, ohne auf die gesellschaftlich-geschichtliche Bestimmung der Individuen zu achten. Der moderne Antisemitismus ist zweifellos an den Nationalismus gekoppelt, aber die Reduktion des Antisemitismus auf die nationale Besonderheit gibt gerade der ideologischen Form nach, zu der Nationalismus und Antisemitismus gehören. Das Gerede von der nationalen Identitaet putzt nur die alte Ideologie auf; die Identifikation mit nationalen Kollektiven wird für alle Beteiligten bestätigt. Über der Freude "irgendwo dazuzugehören" wird vergessen, daß Kollektivzugehörigkeit zunächst ein gesellschaftlicher Zwang ist. Der gelbe Stern ist äußeres Zeichen für diesen Zwang. Die Kennzeichnung der Juden als Juden im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich ermöglichte überhaupt erst ihre Erfassung und Vernichtung. Die Praxis, Individuen - unabhängig davon, was sie tun und sagen - Kollektiven zuzuschlagen, ahmt den gesellschaftlichen Zwang nach, statt ihn zu kritisieren. Es beruhigt ungemein, Auschwitz als Folge des deutschen Nationalcharakters zu begreifen und Traditionslinien durch die letzten tausend Jahre zu ziehen. Aber diese anthropologische Formel verdeckt den wirklichen Zusammenhang von modernem Antisemitismus und der Massenvernichtung wehrloser, unbewaffneter Menschen. "Keineswegs ist der totalitäre Antisemitismus ein spezifisch deutsches Phänomen. Versuche, ihn aus einer so fragwürdigen Entität wie dem Nationalcharakter, dem armseligen Abhub dessen, was einmal Volksgeist hieß, abzuleiten, verharmlosen das zu begreifende Unbegreifliche. Das wissenschaftliche Bewusstsein darf sich nicht dabei bescheiden, das Rätsel der antisemitischen Irrationalität auf eine selber irrationale Formel zu bringen. Sondern das Rätsel verlangt nach seiner gesellschaftlichen Auflösung, und die ist in der Sphäre nationaler Besonderheiten unmöglich ."
(3) Die falsche Auflösung des antisemitischen Rätsels durch nationale Formeln beruht nicht allein auf falschem Denken, sondern ist in der materiellen Realität begründet. Der Triumph des totalen Klassenkampfes und Krieges, den die Nationalsozialisten fuehrten, lebt in der Entsubstantialisierung der bürgerlichen Gesellschaft nach. Die kosmopolitischen Ideale der Französischen Revolution "Freiheit, Gleichheit und Brüederlichkeit" haben sich in den Individuen nicht durchgesetzt, sondern diese klammerten sich im Verlauf der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft an einen illusionären Strohhalm: an die Nation, der sie sich scheinbar von Natur zugehörig glaubten. In diesem Prozess zeigt sich, daß "Dialektik der Aufklärung" mehr ist als ein Buchtitel. Die bürgerliche Gesellschaft sollte, ihrem Begriff nach, die Menschen aus ihren naturwüchsigen kollektiven Zusammenhängen herauslösen und individuieren. Die Individuen hätten auf einem bestimmten geschichtlichen Stand die Fähigkeit erwerben sollen, sich von der Macht der Vergangenheit zu emanzipieren und frei zu handeln. Dieses Emanzipationsversprechen wird aber schon im 18. Jahrhundert gekoppelt an die Verklaerung der bürgerlichen Gesellschaft als einer natürlichen Beziehungsform der Individuen untereinander. Durch die Französische Revolution ist überhaupt erst die französische Nation als politische entstanden. In der vorbürgerlichen Gesellschaft verstand man unter "Nation" hauptsächlich eine - die Juden. Die Proklamation der Menschenrechte löst die Juden als Nation auf in die konstituierte Französische Nation. Dieser Widerspruch drückt sich in den berühmten Worten Clermont-Tonnerres während der Emanzipationsdebatte der Nationalversammlung im Dezember 1789 aus: "Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den Juden als Menschen ist alles zu gewaehren."(4) Darin zeigt sich Verschränkung von Emanzipationsversprechen und Assimilationszwang als Fortschritt von Freiheit und Unterdrückung. Diese Dialektik durchzieht nicht nur die Geschichte der Großen Französischen Revolution, sie bestimmt auch die Verwandlung des Judenhaß in Antisemitismus. Dialektik der Aufklärung kennzeichnet also den Prozess des Bewußtseins wie den der materiellen Realität.
Die widersprüchliche Struktur materieller Veränderungen und solchen des bürgerlichen Bewußtseins schlägt sich in der wissenschaftlichen Literatur der letzten zwei Jahrhunderte nieder - meist einseitig. Die große Emanzipationsliteratur, angefangen mit dem aufgeklärten preußischen Beamten Christian Wilhelm Dohm, macht Vorschläge, den traditionellen Judenhaß gesellschaftlich aufzulösen. Die ungehemmte Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft wird nach den Vorstellungen von Dohm, Mirabeau, Gregoire und anderen die alten Vorurteile beseitigen. "Vorurteil" bedeutet in dieser Literatur nicht bloß "falsche Meinung", sondern Vorurteil bedeutet wesentlich die rechtliche und gesellschaftliche Sonderstellung der Juden in der traditionellen Gesellschaft, deren häßlichster Ausdruck das ummauerte Getto war. Der vom Kriegsrat Dohm gewählte Titel seines 1781 erschienenen Buches kann durchaus als Programm genommen werden: "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden". Aus der Perspektive des aufgeklärten Beamten erscheint die Masse der Juden als Objekt - von Besserungsmaßnahmen, durchaus im doppeldeutigen Sinn. Aber die Formulierung trifft ein wesentliches Verhältnis: Die bürgerliche Emanzipation erreicht die Masse der europäischen Juden von außen - sie werden zwangsemanzipiert.
Nach der Grossen Revolution sind in Frankreich die reaktionären christlichen Argumente gegen jüdische Gleichberechtigung kaum noch zu hören, obwohl sie in Deutschland bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts nicht ganz verschwinden. Aber der Geist der neuen Zeit macht sich in der Verwandlung des christlich begründeten Judenhasses in modern antisemitische Argumentationen bemerkbar. Im Denken Fichtes, der zunächst die Revolution verteidigt, erscheint ein neues geschichtliches Subjekt: die Nation. Die deutschen Jakobiner hatten zur Beseitigung der "herrschenden Vorurteile" - darunter wurde wesentlich die Unterdrückung der Juden verstanden - aufgerufen
(5); 1793 macht Fichte aber eine erschreckende Wendung, die aus naturrechtlichem Geiste kommt: "Von einem Volke, dessen Geringster seine Ahnen höher hinaufführt, als wir andern alle unsere Geschichte, und in einem Emir, der älter ist, als sie, seinen Stammvater sieht - eine Sage, die wir selbst unter unsere Glaubensartikel aufgenommen haben; das in allen Völkern die Nachkommen derer erblickt, welche sie aus ihrem schwärmerisch geliebten Vaterlande vertrieben haben; das sich zu dem den Körper erschlaffenden, und den Geist fuer jedes edle Gefühl tötenden Kleinhandel verdammt hat, und verdammt wird; das durch das bindendste, was die Menschheit hat, durch seine Religion, von unsern Mahlen, von unseren Freudenbecher, und von dem süßen Tausche des Frohsinns ausgeschlossen ist; das bis in seinen Pflichten und Rechten, und bis in der Seele des Allvaters uns andere alle von sich absondert, - von so einem Volke sollte sich etwas anderes erwarten lassen, als was wir sehen; daß in einem Staate, wo der unumschränkte König mir meine väterliche Hütte nicht nehmen darf, und wo ich gegen den allmächtigen Minister mein Recht halte, der erste Jude, dem es gefällt, mich ausplündert."(6) Fichte versucht den der bürgerlichen Gesellschaft inhärenten Widerspruch von politischer Freiheit und ökonomischer Unterdrückung auf Kosten der Juden zu lösen. Menschenrecht solle man ihnen gewähren, aber keine Bürgerrechte.
Diese Argumentation von Fichte verdient besondere Beachtung, weil sie deutlich die Differenz von traditionellem Judenhass und modernem Antisemitismus zeigt. In einer Fußnote versucht Fichte sich zu erklären. Er weist jede religiöse Intoleranz von sich - keineswegs aus taktischen Gruenden: "Ich will nicht etwa sagen, daß man die Juden um ihres Glaubens willen verfolgen solle ."
(7) Fichte stellt der Emanzipationsliteratur und Aufklärung seine "Tatsachen" gegenueber; der Idealist wird zum Positivisten: "Ich weiß, daß man vor verschiedenen gelehrten Tribunalen eher die ganze Sittlichkeit, und ihr heiligstes Produkt, die Religion, angreifen darf, als die jüdische Nation. Denen sage ich, daß mich nie ein Jude betrog, weil ich mich nie mit einem einließ, daß ich mehrmals Juden, die man neckte, mit eigener Gefahr und zu eigenem Nachteil in Schutz genommen habe, daß also nicht Privatanimosität aus mir redet. Was ich sage, halte ich für wahr; ich sagte es so, weil ich das für nötig hielt: ich setze hinzu, daß mir das Verfahren vieler neuerer Schriftsteller in Rücksicht der Juden sehr folgewidrig scheint, und daß ich ein Recht zu haben glaube, zu sagen, was und wie ich's denke. Wem das Gesagte nicht gefällt, der schimpfe nicht, verleumde nicht, empfinde nicht, sondern widerlege obige Tatsachen."(8)
In Fichtes Argumentation erscheint noch unverstellt das Kennzeichen des modernen (bürgerlichen) Antisemitismus, das später durch die psychische Abwehr der Antisemiten verschleiert wird: Indifferenz. Ausdrücklich weist Fichte, "Privatanimositäet" von sich: Der Antisemitismus ist abstrakt, der Judenhaß konkretistisch. Beim Judenhaß geht es ums Totschlagen, brutal, mit Knüppeln und was dem Pogromisten gerade so in die Hand fällt; der Fortschritt zum Antisemitismus bedeutet nicht weniger Gewalt, sondern andere. Fichtes Argumentation bedarf der "Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäere"
(9). Adorno konstatiert eine menschliche Qualität, durch die alle modernen Individuen geschlagen sind und die auch den Schuldlosen mitschuldig macht: "Die Schuld des Lebens, das als pures Faktum bereits andern Lebenden Atem raubt, einer Statistik gemäeß, die eine überwältigende Zahl Ermordeter durch eine minimale Geretteter ergänzt, wie wenn das von der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorgesehen wäre, ist mit dem Leben nicht mehr zu versöhnen. Jene Schuld reproduziert sich unablässig, weil sie dem Bewußtsein in keinem Augenblick ganz gegenwärtig sein kann."(10)
Der Ursprung bürgerlicher Subjektivitaet, wie wir ihn beim jungen Fichte beobachten können, ist aber kein bloß subjektiver: Meinung tritt hier zwar als Setzung auf, wird aber behauptet als Tatsache. Sie objektiviert sich in der Trennung von Menschen- und Bürgerrechten. Die in der Meinung latente Gewalttat wird manifest: "Menschenrechte müssen sie haben, ob sie gleich uns dieselben nicht zugestehen; denn sie sind Menschen, und ihre Ungerechtigkeit berechtigt uns nicht, ihnen gleich zu werden. Zwinge keinen Juden wider seinen Willen, und leide nicht, daß es geschehe, wo du der Nächste bist, der es hindern kann; das bist du ihm schlechterdings schuldig. Wenn du gestern gegessen hast, und hungerst wieder, und hast nur auf heute Brot, so gib's dem Juden, der neben dir hungert, wenn er gestern nicht gegessen hat, und tust sehr wohl daran. - Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken."
(11)
Normalerweise werden nur die letzten Zeilen zitiert, um Fichte dann als Vorläufer der Nazis zu charakterisieren. Das Grauen wird aber erst durch den Zusammenhang unerträglich: Die sittlichen Regeln, die im ersten Absatz in aller Strenge und Rigidität betont werden, sind von der Wirklichkeit der nationalsozialistischen Herrschaft um eine Welt entfernt: Gerade als Menschen werden die Juden nicht behandelt, sondern - im Nazi-Sprachgebrauch - "sonderbehandelt als Untermenschen", als lebendige Dinge, über die die Herrenmenschen absolut verfügen. Fichte überträgt die Spaltung, die im Unterschied von Menschen- und Bürgerrechten erscheint, und der alle Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft faktisch unterliegen, allein auf die Juden. Die Trennung von Menschen- und Bürgerrechten reflektiert den zentralen Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft selbst, den Fichte nicht durchschaut. Er spricht den Juden die Fähigkeit zur Emanzipation ab - sie sind der Heteronomie verhaftet durch die Praxis des Kleinhandels, und sie gelten darum als zur Autonomie des Staatsbürgers, des Citoyen, unfähig. Der Widerspruch des bürgerlichen Menschen, Bürger und Staatsbürger, Bourgeois und Citoyen in einer Person zu sein, wird von Fichte projiiert auf die Juden. Nur den Juden wird der Widerspruch, dem alle Subjekte der bürgerlichen Gesellschaft unterliegen, als unlösbarer schuldhaft zugeschoben: im Verweis auf ihre traditionelle ökonomische Praxis, auf Geld- und Warenhandel.
An Fichtes Argumentation kann man sehen, daß antisemitisches Meinen sich nur gesellschaftlich begreifen läßt, nicht als Tatsachendiskussion über die Juden. Undurchschaut bleibt bei Fichte der ökonomische Prozess, mit dem er die Juden identifiziert. Die Heteronomie ökonomischer Prozesse bedroht die Autonomie des selbstgesetzten Ichs. Die abstrakte Setzung einer Identität schließt die Juden aus; der gesellschaftlich emanzipative Inhalt weicht gegenüber der Autonomie des Subjekts zurück. Fichtes Gesellschaftsschrift "Der geschlossene Handelsstaat" macht aus der Not eine Tugend - die des absoluten Zwanges. Aus Fichtes Argumentation sind nur die schieren, subjektivistischen Urteile ins Arsenal des modernen Antisemitismus übergegangen. Fichte erscheint bloß als verdammungswürdiger Halsabschneider, nicht aber als der Antisemit, als der er zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft gehört - nicht als Ausnahme, sondern als Normalfall. Die Forderung nach Menschenrechten für die Juden bei gleichzeitigem Ausschluss von den Bürgerrechten erscheint heute noch: in der scheinbar anti-antisemitischen Allerweltsaussage "Die Juden sind doch auch Menschen".
Es sind die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, die im antisemitischen Meinen ihren Ausdruck finden. Dieses Meinen ist latente Gewalttat, wie wir aus Fichtes Argumentation wissen. Bei seinen Nachfolgern wird aus der Argumentation die affektive Seite - der "süße" Tausch des Frohsinns mit uns von "Herz zu Herzen" - herausgebrochen und in einen "Brei des Herzens, der Freundschaft und Begeisterung" verwandelt, wie Hegel seinen Kollegen Fries, als "Heerführer dieser Seichtigkeit", kritisiert hat.
(12) Eine Literatur, die Emanzipation und Assimilation als Irrweg verdammt, hat eine abschüssige Traditionslinie von Reformation über Aufklärung, deutschen Idealismus, Marxismus bis zu Hitler und Himmler gezogen, die selber einer irrationalen Formel gleicht. Der moderne Antisemitismus läßt sich aber ohne die im gesellschaftlichen Leben wirksame Dialektik nicht erkennen. Das trifft vor allem auf das monumentale Werk von Leon Poliakov "Geschichte des Antisemitismus" zu, einer ungeheuren Materialsammlung, aus der jüngere Autoren sich wie aus einem Steinbruch bedienen. (13)
"Wohl sieht retrospektiv alles so aus, als hätte es so kommen müssen und nicht anders sein können. Man wird unter den Berühmten der deutschen Vergangenheit bis hinauf zu Kant und Goethe nur wenige nennen können, die von judenfeindlichen Regungen ganz frei waren. Aber indem man auf solche Universalität insistiert und die Fatalität des Geschehens im Begriff nochmals wiederholt, macht man sie in gewissem Sinn sich selbst zu eigen. Den Spuren des heraufdämmernden Verhängnisses in der deutschen Vergangenheit ist allerorten auch deren Gegenteil gesellt, und die Weisheit, ex post facto zu dekretieren, was von vornherein das Stärkere gewesen sei, macht es sich allzu leicht, indem sie das Wirkliche als das allein Moegliche unterstellt."
(14)
Der moderne Antisemitismus resultiert aus mißglückter Emanzipation. Gerade weil weder Toleranz noch Intoleranz bei der antisemitischen Argumentation eine Rolle spielen, ist Fichtes Verteidigung der Französischen Revolution so genau zu lesen: Begründend wirkt eine Fehlinterpretation des gesellschaftlichen Prozesses. In den Juden wird der Inbegriff ökonomischer Modernisierung gesehen - die Vorkehrung von persönlicher Gewalt in die Gewalt der Sachen, die wesentliche Veränderung in jenem Prozeß, wird zwar erfahren, aber nicht begriffen. Deswegen spricht Fichte von "Ausplündern". Fichte verteidigt eine Revolution ohne ihren gesellschaftlichen Inhalt; "Revolution" ohne Inhalt derart im nationalen Rahmen zu sehen, heißt nicht anderes als chauvinistischen Existenzkampf zu propagieren. Wo ein bestimmter Begriff der bürgerlichen Gesellschaft fehlt, leistet der Begriff der Nation Ersatz. Der gesellschaftliche Zusammenhang der Individuen erscheint als ein quasi natürlicher; es geht dann nur mehr um Bestimmungen des "Volks". Auf diese Weise konnte Fichte zum Ideologen der antinapoleonischen Befreiungskriege werden. Der Kantianer Saul Ascher hat diesen Umschwung als Germanomie bezeichnet. Fichte avancierte nicht zufällig zum Lieblingsphilosophen der deutschen Romantik. "Der Judenhaß beginnt erst mit der romantischen Schule (Freude am Mittelalter, Katholizismus, Adel, gesteigert durch die Teutomanen - Ruehs -)" heisst eine fragmentarische Notiz in Heines Nachlass.
(15)
Wiederholung bedeutet nicht Identität. Freilich gibt es einen Zusammenhang von traditionellem Judenhaß und modernem Antisemitismus. Beide, Judenhass und Antisemitismus, besitzen eine gemeinsame Substanz: Haß auf die nahen Fremden, die das Geheimnis des gesellschaftlich verweigerten Ersehnten kennen. Es gibt nur eine in der europäischen Geschichte identische Gruppe, auf die sich dieser Haß anwenden läßt: Das sind die Juden. Die Interpretationen, die einen ewigen Antisemitismus am Werke sehen, gehen fehl, weil sie die bestimmten Unterschiede nicht sehen wollen. Judenfeindliche Tendenzen hat es zweifellos in der Antike gegeben, und es hat solche Tendenzen im ersten christlichen Jahrtausend gegeben.
(16) Aber es läßt sich kein identisches System hinter den Unruhen in Alexandria (38 nach christlicher Zeitrechnung) und den antijüdischen Attacken der Kirchenväter entdecken, - wenn man nicht ein nationales Modell mystifiziert, wie es in der zionistischen Literatur meist geschieht. (17) Andere Autoren sprechen von den Juden als Minderheit (18), - auch gegen die Absicht der Autoren verfälscht dieser Begriff der Minderheit das Einzigartige des Phänomens. "Minderheit" sagt nichts über die spezifische geschichtliche Konstellation, in welcher Juden mit anderen Völkern in verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen lebten. Um diese wechselvollen gesellschaftlichen Beziehungen geht es hier. Die seit dem Ausgang der Antike bis zur Säkularisierung in Europa vorherrschende Interpretation der Welt entstammt wesentlich der jüdischen Tradition und bekämpft sie zugleich: das nahe Fremde. Bissig hat das der junge Marx mit seinem Freund Friedrich Engels formuliert: "Ein Dorn, der mir - wie das Judentum der christlichen Welt - von der Stunde der Geburt im Auge sitzt, sitzen bleibt, mit ihm wächst und sich gestaltet, ist kein gewöhnlicher, sondern ein wunderbarer, ein zu meinem Auge gehöriger Dorn, der sogar zu einer höchst originellen Entwicklung meines Gesichtssinnes beitragen müßte."(19) Diesen christlich verzerrten Gesichtssinn wollte die europäische Aufklärung korrigieren; aber es gelang ihr nur in begrenztem Maße, weil die geschichtliche und gesellschaftliche Dynamik, die diesen Sinn verzerrte, ihr verschlossen blieb. Die Aufklärer blieben an einer Vorstellung unverzerrter Kommunikation von großen Einzelnen hängen: Die überragende Rolle von Moses Mendelssohn als Dialogpartner der gebildeten europäischen Spitze läßt sich aus dieser Lage verstehen. Dem idealisierten Einzelnen, dem Weltbürger als der Zielvorstellung des aufgeklärten Emanzipationsanspruchs entspricht, als Kehrseite, die Verachtung der Masse. Der Individualitätsanspruch wird universalisiert. Dieser weltbürgerliche Kosmopolitismus wird allen späteren Nationalisten zum Greuel, denn damit wird die Vorherrschaft des traditionalen wie des modernen Kollektivs in Frage gestellt. Gegenaufklärung und Restauration, die auf Aufklärung und Emanzipation antworten, müssen der gesellschaftlich bereits erfolgten Verweltlichung so weit Rechnung tragen, daß traditionelle christliche Legitimationsfiguren in einen neuen ökonomisch-gesellschaftlichen Begründungszusammenhang eingeschmolzen werden müssen. Der moderne Antisemitismus als Reaktion auf die Französische Revolution und ihre politisch- ökonomischen Folgen erfüllt genau diese Funktion.
Wenn wir vom modernen Antisemitismus sprechen, bedeutet dies, daß der traditionelle Judenhaß auch ein Antisemitismus war: Geschichtliches Denken erklärt aus der Anatomie des Menschen die des Affen und nicht umgekehrt. Die Periode von 1750 bis 1850 ist für die Geschichte des Antisemitismus deshalb so aufschlußreich, weil in dieser Zeit der Formwechsel des traditionellen Judenhasses zum Antisemitismus stattfindet - bevor Antisemitismus als Wort existiert. Der nationalsozialistische Antisemitismus hat versucht, sich noch einmal aufs Schärfste gegen den christlich legitimierten Judenhaß abzugrenzen. Horkheimer und Adorno analysierten diese Verleugnung der geschichtlichen Wurzeln: "Der durchschnittliche Gläubige ist heute schon so schlau wie früher bloß ein Kardinal. Den Juden vorzuwerfen, sie seien verstockte Ungläubige, bringt keine Masse mehr in Bewegung. Schwerlich aber ist die religiöse Feindschaft, die für zweitausend Jahre zur Judenverfolgung antrieb, ganz erloschen. Eher bezeugt der Eifer, mit dem der Antisemitismus seine religiöse Tradition verleugnet, daß sie ihm insgeheim nicht weniger tief innewohnt als dem Glaubenseifer früher einmal die profane Idiosynkrasie."
(20)
Beim traditionellen Judenhaß verschränken sich rationale Kalküle und christliche Legitimation. In einer aufschlußreichen Untersuchung über Judenpogrome im 14. Jahrhundert hat Frantigek Graus herausgearbeitet, daß es durchaus übliche Praxis war unter den Herrschenden, die besten Judenhäuser im voraus den christlichen Herren zu versprechen, "wann die Juden dasselbes un nehst werden geslagen". So steht es in einer Urkunde Karls IV. vom Juni 1349.
(21) Manipulative Aufstachelung zeichnet nicht nur das Pogrom im späten Zarismus Ende des 19. Jahrhunderts, sondern schon das mittelalterliche Pogrom aus. Nicht nur das Christentum wird als Legitimation profaner Motive benutzt, auch die Revolte gegen die Herrschaft im Interesse der Herrschaft.
"Gott will es" - dieser fürchterliche Ruf der Kreuzzügler leitete die ersten systematischen Massaker an den Juden in Europa ein: 1096. Das nationalistisch werdende Europa des 19. Jahrhunderts hat in den Kreuzzuegen sein identitätsstiftendes Modell gesehen. Die Praxis besteht in der von höchster moralischer und weltlicher Stelle gebilligten Aufhebung des Tötungstabus. Zeitlich wie räumlich kommt die Rechtfertigung von weit her: Die Ungläubigen sprich die Muslime - haben die heilige Stadt Jerusalem und das Grab des Herren in Besitz genommen. Elieser bar Nathan hat überliefert, wie damit der Massenmord an den Juden der Rheinlaender gerechtfertigt wurde:
"Sie sprachen in ihrem Herzen: 'Sehet, wir ziehen hinab, unseren Heiland zu suchen und Rache zu üben für ihn an den Ismaeliten; hier aber sind die Juden, welche ihn umgebracht haben und gekreuziget! Auf, lasset denn zuerst an ihnen uns Rache nehmen und sie austilgen unter den Völkern, auf das vergessen werde der Name Israel; oder sie sollen unseresgleichen werden und zu unserem Glauben sich bekennen!'"
(22)
Die Herrschaft der christlichen Religion wird mit barbarischen Mitteln in Europa befestigt. Als ein Herrschaftsmittel spielt der Judenhaß eine Rolle, der im Schoße der christlichen Herrschaft zur Tradition des christlichen Abendlandes wird. An der Schwelle zur Neuzeit haben wir es mit einem in ganz Europa verbreiteten traditionellen Judenhaß zu tun. Heine hat diesen Vorgang in einem großartigen aufklärerischen Aphorismus ausgedrückt: "Juden - sie waren die einzigen, die bei der Christlichwerdung Europas sich ihre Glaubensfreiheit behaupteten -."
(23) Der elementare Charakter des Judenhasses richtet sich gegen die Härte der christlichen Herrschaft, trifft aber die der Vaterreligion treuen Juden. Freud hat im Angesicht des nationalsozialistischen Triumphes Ursprungselemente des Judenhasses herausgearbeitet. Er hat nicht die simple Ideologie christlichen Judenhasses a la lettre genommen, sondern ihre Dialektik entwickelt: "Und endlich das spaeteste Motiv in dieser Reihe, man sollte nicht vergessen, daß alle diese Völker, die sich heute im Judenhaß hervortun, erst in späthistorischen Zeiten Christen geworden sind, oft durch blutigen Zwang getrieben. Man könnte sagen, sie sind alle 'schlecht getauft', unter einer dünnen Tünche von Christentum sind sie geblieben, was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus huldigten. Sie haben ihren Groll gegen die neue aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam. Die Tatsache, daß die Evangelien eine Geschichte erzählen, die unter Juden und eigentlich nur von Juden handelt, hat ihnen eine solche Verschiebung erleichtert. Ihr Judenhaß ist im Grunde Christenhass, und man braucht sich nicht zu wundern, daß in der deutschen nationalsozialistischen Religion diese innige Beziehung der zwei monotheistischen Religionen in der feindseligen Behandlung beider so deutlichen Ausdruck findet."(24) Die Entwicklung des modernen Antisemitismus wirft auch an dieser Stelle ein Licht nach rückwärts: auf den traditionellen Judenhaß. Aus diesem Grunde sollte man nicht von einem christlichen, sondern von einem in der Volkstradition verwurzelten Judenhaß sprechen, der von der christlich organisierten Herrschaft funktionalisiert wird. Der Judenhaß bietet sich an wegen der Verschiebungsmöglichkeit der Affekte, die sich primär gegen die drückende Herrschaft richten. Dazu ist eine wesentliche psychische Qualität nötig, von der Adorno gesagt hat, sie könne soziologische Wunder vollbringen: Ambivalenz. In einer patriachalischen Gesellschaft gehört Ambivalenz zur psychischen Grundausstattung jeden Individuums; sie gehört zum "Wesen des Vaterverhältnisses"(25), das Modell von Herrschaft wird.
Die Individuen verinnerlichen den von der Herrschaft aufgezwungenen Triebverzicht; in ihnen selbst bildet sich eine Ambivalenz von Liebe und Hass gegen diesen mächtigen Herren, der einst der Vater oder Gott war. "Gott will es" - dieser Schlachtruf der Kreuzzüge ermöglicht es, das Schuldbewußtsein, das dem Haß auf den Herren entspringt, auf die Juden zu verschieben, die mit dem Herren identifiziert werden, aber doch nicht mit ihm identisch sind. Die christliche Herrschaft bedient sich dieser Gefühlsambivalenz, indem sie die verhaßten Juden schlagen läßt und selbst, als Autorität, Liebe und Achtung einstreicht. Auf die antisemitische Untat, das Pogrom, muß deshalb auch die Strafe folgen, die wiederum die Autorität des Herren steigert. Der Tat gegenüber bleibt bei den Unterdrückten die Ambivalenz: Lustvoll war die Gewalt, weil sie die eigene Unterdrückung kurz aufhob, angstvoll wird sie verdrängt oder gar verleugnet, weil auf sie Strafe stand oder noch steht. Das eigene Schuldbewußtsein gegen den Herren der schlecht getauften Christen läßt sich im Pogrom ganz auf die Juden verschieben, bis die alte Ordnung wiederhergestellt ist. Die christliche Herrschaftsordnung bedarf der speziellen Unterdrückung der Juden, damit die allgemeine Unterdrückung erträglicher wirkt. Die Kreuzzüge stehen in der Geschichte als das brutalste Mittel zur Errichtung christlicher Herrschaft da; sie liefern das Modell des Heidenkriegs, der den Besiegten vor die Alternative Taufe oder Tod stellt. Nichtanerkennung des Feindes als oberstes Prinzip wird durch die christliche Religion legitimiert. Im 11. Jahrhundert gibt es Judenverfolgungen als Generalprobe, lange bevor es zu den Massakern der Kreuzzüge kommt. Die Verschwörungstheorie spielt dabei immer eine große Rolle: Die Juden seien mit dem äußeren Feind, und, ist der nicht sichtbar, mit dem Teufel im Bunde. Verschwörungstheorie und Gerücht gehören zusammen: "Um so bezeichnender ist es, daß bis zum XI. Jahrhundert keine Chronik von Ausbruechen des Volkszorns gegenüber den Juden berichtet. Aber nun kurz nach tausend versetzen wirre Gerüchte die Christenheit in Unruhe. Auf Anstiften der Juden habe der 'Fuerst von Babylon' das Grab des Herren zerstören lassen; er habe auch gegen die Christen im Land unzählige Verfolgungen in Gang gebracht und hätte dabei auch den Patriarchen von Jerusalem enthaupten lassen. Was hier auch immer in den Bereich der orientalischen Märchen gehören mag (in Wirklichkeit ging der unduldsame Hakim ebenso scharf gegen Juden wie auch gegen Christen vor), im Abendland beginnen Fürsten, Bischöfe oder Bauernlümmel unverzüglich damit, Rache an den Juden zu üben: die Juden werden in Rouen, Orleans, Limoges (1010), Mainz (1012) und zweifellos auch in anderen Städten am Rhein und, wie es scheint, auch in Rom zwangsweise bekehrt, niedergemacht und ausgetrieben."
(26) Die reale Tat wird begangen - legitimiert durch das Gerücht. Schon zu Beginn der organisierten Judenverfolgung in Europa läßt sich Adornos Aphorismus lokalisieren: "Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden." (27)
Damit das Gerücht greift, müssen die Opfer designiert werden. Weltliches und noch viel mehr kirchliches Judenrecht besorgen dies in einem säkularen Prozess. Die Jahrtausendwende mit den spanischen Heidenkriegen und den Kreuzzügen ist gekennzeichnet durch den Zugriff der kirchlichen Macht, die eine äußerliche Kennzeichnung der Juden zur Folge hat. Die Juden werden von den Herrschenden verurteilt, in einer elenden Lage zu leben. "Anhand einer zusammenhaengenden Urkundengruppe läßt sich so der Weg verfolgen vom freien königlichen Kaufmann, der weite Räume durchzieht und den Karolingerhof mit erlesenen Waren des Fernhandels versorgt, bis zum königlichen Kammerknecht, der - Objekt eines lehnbaren königlichen Rechts - inzwischen schon und künftig immer häufiger Gegenstand der Verleihung von Territorialfürsten ist. Obwohl Friedrich Il. nach seiner Einleitung über die Kammerknechtschaft den Text Heinrichs IV. von 1090 unverändert wiederholt, bedeutet dieser Text nicht mehr dasselbe. Denn der faktische Status der Juden, die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kirchenrechtlichen Bedingungen hatten eine allmähliche, aber gründliche Änderung erfahren, und Friedrich trug ihr mit dem Status der Kammerknechtschaft Rechnung. Die nun allseitig fixierte 'Knechtschaft' der Juden gab den Rechtstitel her für die seit dem 13. Jahrhundert erheblich beschleunigte Absonderung, Diskriminierung und Unterdrückung der Minderheit, deren ökonomische Unentbehrlichkeit abnahm."
(28) Die geschichtliche Reflexion klärt darüber auf, daß dem modernen Vorurteil ein materielles Urteil der Herrschaft vorausgegangen ist, das die Verurteilten gezeichnet hat.
In der Geschichte des Antisemitismus ist auch dies wörtlich zu nehmen. Die klare Trennung von Christen und Juden teilt den Juden einen in jeder Beziehung anderen Status zu. Das IV. Laterankonzil 1215 macht den Juden deutlich Kleidervorschriften, aus denen dann der obligatorische Gelbe Fleck entwickelt wird. Die Juden werden nun auch auf eine soziale Rolle fixiert: auf die des Agenten im Waren- und Geldverkehr, auf letzteren in seiner gefährlichsten Form, den Geldverleih genannten Wucher. In der traditionalen Gesellschaft versucht die herrschaftliche Gewalt den freien Geldverkehr zu begrenzen: Den Christen hatte das III. Lateranische Konzil 1179 verboten, Zinsen zu nehmen. Den Juden hatte man damit ein zweifelhaftes Monopol zugeschanzt: die Geldwirtschaft innerhalb einer agrarischen Traditionsgesellschaft. Als Geldbesitzer, bei denen die christliche Umwelt verschuldet war, waren sie vorzügliche Objekte gewalttätiger Begierde: der Herren wie der christlichen Untertanen. Da es überhaupt keine Vergleichsmaßstäbe gab und das Risiko für den Verleiher ungeheuer war, setzte sich das Wort Wucher für jede Zinsnahme fest. Das ökonomische Vorurteil im modernen Antisemitismus hat seine materielle Basis in der verschleierten vorkapitalistischen Ökonomie. Der Konzilsbeschluss über den jüdischen Wucher schränkte gerade den jüdischen Zins ein und machte ihn kalkulierbar; der stille Profiteur des Zinsverbotes war die Kurie, besonders zur Zeit der Kreuzzuege.
(29)
Das gefährliche Zinsgeschäft hatte noch eine andere Seite: Die Juden, denen agrarische Tätigkeit unmöglich gemacht wurde, mußten ihr Gewerbe ausüben als servi camerales - als Kammerknechte. Die Knechtschaft war total, denn die Juden wurden zu waffenlosen Schutzbedürftigen: "Wer das Waffenrecht verloren hat, ist in seiner rechtlichen und sozialen Umstellung herabgedrückt und nach germanischer und mittelalterlich- deutscher Auffassung Unfreier, Knecht und in vollständige Abhängigkeit von seinem Herrn gebracht."
(30) Die jüdische Existenz im agrarischen Europa ist seitdem abhängig vom Geldgeschäft. Nur aus dessen Profiten können die Schutzgelder an die Herren bezahlt werden. Unter den Gezeichneten bildet sich eine ganz besondere Moral aus, die auf die Verfolgung und Verbannung in die Zirkulationssphäre reagiert: "Es ist die Religiösität der 'Frommen Deutschlands', wesentlich formuliert von dem 1207 gestorbenen Juda ben Samuel im 'Buch der Frommen'. Die 1096 aufgezwungene Alternative 'Tod oder Taufe' wird darin mit der Aktivierung der Theologie des Kidusch ha-schem, der 'Heiligung seines Namens', beantwortet, die die Selbsttötung in der Verfolgung zur unbedingten Forderung erhebt, Selbstverteidigung (wie sie 1097 geübt wurde) ablehnt und Selbsttötung als Askese, Weltabkehr, Fatalismus und rigorose Lebensverneinung verinnerlicht."(31) Schon dieses Zitat macht deutlich, wie sehr die radikale Abkehr von Gewalt die traditionellen Denkschemata sprengt. Die aschkenasischen Juden haben sich dem Gleich für Gleich traditioneller Gewalt entzogen und alle Verfolgungen bis in die Moderne überlebt: Die Verfolger empfinden diese Tatsache als unheimlich. Der moderne Antisemitismus wird die Juden als feige beschimpfen; die Auseinandersetzungen um die Kriegsteilnahme von Juden reichen von den sogenannten Befreiungskriegen bis in den ersten Weltkrieg.
Wie sehr die Stellung zur Gewalt von der gesellschaftlichen Lage abhängt, zeigt die Geschichte der sephardischen Juden. "Die Juden der frühen Neuzeit waren keine einheitliche Gruppe. Sie waren durch ihre Jahrhunderte währende Akkulturation an das arabische und christliche Spanien und an den deutschsprachigen Raum Mitteleuropas in zwei große Kulturen geschieden, die Sephardim und die Aschkenasim (von hebräisch spharal = Spanien, bzw. aschkenaz = Deutschland), also in eine spanisch- und eine deutschsprachige Gruppe. Die Sephardim erlebten als Teil der islamischen Kultur des mittelalterlichen Spanien eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte, die sich nur mit der hellenistischen und der deutsch-jüdischen Periode der Emanzipationszeit vergleichen läßt."
(32) Das IV. Laterankonzil beschäftigte sich schon damit, die Juden aus hohen Ämtern fernzuhalten. Das galt nicht für Deutschland, sondern für das christlich werdende Spanien. In der Reconquista, der christlichen Eroberung des islamischen Spanien, die vor den Kreuzzügen des 11. Jahrhunderts schon das Modell des Heidenkrieges abgab, geht es um die Durchsetzung christlicher Herrschaft in Spanien. In dem Kampf gegen den Islam sind aber die kastilischen Könige zu schwach, ihr gewonnenes Land allein mit christlichen Herren zu verwalten. Die Juden, die im islamischen Spanien schon eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte erlebten, waren sogar weit besser geeignet als die christlichen Krieger und Abenteurer, ein geordnetes gesellschaftliches Leben zu organisieren. Die Kurie versuchte auch hier, mit den Beschlüssen des IV. Laterankonzils die christliche Herrschaft exklusiv durchzusetzen.
Zunehmend verstärkt sich im 13. und 14. Jahrhundert, was man Subreconquista genannt hat. Spanien sollte durch den Druck des Heiligen Stuhls an das übrige Europa angeglichen werden: "Solange die eigentliche Reconquista im vollen Gange war und die militärische Streitmacht der Christen sich auf eine im wesentlichen von Juden wahrgenommene Verwaltung stützte, dachte jedoch in dem Spanien der drei Religonen niemand daran, an die traditionellen Strukturen zu rühren. Wie wir schon gesagt haben, verwandten die Kirchenfürsten und die Führer der militärischen Orden, ganz wie die Könige, die Juden als Verwaltungsbeamte und Finanzfachleute ... "
(33) Man lebte so eng zusammen, daß die Kirche sich nicht scheute, den Zehnten auch von den Juden zu nehmen - sie also als Mitglieder der Kirchengemeinden betrachtete. Der Neid gegen die Juden wurde jedoch geschürt; als sichtbare Zeichen ihrer Blüte unter dem Islam existierten noch die Aljamas, die nicht mit den europäischen Gettogemeinden zu vergleichen waren. Der Druck nahm zu, obwohl oder gerade weil sich im Laufe der Jahrhunderte viele gemeinsame Rituale und Praktiken zwischen den drei unterschiedlichen Religionen entwickelt hatten. Viele Juden wurden im 14. Jahrhundert gezwungen, das Christentum anzunehmen; diese Neuchristen hießen Conversos, in jüdischer Tradition auch verständnisvoller Anussirn (Gezwungene) genannt: Bekannt geworden aber ist ihr spanischer Schimpfname Marranen, der die Juden zu Schweinen macht.
1492, unmittelbar nach dem Fall Granadas und dem Ende islamischer Herrschaft in Spanien, setzte sich Ferdinand von Spanien an die Spitze der klerikal angefachten antijüdischen Bewegung und vertrieb die Juden aus Spanien; ihnen wurde eine Frist von vier Monaten gewährt, Geld und wertvolle Metalle auszuführen, war ihnen untersagt. Religion wird in diesem Kampf als Herrschaftsmittel benützt - so eindeutig, daß der erste Theoretiker moderner Staatsgewalt, Machiavelli, den spanischen König als Beispiel des Neuen Principe lobt, der sich der Religion bedient. Der Kampf gegen die Marranen ging der Austreibung der Juden voraus. Die besonders häßliche Gestalt der Inquisition in Spanien fand ihre Legitimation in der Behauptung, daß die Übergetretenen nur Scheinchristen seien. Reiche Marranen als Opfer der Inquisition kamen auch Ferdinand recht; er finanzierte mit dem konfiszierten Vermögen den Sturm auf Granada. Nach der Austreibung flohen viele Juden nach Portugal, das wirtschaftlich hinter Spanien zurückgeblieben war. Als aber eine Heirat Manuels 1. von Portugal mit der Infantin Spaniens in Aussicht genommen wurde, verlangten die Katholischen Könige, wie sich Ferdinand und Isabella stolz nannten, die Austreibung der Juden aus Portugal. Um den drohenden wirtschaftlichen Ruin Portugals abzuwenden, fand Ostern 1497 eine brutal durchgeführte Massenzwangstaufe statt. Auf diese Weise entstand die marranische Bevölkerung Portugals, eine Population von fünfhunderttausend Menschen, deren Nachkommen sich später stolz "Die Nation" nennen liessen.
(34) Marranen, denen die Auswanderung gelang, haben sich oft in anderen Ländern wieder zum Judentum bekannt und zusammen mit den übrigen Juden die Erinnerung an eine Zeit stolzer jüdischer Herren in die Welt getragen, die Egon Erwin Kisch noch in seinen Reportagen von den sieben Gettos festgehalten hat - in den frühen dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Marranen wurden verfolgt; sie besetzten die Stellen, die einst den Neid auf die Juden geweckt hatten. Im Vollzug der Inquisition, als die Alternative Taufe oder Tod sich als nicht hinreichend erwies, entstand auch ein neues, unüberwindliches Postulat: Limpieza de sangre, Reinheit des Blutes. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts mußte jeder einen reinen Stammbaum vorweisen, der in Spanien bestimmte höhere Ämter erlangen wollte -Dreiviertel Jahrhunderte später setzten die Nazis die Nürnberger Rassengesetze in Deutschland durch. Gibt es also doch einen "ewigen Antisemitismus", und ist alles schon einmal dagewesen? Die Unterscheidung, die man nach 1945 zwischen religiösem und rassischem Antisemitismus getroffen hat, ist jedoch allzu formal und ungesellschaftlich. Der Historiker Reinhard Rürup hat 1975 allzu optimistisch konstatiert: "Die These, daß der moderne Antisemitismus ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist und aus den Strukturen und Tendenzen dieser Gesellschaft begriffen werden muß, dürfte in der wissenschaftlichen Diskussion heute kaum noch ernsthaft bestritten werden. Man ist sich einig darüber, daß es trotz einer scheinbaren räumlichen und zeitlichen Universalität der Judenfeindschaft seit hellenistischer Zeit keine Kontinuität eines 'ewigen' Antisemitismus gibt, daß vielmehr die religiös und wirtschaftlich motivierte, durch einen einzigartigen Minderheitsstatus der Juden bedingte Judenfeindschaft der vorbürgerlichen abendländisch- christlichen Welt deutlich vom Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts geschieden werden muß." (35) Dieser im Prinzip richtigen Feststellung fehlt der gesellschaftstheoretische Zusammenhang, ohne den die geschichtlichen Ereignisse bis zur Unverbindlichkeit relativiert werden. Aus diesem Relativismus läßt sich aber kein Argument mehr gewinnen, mit dem man die These des "ewigen Antisemitismus" bestimmt zurückweisen könnte; eine These, mit der noch die unterschiedlichsten Aktionen gegen Juden in den zweitausend Jahren christlicher Geschichte auf einen abstrakten Generalnenner gebracht werden. Die Rede vom Antisemitismus als einer Naturkonstante abendländischer Geschichte ist politisch äußerst gefährlich. Denn, um die Generalthese halten zu können, muß die historisch entscheidende Epoche von Aufklärung und Emanzipation ebenso wie jede sozialrevolutionäre Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft für genuin judenfeindlich erklärt werden.
Die Verdrängung der Marxschen Theorie aus dem spätkapitalistischen Forschungsbetrieb wie aus dem marxistisch- leninistisch zugerichteten Kanon im "real existierenden Sozialismus" hat die produktive Marxsche Leistung in der Analyse der Emanzipationsepoche ganz in Vergessenheit geraten lassen. Ohne die Auseinandersetzung mit der Herrschaft der Religion im (hinter England und Frankreich) zurückgebliebenen Preussen ist die Marxsche Theorie nicht denkbar, im Vormärz spitzte sich die Frage moderner Gesellschaftsform an der damals sogenannten "Judenfrage" zu. Zwei Schriften des Junghegelianers Bruno Bauer "Die Judenfrage" und "Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden" provozierten den jungen Marx 1843 zu einer Antwort unter dem Titel "Zur Judenfrage". Wesentlich für die Marxsche Schrift ist das Argument, Bruno Bauer stelle die Frage falsch - er stelle als Judenfrage, was nur als Frage der allgemein menschlichen Emanzipation zu behandeln sei. Die Bauersche Frage nämlich läuft auf die Absurdität hinaus, den unterdrückten Juden den Verzicht auf ihre Religion sozusagen als Vorschuß auf eine allgemeine Emanzipation abzuverlangen. Marx dagegen fragt: ist die durch die Französische Revolution erreichte menschliche Emanzipation schon die ganze Emanzipation? Zunächst, im Vergleich zwischen Frankreich und Preußen, stellt Marx fest, Preussen befinde sich noch gar nicht auf dem historischen Stand Frankreichs, die Säkularisation habe gar nicht stattgefunden, die Unterdrückung der Juden in Deutschland bedeute ein Stück reales Mittelalter. Die politische Konsequenz daraus zieht Marx im nächsten, um die Jahreswende 1843/44 geschriebenen Aufsatz: "Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt. In Deutschland ist die Emanzipation von dem Mittelalter nur möglich als die Emanzipation von den teilweisen Überwindungen des Mittelalters. In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen."
(36) Marx unterstützt die Judenemanzipation, weil sie ein Teil der allgemein menschlichen Emanzipation ist; er kritisiert die isoliert gestellte "Judenfrage", weil er dies für den Versuch einer bloß teilweisen Abschaffung des Mittelalters hält, der mißlingen muß und wird.
In den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wird die "Judenfrage" überall dort diskutiert, wo sich die bürgerliche Gesellschaft noch nicht durchgesetzt hat und die bürgerliche Ökonomie noch von traditionellen Herrschaftsformen gefesselt wird. Die Bedeutung der Ökonomie bleibt verdeckt, das macht die Verzerrung der Perspektive aus: "Im christlich-germanischen Staat ist aber die Religion eine 'Wirtschaftssache', wie die 'Wirtschaftssache' Religion ist. Im christlich-germanischen Staat ist die Herrschaft der Religion die Religion der Herrschaft."
(37) Die Unkenntnis bürgerlicher Ökonomie läßt den Junghegelianer Bauer die spezifische Differenz zwischen einer vorbürgerlichen und der bürgerlichen Gesellschaft übersehen. Bauer bleibt fixiert an die politische Oberfläche, darin ähnelt seine Position der von Fichte, fünfzig Jahre vorher. Aus dem politischen Verständnis der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft bleibt alles Ökonomische ausgeblendet, daraus folgt, in der Zeit nach 1850, ein politischer Antisemitismus, wie er von Bruno Bauer und auch von Richard Wagner vertreten wurde. Bei Richard Wagner erscheint dieselbe Vorkehrung wie bei Fichte - nun aber auf dem Hintergrund der zurückgewiesenen Emanzipation: "Ganz unvermerkt ist der 'Gläubiger der Könige' zum König der Gläubigen geworden, und wir können um das Nachsuchen dieses Königs um Emanzipierung nicht anders als ungemein naiv finden, da wir uns vielmehr in die Notwendigkeit versetzt sehen, um Emanzipierung von den Juden zu kämpfen. Der Jude ist, nach dem gegenwärtigen Stande der Dinge dieser Welt wirklich bereits mehr als emanzipiert: er herrscht und wird so lange herrschen als das Geld die Macht bleibt, vor welcher all' unser Tun und Treiben seine Kraft verliert."(38)
Diese Sätze ähneln zwar dem Schluß der Marxschen Schrift "Zur Judenfrage", aber ein Unterschied sollte nicht übersehen werden. "Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden", heisst es beim jungen Marx, "ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum."
(39) In diesem pointierten Schlußsatz erscheint komplex zusammengezogen ein richtiger Grundgedanke, doch in verzerrter Form. In der vorbürgerlichen Gesellschaft bezeichnet "Judentum" weniger eine Religionszugehörigkeit als den Umstand, daß den Juden zu ihrer gesellschaftlichen Reproduktion nur Handel und Geldverkehr, also die Sphäre der Zirkulation offenstand. Die im Mittelalter randständige zirkulative Praxis wird aber in der modernen bürgerlichen Gesellschaft zum Zentrum aller gesellschaftlichen Beziehungen: In der "modernen", der bürgerlichen Gesellschaft regiert das Tauschprinzip alle gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse der Individuen. Was einst "jüdische" Domäne war, herrscht jetzt allgemein. Aber keineswegs herrschen, wie Richard Wagner nahelegt, "die Juden", in der bürgerlichen Gesellschaft herrscht ein unpersönliches ökonomisches Prinzip. Die Verzerrung beim jungen Marx kommt zustande, weil er 1842 die kapitalistische Gesellschaft noch nicht durchschaut. Er spricht von der Geldmacht und meint die Ökonomie; das Produktionsprinzip dieser Ökonomie erkennt erst der Autor des "Kapital". An zwei Stellen kommt Marx in seinem ökonomischen Hauptwerk auf die Stellung von Juden in vorkapitalistischer und kapitalistischer Produktionsweise zu sprechen - ein Wechsel der Gesellschaftsformation, von der schon der junge Marx wußte, daß er nicht ausschließlich jüdischer Tätigkeit zu verdanken war:
"Die Handelsvölker der Alten existierten wie die Götter des Epikur in den Intermundien der Welt, oder vielmehr wie die Juden in den Poren der polnischen Gesellschaft. Der Handel der ersten selbständigen, großartig entwickelten Handelsstädte und Handelsvölker beruht als reiner Zwischenhandel auf der Barbarei der produzierenden Völker, zwischen denen sie die Vermittler spielten."
(40)
Gesellschaftstheoretisch bedeutet "ökonomisch" wesentlich Bestimmteres als das, was Zeithistoriker unter "wirtschaftlich" subsumieren. Die Juden waren nicht das einzige Handelsvolk, aber durch die Geschichte sind sie zu dem einzig identifizierbaren Handelsvolk geworden, das vom europaeischen Mittelalter bis an die Schwelle der Emanzipationsepoche als identisches existiert. In der Entwicklung von der vorkapitalistischen zur kapitalistischen Gesellschaft geschieht etwas Entscheidendes: Die Ökonomie, ein rationales, über Sachen und sachliche Verhältnisse (Eigentum und Tausch) vermitteltes Machtverhältnis, erfaßt alle menschlichen Beziehungen. Gleichwohl lebt, im Denken und Fühlen der Zeitgenossen, die Vorstellung persönlicher Machtverhältnisse fort. Gerade weil die Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse sich nicht ohne Leiden durchsetzte und darum auch nicht widerstandslos hingenommen wurde, heftet sich der antiökonomische Affekt, wie seit dem Mittelalter Tradition und Vorurteil, an die Juden. Sie waren keineswegs die einzigen Vermittler von Handel und Geldverkehr, aber die Juden waren die einzige Gruppe, die sich identifizieren ließ. Darum konnten die Vorstellungen von der Rolle und der Macht des Geldes mit der Person des Juden, mit dem Charakter des jüdischen Volkes verschmelzen. Solche Vorstellungen überlebten selbst dann noch, als, wie beispielsweise in Frankreich oder England, die Juden schon recht früh, in der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert, vertrieben worden waren. England, bis zur Cromwellschen Revolution ohne Juden, gilt seitdem als das klassische Beispiel eines Landes, das Antisemitismus kennt, ohne Juden zu kennen. Dieses Phänomen verlangt eine genauere Untersuchung. Zunächst einmal bedeutet der säkulare Prozess der Ökonomisierung der menschlichen Beziehungen die Ersetzbarkeit eines Gegenstandes durch den anderen; sinnlich erscheint diese Fähigkeit im Tauschmittel, im Geld. Selbst der junge Marx war noch an das Tauschmittel fixiert. Das Geld nivelliert die naturwüchsigen Unterschiede und löst naturwüchsige Identität auf. An die Stelle persönlicher Macht tritt eine unpersönliche. Nur differenzierendes Denken vermag beide auseinanderzuhalten. In ihrem unmittelbaren Erleben, in ihrer Phantasie heften die Zeitgenossen, zumal sie selbst, wie bewußt auch immer, sich als Opfer eines übergreifenden Prozesses erfahren, unpersönliche Machtverhältnisse an Personen, die gesellschaftliche Prozesse verantworten sollen. Ökonomisierung ist ein Prozess der Entpersoenlichung. Mit dem Mittel der Personalisierung setzen die unter Entfremdung und Verdinglichung Leidenden wieder Personen an die Stelle versachlichter Prozesse. Einst waren die Juden identifizierbar als Tauschagenten. Obwohl die moderne bürgerliche Gesellschaft diese Funktion des Tausches verallgemeinert hat und jeder am Tauschverkehr teilhat, werden immer noch allein die Juden mit dem Tauschakt identifiziert, weil die versachlichten modernen Verhältnisse psychisch schwer zu ertragen sind. Die Juden waren schon im Mittelalter weder die einzigen Zirkulationsagenten, noch waren sie - wegen ihrer äußerlichen Beschränkung und ihrer Notsituation - die schlechtesten Geldverleiher. Ihre äußerliche Kennzeichnung aber diente gerade dazu, sie identifizierbar zu machen. Das abenteuerliche Schicksal der Hofjuden im 17. und 18. Jahrhundert, die in einer vorkapitalistischen Welt Modernität repräsentierten, bildet den Stoff für Massenphantasien, die in Antisemitismus umschlugen. Als Gläubiger der Herrscher erschienen die Juden als persönlich verantwortlich für das ökonomische Mißgeschick der Massen. Die Nationalsozialisten haben für ihren erfolgreichen Propagandafilm "Jud Süß" sehr geschickt einen Stoff aus dem 18. Jahrhundert gewählt, an dem sich alle antisemitischen Alltagsphantasien auch im 20. Jahrhundert noch entzünden konnten.
Was aber hat die vorkapitalistische Welt mit dem Antisemitismus der Gegenwart zu tun? In der vorkapitalistischen Welt erschienen die Juden als das personifizierte Unglück. Sie selbst waren gezwungen, ohne Heimat zerstreut im Ausland zu leben was früher auch sprachlich identisch war mit "im Elend" leben (Ausland = Elend). Die Begegnung mit Juden beschwor dunkle Gefahren. Man suchte sie meist nur in Not auf, die Unberechenbarkeit ökonomischer Verhältnisse konnte einen Verschuldeten sehr schnell ins Elend hinabstoßen, wenn er seine Schuld nicht zahlen konnte. Periodisch gab es aber Entlastungen vom herrschaftlichen Druck, wenn die Juden "geschlagen" wurden Pogrome hießen im altertümlichen Deutsch "Judenschlachten". Die Schulden, die aus dem ökonomischen Prozess resultierten, wurden auf barbarische Weise getilgt.
In der modernen Gesellschaft ist die vorherrschende Verkehrsform die Tauschbeziehung geworden: Sie erfordert Verzicht auf unmittelbare Gewalt. Um seine Bedürfnisse zu befriedigen, muß das Individuum am gesellschaftlichen Tauschverkehr teilnehmen. Der Tausch vermittelt zwischen Sachen, den Gegenständen der Begierde, und Personen. Im Warentausch steht der fremde Warenbesitzer B zwischen dem Warenbesitzer A und dem Gegenstand seiner Begierde, der Ware B. Im Mittel Geld, das die Tauschverhaeltnisse reguliert, versachlicht sich diese Beziehung. Der Tausch erfordert Abstraktion vom Bedürfnis solange, bis der Genuss eintreten kann. Die Volksweisheit: "Geld macht sinnlich" beinhaltet den begehrlichen Wunsch des Warenbesitzers auf fremde Ware, die er auch mit Gewalt nehmen würde. Das Tötungstabu und die schweren Sanktionen verhindern dies im Normalverlauf; in der Phantasie aber lebt die Erinnerung fort, daß es einmal möglich und nicht in jedem Fall verboten war, sich fremden Besitz gewaltsam und direkt anzueignen. Jeder Tauschakt bewegt diese komplexen psychischen Transaktionen. Der Warenbesitzer B wird von dem Warenbesitzer A als Fremder erlebt und umgekehrt. Äußerlich scheint ihre Begegnung ganz sachlich zu verlaufen, aber innerlich geschieht Entscheidendes: "Andererseits anerkennen wir den Tod für Fremde und Feinde und verhängen ihn ebenso bereitwillig und unbedenklich wie der Unmensch. Hier zeigt sich freilich ein Unterschied, den man in der Wirklichkeit für entscheidend erklären wird. Unser Unbewußtes führt die Tötung nicht aus, es denkt und wünscht sie bloß. Aber es wäre unrecht, diese psychische Realität im Vergleich zur faktischen so ganz zu unterschätzen. Sie ist bedeutsam und folgenschwer genug. Wir beseitigen in unseren unbewußten Regungen täglich und stündlich alle, die uns im Wege stehen, die uns beleidigt und geschädigt haben. Das 'Hol' ihn der Teufel', das sich so häufig in scherzendem Unterton über unsere Lippen drängt, in unserem Unbewußten ist es ein ernsthafter, kraftvoller Todeswunsch. Ja, unser Unbewußtes mordet selbst für Kleinigkeiten; wie die alte athenische Gesetzgebung des Drakon, kennt es für Verbrechen keine andere Strafe als den Tod, und dies mit einer gewissen Konsequenz, denn jede Schädigung unseres allmächtigen und selbstherrlichen Ichs ist im Grunde ein crimen laesae majestatis."
(41)
Genau dieses prekäre Kräfteverhältnis zwischen äußerer und psychischer Realität verschafft sich im antisemitischen Meinen Luft: Die Meinung wird zur Gewalttat; die Meinung veräußerlicht verinnerlichte Gewalt. Das Vorurteil bekommt auf diesem Hintergrund einen verbindlichen Sinn: "Man darf endlich annehmen, daß aller innere Zwang, der sich in der Entwicklung des Menschen geltend macht, ursprünglich, d.h. in der Menschheitsgeschichte, nur äußerer Zwang war."
(42) Im Tauschakt wird die materielle Welt angeeignet, ohne daß durchschaubar wird, wie und wo die Dinge, die zu Waren wurden, produziert werden. Im Tauschakt bildet sich aber die Meinung, das Modell primärer intellektueller Aneignung. Im Meinen wird etwas noch Subjektives als Wahrheit behauptet; die Meinung wird festgehalten gegen den weiteren Lauf der Dinge, der ohnedies nur schwer zu durchschauen ist. So verhärtet Meinung sich zum Vorurteil. Meinung wird zudem gebildet unter affektiver Beteiligung: "Töricht wäre, wer von dieser Neigung sich freispräche. Sie beruht auf Narzißmus, also darauf, daß die Menschen bis heute dazu gehalten sind, ein Maß ihrer Liebesfähigkeit nicht etwa geliebten Anderen zuzuwenden, sondern sich selber, auf eine verdrückte, uneingestandene und darum giftige Weise zu lieben. Was einer für eine Meinung hat, wird als sein Besitz zu einem Bestandstück seiner Person, und was die Meinung entkräftet, wird vom Unbewußten und Vorbewußten registriert, als werde ihm selber geschadet. Rechthaberei, der Hang der Menschen, törichte Meinungen selbst dann hartnäckig zu verteidigen, wenn ihre Falschheit rational einsichtig geworden ist, bezeugt die Verbreitung des Sachverhalts."(43)
In das Meinen sickert über die effektive Besetzung des Meinenden der geschichtliche Gehalt unreflektiert ein - und verdinglicht zum Vorurteil. Das Meinen scheint nur individuell, ist der Struktur nach aber konformistisch. Gerade indem er auf seiner Meinung beharrt, fühlt der einzelne sich von den anderen bestätigt, das ist gewissermassen der psychische Gewinn des Einzelnen, kommt seinem Selbstwertgefühl zugute. Man muß sich lösen von der Vorstellung, das antisemitische Meinen wären das Unnormale und aufgeklärte Rationalität das Normale - das Gegenteil ist der Fall. Aber kritische Selbstreflexion ist auf subjektiver Seite das einzige Gegengift gegen antisemitisches Meinen - Subjektivität, die sich in den Produktionsprozess objektiver Wahrheit versenkt. Die Einsicht in die Beschränktheit des sich allmächtig wähnenden Subjekts ruft Abwehr hervor. Die Hilflosigkeit rationaler Argumente gegen antisemitisches Meinen erfährt jeder, der gegen Vorurteile Wahrheit zu behaupten versucht. Antisemitisches Meinen ist gerade deswegen schwer zu erschüttern, weil es nicht allein auf subjektiv fehlerhaftem Denken beruht, sondern dem ohnmächtigen Individuum das Gefühl gibt, mit einer objektiven gesellschaftlichen Tendenz im Bunde, also: stark zu sein.
Das Meinen entzieht sich der Sache; mit jedem Meinen ist die Gefahr der Hypostase verbunden. "Die Grenze zwischen der gesunden und der pathogenen Meinung wird in praxi von der geltenden Autorität gezogen, nicht von sachlicher Einsicht."
(44) Autorität aber bedeutet verinnerlichte, vergangene Gewalt, der sich das Individuum unterworfen hat. Die Autorität in der tausendjährigen europäischen Geschichte verhielt sich zweideutig gegenüber den Juden: Die herrschende Autorität verurteilte die Juden, im Elend zu leben, gleichzeitig beschützte sie die Juden als willkommene Einnahmequelle. Die Emanzipation sollte die Juden aus dieser Zweideutigkeit befreien; dazu mußte aber der Staat selbst von der Herrschaft der Religion befreit und zu einem vernünftigen Staat werden. Bei Hegel finden wir, in Abgrenzung zu Fichte, deutliche Worte:
"So formelles Recht man etwa gegen die Juden in Ansehung selbst von bürgerlichen Rechten gehabt hätte, indem sie nicht bloß als eine besondere Religionspartei, sondern als einem fremden Volk angehörig ansehen sollten, so sehr hat das aus diesen und anderen Gesichtspunkten erhobene Geschrei übersehen, daß sie zuallererst Menschen sind und daß dies nicht nur eine flache abstrakte Qualität ist, sondern daß darin liegt, daß durch die zugestandenen bürgerlichen Rechte vielmehr das Selbstgefühl, als rechtliche Person in der bürgerlichen Gesellschaft zu gelten, und aus dieser unendlichen, von allem anderen freien Wurzel die verlangte Ausgleichung der Denkungsart und Gesinnung zustande kommt. Die den Juden vorgeworfene Trennung hätte sich vielmehr erhalten und wäre dem ausschließenden Staate mit Recht zur Schuld und Vorwurf geworden; denn er hätte damit sein Prinzip, die objektive Institution und deren Macht verkannt. Die Behauptung dieser Ausschließung, indem sie aufs höchste recht zu haben vermeinte, hat sich auch in der Erfahrung am törichtsten, die Handlungsart der Regierungen hingegen als das Weise und Würdige erwiesen."
(45)
Hegel spricht hier gegen die aufkommende, moderne antisemitische Literatur zu einem Zeitpunkt, als es das Wort Antisemitismus noch nicht gab. Das "Geschrei" ist nicht nur im übertragenen, sondern auch im Wortsinne zu verstehen. Während der Abfassung der Rechtsphilosophie erschütterten mehrere Ereignisse das Deutschland der beginnenden Restauration: das Wartburgfest 1817, auf dem unter anderen der Code Napoleon als Inbegriff der Fremdherrschaft verbrannt wurde; die HEP-HEP-Unruhen 1819, bei denen in den ehemaligen Ländern der Kontinentalsperre jüdische Läden gestürmt wurden; und die Ermordung Kotzebues, der keineswegs die finstere Gestalt war, als der er von den teutomanen Studenten hingestellt wurde. Aus Hegels Worten spricht der Geist der Emanzipation, den er schon in seinem ersten großen Werk, der "Phänomenologie des Geistes" 1806 in Gedanken faßte. Das für den Emanzipationszusammenhang entscheidende Kapitel heißt "Herrschaft und Knechtschaft". Hegel begreift die Arbeit des Knechtes als Möglichkeit von Emanzipation in einer agrarischen Gesellschaft; am Ende triumphiert die geistige Arbeit, die zum Denken sublimierte Arbeit des ehemaligen Knechtes.
Die wirkliche Geschichte hat allerdings die Gesellschaft nicht vernünftig werden lassen, wie es Hegels Vorstellung der Vernunftherrschaft entspricht. Hegels Philosophie entmachtet die Herrschaft der Religion und setzt an ihre Stelle die Herrschaft des Gesetzes; in den Juden sieht er das erste "Volk des Geistes", das aber auf eine elende gesellschaftliche Stellung herabgedrückt ist. Objektiv gesehen sind die vorbürgerlichen Juden weder Herren noch Knechte, sie sind die Vermittler. Ohne Vermittlung aber kann es kein dialektisches Denken geben: Auf die Beziehung kommt es an. Die Emanzipation aus den vorbürgerlichen Verhältnissen mißglückt: Auf die bürgerliche Gleichstellung folgt schon 1808 das Decret Infaeme, das die unveräußerlichen Rechte wieder aufhebt; auf Revolution und Reform folgt die Restauration, die auch alle Judenemanzipation wieder einschränkt. Das Ergebnis der grossen Epoche von Revolution und Napoleonischen Kriegen entspricht nicht der Wirklichkeit der Vernunft, sondern dem auf Herrschaft und Knechtschaft folgenden "ungluecklichen Bewußtsein" - das unglückliche, in sich entzweite Bewußtsein, das einer entzweigebrochenen Wirklichkeit entspricht. In der deutschen Literatur hat Heinrich Heine wie kein zweiter dieses unglückliche Bewußtsein artikuliert: "Wir haben nicht mehr die Kraft, einen Bart zu tragen, zu fasten, zu hassen und aus Haß zu dulden; das ist das Motiv unserer Reformation. Die einen, die durch Komödianten ihre Bildung und Aufklärung empfangen, wollen dem Judentum neue Kulissen geben, und der Souffleur soll ein weisses Bettchen tragen; sie wollen das Weltmeer in ein niedliches Bassin von Papiermache gießen und wollen dem Herkules auf der Kasseler Wilhelmshöhe das braune Jäckchen des kleinen Marcus anziehen. Andere wollen ein evangelisches Christentümchen unterjüdischer Firina und machen sich ein Talles aus der Wolle des Lamm Gottes und machen sich ein Wams aus den Federn der Heiligen-Geist-Taube und Unterhosen aus christlicher Liebe, und sie fallieren, und die Nachkommenschaft schreibt sich: Gott, Christus & Co. Zu allem Glück wird sich dieses Haus nicht lange halten, seine Tratten auf die Philosophie kommen mit Protest zurück, und es macht bankrott in Europa, wenn sich auch seine von Missionarien in Afrika und Asien gestifteten Kommissionshäuser einige Jahrhunderte länger halten. Dieser endliche Sturz des Christentums wird mir täglich einleuchtender. Lange genug hat sich diese faule Idee gehalten."
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Heines Ausbruch reagiert auf die Rücknahme der Emanzipationsgesetzgebung von 1812, die ihn und seinen Freund Eduard Gans zwangen, sich taufen zu lassen. Es ist völlig verkehrt, diese Taufen noch in religiösen Termini fassen zu wollen. Diese Generation ist schon ein Produkt der Emanzipationsepoche - als Bürger fühlen sie in religiösen Angelegenheiten indifferent. Sie erleiden die Konflikte des unglücklichen Bewusstseins in einer emanzipationsfeindlichen Gesellschaft, in der die bürgerliche Emanzipation zur Judenfrage sich verengt. Der Judenhass im christlichen Europa ließ keine Wahl: Taufe oder Tod. Traditionelle Juden behandelten einen abgefallenen Juden als tot. Der Getaufte war ein neuer Mensch, ein Fremder in einer manichäischen Welt. Die bürgerliche Gesellschaft schafft zum erstenmal die Möglichkeit, sich aus diesem Manichäismus zu befreien. Aufklärung, Kantische und Hegelsche Philosophie wie die Marxsche Theorie befördem diesen Vorgang der Befreiung vom vorbürgerlichen Manichäismus. Aber die Dialektik der Aufklärung fällt auch auf diese Autoren zurück, weil sie ein objektiver Vorgang ist. Man kann diese Dialektik bewußt machen; hierin besteht die einzige Chance, dem Antisemitismus nicht blind sich auszuliefern.
Der Antisemitismus ist in den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen verankert. Der ökononuesche Prozess verlangt Triebverzicht oder zumindest unlustvollen Triebaufschub von den gesellschaftlichen Individuen, den sie nicht unter Umgehung des Tötungstabus verkürzen dürfen. Die fremde Warenwelt erinnert vor jedem Tauschakt an diese unlustvolle Wirklichkeit. In der vorbürgerlichen europäischen Gesellschaft fand der Tausch nur am Rand des gesellschaftlichen Geschehens, nur in Ausnahmefällen statt, und wurde mit den Juden identifiziert, in der bürgerlichen Gesellschaft wird der Mensch durch Tauschakte vergesellschaftet, orientiert sich aber weiterhin an der Sozialisierung durch unmittelbare persönliche Beziehungen. Das subjektive Meinen entspricht der Unmittelbarkeit vorökonomischen Begehrens; der unpersönliche Tauschakt wird in persönliche Beziehungen rückübersetzt; als vermittelnde Instanz fungiert im falschen Bewußtsein nicht das Geld, sondern der Jude. Der marginale vorbürgerliche Judenhass wird in der bürgerlichen Gesellschaft an den zentralen ökonomischen Mechanismus gekoppelt: Die bürgerliche Gesellschaft wird zur antisemitischen Gesellschaft per excellence.
(47)
In der kapitalistischen Gesellschaft dominiert das abstrakt Allgemeine, das Kapital, der Wert. Der Warenfetischismus, das im Tauschakt entstehende verkehrte Bewußtsein, verhindert, daß die Menschen durchschauen, was der Wert eigentlich ist: ein an Dinge gebundenes, vermitteltes Verhältnis von Personen. Der Wert erscheint an den Dingen und ist doch nirgends zu greifen: "Die Wertgegenständlichkeit unterscheidet sich dadurch von der Wittib Hurtig, daß man nicht weiß, wo sie zu haben ist."
(48) Diese Unfassbarkeit des Wertes wird von den Warenbesitzem identifiziert mit den ehemaligen Tauschagenten, den Juden, die auch unfaßbar und überall sind. Die Arbeit wird dem Tauschakt unterworfen, und selbst bei einem geistigen Arbeiter wie Fichte kommt antisemitisches Ressentiment zum Vorschein, weil er die Durchsetzung der Herrschaft geistiger Arbeit in Form der Kapitalherrschaft nicht begreift. Der gebildete Antisemitismus hat hier seine Quelle: Er idealisiert die geistige Arbeit zur geld- und wertfreien Tätigkeit und haßt im "jüdischen Geist" die bürgerliche Wirklichkeit geistiger Arbeit, für welche die gleichen Markt- und Tauschgesetze gelten wie für die materielle Arbeit. Ebenso heftet sich das Ressentiment der Unterdrückten gegen die Herrschaft des Wertes an die Juden, das als Volk des Geistes gilt: "Sie sind irgendwie schlauer." Antisemitismus und Antiintellektualismus zehren vom selben Stoff.
Gegen viele Beschwichtigungsversuche und Relativierungen muß man betonen: Der Antisemitismus ist in der objektiven Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft begründet. Aber die gesellschaftlichen Individuen fassen die Gesellschaft nicht so auf, wie sie ist. Das antisemitische Meinen setzt die Gefühlswelt anstelle der in Abstraktion vom unmittelbaren Gefühl erarbeiteten Erkenntnis. Um zu tauschen und eine Meinung zu haben, muß man vielleicht schlau sein, aber wirklich nachdenken muß man nicht. Deswegen hat der moderne Antisemitismus diesen pseudodemokratischen Gestus des Mitreden- Wollens: "Man wird doch einmal sagen duerfen ... " Das antisemitische setzt an die Stelle disziplinierten Denkens die Willkür: "Da für wirkliches Dasein und Handeln jedoch entschieden werden muß, so tritt dasselbe ein wie bei der als das Absolute wissenden Subjektivität des Willens überhaupt, daß aus der subjektiven Vorstellung, d. i. dem Meinen und dem Belieben der Willkür entschieden wird."
(49) Gefühl und unkritische Positivität fallen aus einem Grund zusammen, den Hegel noch nicht durchschauen konnte. Die Kritik der politischen Ökonomie hat, gut dreißig Jahre nach Hegel, gezeigt, daß die büergerliche Gesellschaft keineswegs die Geschichte abschliesst. Dieser Schein konnte entstehen, weil, im Unterschied zu den vorbürgerlichen Gesellschaftsformationen, die bürgerliche die von Zeit und Raum scheinbar unbeschränkt warenproduzierende Gesellschaft ist. Dieser gesellschaftlich produzierten Geschichtslosigkeit, die in der Struktur des Wertes begründet ist, korreliert die Geschichtslosigkeit des psychischen Geschehens. Das Unbewußte entspricht der Struktur des Wertes in seiner Zeitlosigkeit, zugleich aber bewahrt es auf, was in der äußeren Realitaet vergeht: "Wir rühren hiermit an das allgemeine Problem der Erhaltung im Psychischen, das kaum noch Bearbeitung gefunden hat, aber so reizvoll und bedeutsam ist, daß wir ihm auch bei unzureichendem Anlass eine Weile Aufmerksamkeit schenken duerfen. Seitdem wir den Irrtum überwunden haben, daß das uns geläufige Vergessen eine Zerstörung der Gedächtnisspur, also eine Vernichtung bedeutet, neigen wir zu der entgegengesetzten Annahme, daß im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, daß alles irgendwie erhalten bleibt und unter geeigneten Umständen, z. B. durch eine so weit reichende Regression, wieder zum Vorschein gebracht werden kann."(50)
Durch diese Mööglichkeit des psychischen Apparates wird verständlich, warum Vorurteile die gesellschaftlichen Situationen überleben, in denen sie entstanden sind. Psychische Gesetze spielen in der unkritischen Aneignung der Realität, im Meinen, eine entscheidende Rolle. Erwähnt sei nur das in diesem Sachverhalt Wichtigste: die Ambivalenz. Die Ambivalenz lebt davon, daß es zwei Arten von Juden gibt: den Herren und den Elenden. Die alten Trennungen von Sephardim und Aschkenasim, von Portugieser Juden und Elsäßer Juden, von deutschen Juden und Ostjuden lassen sich mit den Netteln der Ambivalenz gut bearbeiten: In der Vorstellung der "zwei Arten von Juden" kämpft die antisemitische Vorstellung mit Widersprüchen, die auf diese Weise erträglich gestaltet werden. In der Untersuchung "Authoritarian Personality" hat ein weisser Boy- Scout-Fuehrer diese Unterscheidung zwischen weißen und nichtangepassten Juden zum Ausgangspunkt seiner "Lieblingstheorie" gemacht: "Nehmen Sie die Juden. Es gibt Gute und Schlechte in allen Rassen. Wir wissen das, und wir wissen, daß die Juden eine Religionsgemeinschaft sind und keine Rasse; aber die Schwierigkeit ist, daß es zwei Typen von Juden gibt. Da sind die weißen Juden und die Kikes. Meine Lieblingstheorie ist, dass die weißen Juden die Kikes ebensosehr hassen wie wir. Ich kannte sogar einen guten Juden, der einen Laden hatte und einige Kikes rauswarf, indem er erklärte, mit Kikes wolle er nichts zu tun haben."
(51)
Die Unterscheidung zweier Arten von Juden entlastet in Normalzeiten vom Schuldgefühl, das mit dem gewöhnlichen Antisemitismus einhergeht. Die antisemitische Propaganda versucht aus der Ambivalenz ihr Kapital zu schlagen: Der Agitierte kann sich zugleich als Herr und als Rebell gegen die Herrschaft fühlen. Ambivalenz aber ist auch wirksam in der Relation von Antisemitismus und Philosemitismus; beiden gemeinsam ist die unaufgeklärte affektive Beziehung zum Meinen. In Deutschland konnte das Umschlagen von Antisemitismus in Philosemitismus und umgekehrt mit den wechselnden Autoritätsverhältnissen in den letzten Jahrzehnten gut beobachtet werden. Die Grundstruktur bleibt die Korrelation von Antisemitismus und Gesellschaft; der erklärte "offizielle" Philosemitismus ist jederzeit kündbar. Als Lackmus können Auseinandersetzungen um kulturelle Phänomene gelten. Kultur gilt als positiver Wert in der spätkapitalistischen Gesellschaft; Protest gegen Antisemitismus, der sich in kulturellen Objektivationen niederschlägt, provoziert sofort antisemitisches Vorurteil. Ebenso wenn es um die "nationale Selbstachtung" oder Identität geht: Nationales Selbstgefühl gilt als natürlich; wird es gekränkt, schlägt der offiziell gepflegte Philosemitismus in Antisemitismus um. Falsch an beiden, Philo- und Antisemitismus, pflegt die vorgeordnete Rolle des Kollektive zu sein, die der Emanzipation des einzelnen zuwiderläuft: "Einen Menschen a priori, nicht als einzelnen, als Person, sondern generell und vornehmlich als Deutschen, Neger, Juden, Fremden oder Welschen zu behandeln, ohne daß man schon die Erfahrungen hätte, er ermangele eigenen Urteils und verdiene nicht, für sich selbst zu gelten, ist barbarisch."
(52)
Der Antisemitismus der Nazis musste vom modernen Antisemitismus abstrahieren, um zu der Tat zu gelangen, die mit dem Namen Auschwitz verbunden ist. Die fabrikmäßge Tötung von Millionen Juden gelang nur unter der Abstraktion von dem gefühlsgebundenen Agitationsantisemitismus. Von den antisemitischen Parteien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Berliner Sportpalast durchzieht den modernen Antisemitismus etwas Theatralisches, das Adorno auch an der faschistischen Agitation in den USA beobachtet hat: "So wenig die Menschen im Innersten wirklich glauben, dasßdie Juden Teufel sind, glauben sie ganz an den Führer. Sie identifizieren sich nicht mit ihm, sondern agieren diese Identifizierung, schauspielern ihre eigene Begeisterung und nehmen so an der "Show" ihres Fuehrers teil."
(53)
Die Praxis der Versammlungsrede widersprach schon den von Hitler früh geforderten veränderten Politikformen: Hitler forderte einen "Antisemitismus der Vernunft"
(54), der die begrenzte Gewaltform des Pogroms überwindet. Nur unter Abstraktion von Gefühlen läßt sich die mechanische Tötung von Millionen organisieren und durchführen. Sadistische Qual- und Folterszenen, mit der die Unterhaltungsindustrie das Geschehen in Auschwitz oft aufbereitet, hindern nur den sachlichen Ablauf des Mordens. Selbst die Massenerschießung erweist sich in der Praxis als zu aufwendig; die psychische Rückwirkung, die Demoralisierung der Erschießungspelotons wird gefürchtet. Die Nichtanerkennung des Feindes offenbart sich in der Tötungsart: Zyklon B - Unkrautvernichtung, wie die Propaganda es versprochen hat. Die Massenvernichtung von Menschen im Konzentrationslageruniversum läßt die Geschichte des Antisemitismus hinter sich. In der Aufhebung aller bisherigen Geschichte wollten die nationalsozialistischen Machthaber eine bleibende Tat begangen haben. Um diese unbegreifliche Vorstellungswelt überhaupt als real zu zeigen, muß man Zeugen und Täter selbst sprechen lassen. Der Eichmann verhöerende Offizier Avner Less berichtet von einem SS-Zeugen, der Eichmanns letzte offizielle Worte zu Protokoll gab, und hält sie Eichman im Verhör vor: "Eichmann" - so hat der Zeuge Wisliceny erzählt - "drückte das in einer besonders zynischen Weise aus, er sagte, er würde lachend in die Grube springen, denn das Gefühl, daß er fünf Millionen Menschen auf dem Gewissen habe, wäre für ihn ausserordentlich befriedigend." Eichmann regt sich im Verhör auf: "Das ist ... Theater, Theater! ... Das ist die letzte Ansprache gewesen, die ich an meine Leute hielt, wie ich schon gesagt habe. Was ich da gesagt habe, das muß nicht wörtlich stimmen, aber sinngemäß stimmt's ganz genau. Denn das ist meine... meine... das ist meine, mein Resuemee gewesen damals in der... in der... wie soll ich sagen Weltuntergangsstimmung, in der ich lebte - die dann einige Tage einen Schock in mir - ah - also nicht einen, einen Nervenschock, sondern einen ... einen moralischen Schock hervorrief: Das Reich ist kaputt, es hat alles nichts genutzt, es ist alles, es ist alles umsonst, umsonst der ganze Krieg. Das habe ich da gesagt, was da angegeben ist. Aber das ist Theater!"(55) Aus Eichmanns Worten spricht die Verharmlosung des Geschehens: Eigentlich soll alles nur ein 'Theater gewesen sein - wie vorher im Sportpalast, als man noch sagen konnte, man habe sich verführen lassen. Der Antisemitismus ist nicht trotz Auschwitz wiedergekehrt, sondern der Antisemitismus nach Auschwitz hat Auschwitz in sein System der Abwehr von Schuld aufgenommen. Auf der einen Seite gibt es die brutale Verleugnung der Existenz von Auschwitz. Diese Behauptung hat nur eine Funktion: Man will am Status quo ante des Antisemitismus anknüpfen können. Auf der anderen Seite läßt sich die Nivellierung von Auschwitz, der Vorgeschichte und der Nachgeschichte beobachten. Es wird oft (pseudopsychoanalytisch) von Verdrängung gesprochen, aber in beiden Fällen ist Verleugnung am Werk: Die Geschichte, also reale Taten in der Außenwelt, nicht in der Phantasie, soll nicht so wahrgenommen werden wie sie wahrgenommen werden müßte. Jedes Aufkommen von Schuldgefühl soll verhindert werden. Die Verleugnung soll schützen vor einem Wirrwarr der Gefühle, die mit intellektueller Anstrengung bearbeitet werden müßten.
Im Reden über Antisemitismus nach Auschwitz ziehen die meisten Gesprächspartner die Ebene der Gefühle vor; denn allein auf der Gefühlsebene läßt sich das psychische Meisterstück leisten, das von Schuld entlasten soll: die sinnliche Gewißheit, daß auch das Opfer schuldig ist. Denn psychische Schuld rechnet sich nach dem Gleich für Gleich des Blutracheschemas. Nur die Wahrnehmung der ganzen Geschichte vom traditionellen Judenhass in der vorbürgerlichen Welt bis zum modernen Antisemitismus, von Auschwitz und der Gleichmacherei von Täter und Opfer nach Auschwitz, ermöglicht eine klare Sicht auf mögliche Schuld. "Man darf vielleicht sagen, daß eigentlich nur der von neurotischem Schuldgefühl frei ist und fähig, den ganzen Komplex zu überwinden, der sich selbst als schuldig erfährt, auch an dem, woran er im handgreiflichen Sinne nicht schuldig ist-"
(56)
Anmerkungen

1) Vgl. Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung, Frankfurt 1987.
2) Max Horkheimer, Theodor W Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 235. Mit diesem Satz beginnt die Nachschrift von 1947 zu den 1944 geschriebenen "Elementen des Antisemitismus".
3) Max Horkheimer, Theodor W Adorno, Vorwort, Sommer 1959, zu Paul W Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1959,S.VI f., der deutschen Ausgabe des 1949 in der Reihe "Studies in Prejudice" erschienenen Rehearsal for Destruction.
4) Zitiert nach Simon Dubnow, Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes 1789-1914, Berlin 1920, Bd. 1, S. 70.
5) F.W.v. Schütz, Niedersaechsischer Merkur, Altona 1792, zitiert in: Bernhard Wilms, Johann Gottlieb Fichte - Schriften zur Revolution, Frankfurt Berlin -Wien 1973, S. 299.
6) J.G.Fichte, Schriften zur Revolution, a. a. 0., S. 175.
7) Ebd., S. 176.
8) Ebd. An Fichtes persönlichem Verhalten ist auch später kein Tadel zu üben. Aufschlußreich verhält er sich in der Affäre Brogi, 1812, als ein handfest beleidigter jüdischer Student aus armen Verhältnissen den Beleidiger verklagt, statt sich zu duellieren. Das widersprach ganz dem studentischen Kodex, den Schleiermacher noch rechtfertigte. Fichte verhält sich in diesem Konflikt gar nicht deutschtümelnd, sondern zivilisatorisch: Gesetz gegen Gewohnheit. Vgl. Wilhelm G. Jacobs, Johann Gottlieb Fichte, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 122f.
9) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankturt 1966, S. 353
10) Ebd., S. 355.
11) Fichte, a. a. 0., S. 176.
12) G. W F Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hegels Werke (HW), Bd. 7, S. 19, 18.
13) Von Poliakovs instruktive Geschichte des Antisemitismus, Worms 1977ff., erweist sich als brauchbar, soweit es um die Vorgeschichte und den traditionellen Judenhass geht. Bd. V, Die Aufklärung und ihre judenfeindliche Tendenz, kann das Neue nicht erkennen, weil es nur das Alte im Neuen sucht. So wird z. B. die Philosophie des deutschen Idealismus in toto als antisemitisch beurteilt, weil die Philosophen Protestanten und Luther ein Antisemit war.
14) Max Horkheimer Theodor W. Adorno, Vorwort zu P.Massing...,S.VII.
15) Heinrich Heine, Aphorismen und Fragmente, Werke und Briefe, Bd. 7 (HW), Berlin und Weimar 1980, S. 412.
16) Ausgesprochen instruktiv lesen sich die Vorträge von Walter Schmitthenner "Kennt die hellenistisch-römische Antike eine "Judenfrage"?" und ""Adversus Judäos" in der Alten Kirche" von Karl Suso Frank in der von Bernd Martin und Ernst Schulin herausgegebenen Vorlesungesreihe Die Juden als Minderheit in der Geschichte, Muenchen 1981.
17) Alex Bein bringt sein Thema unter den Oberbegriff "Die Judenfrage, Biographie eines Weltproblems", 2 Bde., Stuttgart 1980, der im säkularisierten Sinne von einer dreitausendjährigen Einheit der jüdischen Nation ausgeht. "Judenfrage" als Begriff faßt schwammig Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Judenemanzipation - eine ebenso vage Formulierung wie die gleichzeitig im Vormärz gestellte "Soziale Frage". In der Formulierung "Judenfrage" deutet sich schon eine Verschiebung der Emanzipationsforderung an - aufgegriffen wird die "Judenfrage" gegen die Emanzipationsgesetzgebung in ganz Deutschland in den 70er Jahren des Zweiten Reiches. Die "Judenfrage" wird von der zionistischen Literatur zum Ausgangspunkt der zionistischen Lösungsvorschläge gemacht. In dieser Tradition versteht sich Alex Bein.
18)Bernd Martin und Ernst Schulin wählten den Oberbegriff "Minderheit" für ihre Vorlesungsreihe, die nicht nur den Antisemitismus zum Gegenstand hat, sondern auch jüdische Geschichte. Ein Reclamband von Hans-Gert Oomen und Hans-Dieter Schnüd versteckt eine Materialauswahl über die "Anfänge des modernen Antisemitismus am Beispiel Deutschlands" unter dem Titel Vorurteile gegen Minderheiten (Stuttgart 1978). Die pädagogisierte Bearbeitung des Themas steht immer in Gefahr, das Spezifische des Antisemitismus in leere Allgemeinheiten aufzulösen. Was ist nicht alles ein Vorurteil, was nicht alles eine Minderheit? Diese Formulierungen kommen dem Alltagsbedürfnis entgegen, das Grauen, das mit Antisemitismus assoziiert wird, zu nivellieren. Der Wunsch nach Beliebigkeit drückt sich in der allzu häufigen Formulierung xy sind die Juden von heute" - man setzt ein, was gerade gefällt - Türken, Asylanten etc.
19) Karl Marx, Friedrich Engels, Die heilige Familie, 1845, MEW 2, S. 93.
20) Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. 0., S. 208.
21) Franticek Graus, "Judenpogrome im 14. Jahrhundert: Der schwarze Tod", in: Martin, Schulin, Die Juden . . ., a. a. 0.,S. 72.
22)Zitiert nach: Hans Wollschläger, Die bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem, Geschichte der Kreuzzuege, Zuerich 1973, S. 20.
23) Heinrich Heine, Aphorismen und Fragmente, HW 7, S. 374.
24) Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Gesammelte Werke (GW), Bd. XVI, London 1950, S. 198.
25) Ebd., S. 243 "Gleichzeitige Anwesenheit einander entgegengesetzter Strebungen, Haltungen und Gefühle, z. B. Liebe und Hass, in der Beziehung zu ein- und demselben Objekt". (J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt 1972, Bd. 1, S. 55).
26) Leon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Bd. 1, Von der Antike bis zu den Kreuzzuegen, Worms 1977, S. 32.
27) Theodor W Adorno, Minima moralia, 1945, Frankfurt 1951, S.141.
28) Dieter Mertens, "Christen und Juden zur Zeit des ersten Kreuzzuges", in: Schulin/Martin, Die Juden . . ., a. a. 0., S.61 f.
29) Im 36. Kapitel "Vorkapitalistisches" macht Marx sich Gedanken über diesen historischen Abschnitt. Stichwort Wucher: "Im Mittelalter herrschte in keinem Lande ein allgemeiner Zinsfuß. Die Kirche verbot Zinsgeschäfte von vornherein. Gesetze und Gerichte sicherten Anleihen nur wenig. Desto höher war der Zinssatz in einzelnen Fällen. Der geringe Geldumlauf, die Notwendigkeit, die meisten Zahlungen bar zu leisten, zwangen zu Geldaufnahmen, und um so mehr, je weniger das Wechselgeschäft noch ausgebildet war. Es herrschte große Verschiedenheit sowohl des Zinsfusses wie der Begriffe vom Wucher. Zu Karls des Grossen Zeit galt es fuer wucherisch, wenn jemand 100% nahm. Zu Lindau am Bodensee nahmen 1344 einheimische Buerger 216%. In Zuerich bestimmte der Rat 43« % als gesetzlichen Zins. In Italien mußten zuweilen 40 % gezahlt werden, obgleich vom 12.-14. Jahrhundert der gewöhnliche Satz 20% nicht überschritt. Verona ordnete 12«% als gesetzlichen Zins an. Kaiser Friedr. 1. setzte 10% fest, aber nur für Juden. Fuer die Christen mochte er nicht sprechen. 10% war schon im 13. Jahrhundert im rheinischen Deutschland das gewöhnliche." (MEW 25, S. 611) Das Zinsverbot brachte den jüdischen Zins unter Kontrolle der Herrschaft und zwang vor allem die Kreuzzügler, ihren Besitz der sog. "toten Hand" zu übergeben. Juden waren selbstverständlich von diesem heiligen Geschaeft ausgeschlossen. Kam der Kreuzzügler nicht wieder und/oder konnte seinen Besitz nicht auslösen, fiel er an die Kirche. Marx zitiert J. G. Büscher "Theokratisch-praktische Darstellung der Handlung etc.": "Ohne das Verbot der Zinsen würden die Kirchen und die Klöster nimmermehr so reich haben werden können." (MEW 25, S. 626).
30) Wanda Kampmann, Deutsche und Juden, Frankfurt 1979, S. 21. Unter die Kategorie der besonders Schutzbeduerftigen fallen neben den Juden Geistliche und Frauen.
31) Mertens, Christen und Juden. . ., a. a. 0., S. 64.
32) Herbert A. Strauss, "Juden und Judenfeindschaft in der fruehen Neuzeit", in: Herbert A. Strauss, Norbert Kampe (Hg.), Antisemitismus, Von der Judenfeindschaft zum Holocaust, Frankfurt 1985, S. 70.
33) Leon Poliakov, Religiöse und soziale Toleranz unter dem Islam. Geschichte des Antisemitismus Bd. 3, a. a. 0., S. 143.
34) "In den staatlichen Urkunden wurden die neuen Christen als die Nation gefuehrt, als ein gesonderter Teil der Bevoelkerung. Das wollten sie so und waren stolz darauf. Sie hatten die ummauerten Juderias verlassen und wohnten nun in anderen Quartieren der Stadt, dicht beieinander, Haus an Haus. Die Reichen unter ihnen waren jetzt mit dem hohen Adel versippt und selbst zu Rattern geschlagen. Der große Haufen blieb geruhig, was er auch im Ghetto gewesen war: Portugals Mittelstand. Die jüngeren Soehne jedoch suchten die grosse Karriere in dem weiten Feld, das den Juden versperrt war, den neuen Christen jedoch, den Vollbürgern, weit offenstand. Sie wurden Offiziere, Richter, Bürgermeister, sie sicherten sich ihr Teil an den fetten geistlichen Pfründen." (Fritz Heymann, Der Chevalier von Geldern. Geschichten jüdischer Abenteurer, Königstein 1985, S. 27).
35) Reinhard Ruerup, Emanzipation und Antisemitismus, Göttingen 1975, S. 74.
36) Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung 1844, MEW 1, S. 391.
37) Karl Marx, Zur Judenfrage, 1843, MEW Bd. 1, S. 359.
38) Richard Wagner, "Das Judentum in der Musik", 1850, in: Richard Wagner, Mein Denken, hg. von Martin Gregor-Delhn, München 1982, S. 174. Bruno Bauers Artikel "Das Judenthum in der Fremde" erschien 1863 als Separatdruck, gut zwanzig Jahre nach der "Judenfrage", als Bauer längst ins konservative Lager zurückgekehrt war. Vgl. Hermann Greive, Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland, Darmstadt 1983, S. 91 f.
39) MEW 1, S. 377.
40) Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, S. 342. Beim jungen Marx heißt es: "Der Jude hat sich auf jüdische Weise emanzipiert, nicht nur, indem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern indem durch ihn und ohne ihn das Geld zur Weltmacht und der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden ist." (MEW 1, S. 373. Erste Hervorhebung von mir, D. C., zweite von Marx).
41) Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 1915, GW X, S. 351.
42) A. a. 0., S. 333 "Im antisemitischen Meinen wird ständig legitime Gewalt in der psychischen Realitaet ausgeuebt. Das waren ja nur Worte, "persoenliche" Meinung. Hypostasierte Meinung - wissen wir - ersetzt die Gewalttat oder ist ein Versprechen auf sie." (Detlev Claussen, "Ueber Psychoanalyse und Antisemitismus", in: Psyche 1, 41. Jahrgang, Stuttgart, Januar 1987, S. 16.)
43) Theodor W Adorno, "Meinung Wahn Gesellschaft", 1961, in: Eingriffe, Frankfurt 1963, S. 150.
44) A. a. 0., S. 153.
45) Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, 270, HW 7, S. 421. "Der gegen Hegel stets erhobene Vorwurf, er habe den preußischen Staat vergottet, pflegt zu übersehen, daß zu jener Zeit in Deutschland Preussen recht fortgeschrittene Institutionen besaß, und daß es dem Philosophen mehr als um Preußen um die Einrichtung der Freiheit ging." (Max Horkheimer, "Nachwort zu Porträts deutsch-jüdischer Geistesgeschichte", 1961, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt 1985, S. 181.)
46) Heine, Brief an Imanuel Wohlwill 1. 4. 1823, in: HW 8, S. 64f. Hans Mayer hat die Literatur der Emanzipationsepoche unter der Kategorie Das unglueckliche Bewusstsein (Frankfurt 1986) interpretiert.
47) "Dass Emanzipation und Liberalismus nicht gelangen, dass sie nicht verwirklichten, was einmal die Aufklärung und die Revolution an Hoffnungen auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit aufbrechen lassen, dafür, und nicht für eine partielle Schwierigkeit im Verhaeltnis einer bestimmten Gruppe zur Gesamtgesellschaft, ist der Antisemitismus ein Index. Antisemitische Gesellschaft, d. h. eine Gesellschaft, in der die zahlenmässig größten Schichten des Volkes ihr unerhelltes Unbehagen, ja ihre Wut und Verzweiflung in Hass gegen eine schwache, an den Ursachen des Unbehagens durchaus unschuldige Minderheit umsetzen, entsteht im ausgeprägten Sinne erst mit bürgerlicher Revolution, Liberalismus und industrieller Wirtschaft." (Margherita v. Brentano, "Die Endloesung - Ihre Funktion in Theorie und Praxis des Faschismus", in: H. Huss, A. Schroeder [Hg.1, Antisemitismus, Frankfurt 1965, S. 56.)
48) Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 62.
49) Hegel, Grundlinien. . ., HW 7, S. 419.
50) Sigrnund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1929, in: GW XIV, S. 426.
51) Zitiert nach Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M. 1973, S. 131.
52) Max Horkheimer, "Nachwort ... ", a. a. 0., S. 191 f. "Es ist mir fast nicht weniger verdaechtig, wenn einer sagt, daß er "Die Juden", schlechthin liebt, als wenn er ihnen etwas Falsches vorwirft - " (S. 192)
53) Theodor W. Adorno, "Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda", in: Helmut Dahmer (Hg.), Analytische Sozialpsychologie, Bd. 1, Frankfurt 1980, S. 340.
54) Adolf Hitler, Brief an Adolf Gemlich, 16. 9. 1919, in: Sämtliche Aufzeichnungen, hg. v. E. Jäckel, S. 89: "Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Progromen. Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muß führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der Juden, die er zum Unterschied der anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt (Fremdengesetzgebung). Sein letztes Ziel aber muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein." Wie viele Nazis kennt Hitler nicht einmal den Namen der traditionellen antisemitischen Gewalttat: Pogrom.
55) Jochen v. Lang (Hg.), Das Eichmann-Protokoll, Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre, Berlin 1982, S. 150.
56) 1950 hat Theodor W Adorno dies in einer erschütternden Studie über "Schuld und Abwehr" (Gesammelte Schriften 9,2, Frankfurt 1975, S. 320) resümiert. Das heutige Gerede vom "Man muß doch endlich vergessen können" war schon damals gang und gäbe (Vgl. Detlev Claussen, "Auschwitz erinnern", in: Neue Rundschau, Heft 3/4, 96. Jg., Frankfurt 1985, S. 205), Jean Paul Sartre ("Betrachtungen zur Judenfrage", Oktober 1944, in: Drei Essays, Frankfurt - Berlin - Wien 1975, S. 181) hat sich am Abend der Befreiung Gedanken über Schuld auch derer gemacht, die gegen die Nazis gekämpft haben: "Keiner von uns ist unter diesen Umständen unschuldig, wir sind Verbrecher, und das Blut, das die Nazis vergessen haben, kommt auf unser Haupt." Das gilt auch für die Nachgeborenen.


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Most recent revision: April 07, 1998

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