Klaus Kriener
Sprache - Rasse - Volk: Aspekte des deutschen nationalen Diskurses


Es ist gegenwärtig modisch, über die Nation oder das Nationale zu verhandeln. Die Rede über die Nation hat Einzug in die Feuilletons gefunden, sie scheint dort mittlerweile der top act geworden zu sein. Zugleich ist das Nationale in all seiner Undeutlichkeit zum Maßstab geworden für parteiinterne Revisionen und medienwirksam inszenierte Bekenntnisse. Von den oft erwähnten und geringgeschätzten Stammtischen brauchen wir wohl nicht zu reden: sicherlich wird auch hier gelegentlich über die Nation und anderes gesprochen. Und vom akademischen Feld? Vom akademischen Feld müssen wir ebenfalls in diesem Zusammenhang sprechen, denn auch hier ist der Wiedereinzug der Rede über die Nation zu beobachten.
Bernhard Giesen hat in einer Einleitung seiner Studienausgabe zur vergleichenden Nationenforschung 1991 dazu folgendes niedergeschrieben: "Das nationale Thema war gerade in Mitteleuropa seit langem schon aus der anspruchsvollen Theoriediskussion ausgewandert und konnte sich auch in den Debatten der politischen Öffentlichkeit nur mehr mühsam behaupten. Neue Formen kollektiver Identifikation - Gesellschaft und soziale Bewegung - hatten seine Stelle eingenommen und die Reflexion der Intellektuellen angeregt. Inzwischen bemühen wir uns wieder ein wenig atemlos um ein Thema, dem der Wind der historischen Überraschung den Staub weggeblasen hat und das sich keineswegs mehr an den Rand der modernen Welt schieben läßt. Gerade das Unerwartete dieser Renaissance fordert jedoch auch den Blick auf die Vergangenheit heraus, in der sich die Nationen als kollektive Identitäten ausbildeten und diese nationale Identität zum Thema und Hintergrund literarischer Reflexion aufstieg." (Giesen 1991, S. 9)
Was heißt das? Zum einen beobachtet Giesen eine Wiederkehr der nationalen Thematik nicht nur in den "Debatten der politischen Öffentlichkeit", sondern auch in "anspruchsvollen Theoriediskussionen". Zum anderen sei das Thema nicht mehr schmutzig oder staubig. Vielmehr sei die nationale Thematik von den staubigen Rändern der modernen Welt verschwunden. Und dies schließlich erfordere, so Giesen, einen "Blick auf die Vergangenheit", der in der geschichtlichen Zeitfolge die je nationalen Identitätsmuster aufsucht. Nun, ob man diese Einschätzung Giesens teilt oder nicht - zumeist ist der Einstieg ins wissenschaftliche Thema Nation ähnlich. Die von vielen, die sich wissenschaftlich mit dem Begriff der Nation befassen, als klassisch angesehene Ausgangsfrage lautet: Was ist eine Nation? Ernest Renan, ein französischer Historiker, hat in einem Vortrag von 1882 versucht, diese Frage zu beantworten. Er kam dabei zu folgender Bestimmung der Nation:
"Eine Nation ist also eine große Gemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem faßt sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist ein tägliches Plebiszit, wie das Dasein des einzelnen eine andauernde Behauptung des Lebens ist."(Renan 1947, S. 904)

Nun, Renan hebt mit dieser Passage den subjektiven Faktor bei der Konstituierung einer Nation hervor; d. h., er betont die je subjektive Entscheidung der Staatsbürger, eine Nation sein zu wollen. Andere mögliche Komponenten - etwa die Zugehörigkeit zur Nation aufgrund einer gemeinsamen Sprache oder 'Rasse' - werden von ihm in seinem Vortrag ausführlich dargelegt, aber als zweitrangig angesehen. Auf der anderen Seite gibt es auf die Frage, was eine Nation sei, auch Antworten, die auf die objektiven, d. h. gegebenen (gesellschaftlichen) Bedingungen abheben. Vielzitiert ist die Definition Johann Gottfried Herders:
"der natürlichste Staat ist also auch Ein Volk, mit Einem Nationalcharakter. Jahrtausende lang erhält sich dieser in ihm und kann, wenn seinem mitgebornen Fürsten daran liegt, am natürlichsten ausgebildet werden: denn ein Volk ist sowohl eine Pflanze der Natur, als eine Familie; nur jenes mit mehreren Zweigen." (Herder 1989, S. 369)

Aufschlußreich ist an dieser Definition zweierlei: Zum einen betrachtet Herder den Nationalcharakter, den er auch "Volks-" oder "Nationalgeist" nennt, als etwas Vorgegebenes. Ja, er setzt ihn sogar mit einer Pflanze der Natur gleich. Herder naturalisiert den Begriff der Nation damit. Zum anderen hebt er hervor, daß Nationen Resultat einer langen gemeinsamen Geschichte sind. Sie sind von daher immer mehr als die gegenwärtig in ihr lebende Staatsbürgerschaft.
Versuche der Bestimmung objektiver Faktoren, die ausschlaggebend sind für die Konstituierung einer Nation und für den jeweiligen Modus der nationalen Zugehörigkeit, sind häufig angestellt worden, indem einzelne Merkmale wie Sprache oder ethnische Zugehörigkeit als in letzter Instanz ausschlaggebend angesetzt wurden. Dabei wurden auch Kombinationen von Merkmalen wie Sprache, gemeinsames Territorium, gemeinsame Geschichte, Mentalität als substantielle Größen deklariert, die als objektive Faktoren Nationen schaffen. Eine bekannte Definition dieser Art stammt aus dem Jahre 1912. Sie lautet:
"Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart."(1)

Nun, all diese Versuche, einen Faktor zu finden, von dem aus sich die Nationenbildung erschließt, sei dieser Faktor ein sogenannter subjektiver oder objektiver Faktor, all diese Versuche sind m. E. Bemühungen, historisch relativ neuartige und sich verändernde Erscheinungen zu verallgemeinern, sie in einen auf Dauer und Universalität gerichteten Bezugsrahmen einzupassen. Die wissenschaftliche Neigung, ein letztes Kriterium zu finden, von dem sich dann eine Definition einer spezifisch deutschen, französischen usw. nationalen Identität ableitet, liegt m. E. schon in der klassischen Fragestellung zum Begriff der Nation begründet. Die Frage, was eine Nation sei, legt implizit nahe, daß versucht wird, eben diesen einen Faktor auszumachen. Die Existenz dessen, was erklärt werden soll, wird durch die Fragestellung schon nahegelegt.
Mir scheint es jedoch sinnvoller zu sein, zu fragen: Was ist ein nationaler Diskurs, bzw. wie sieht der deutsche nationale Diskurs aus? Dies hat folgende Vorteile. Einerseits wird deutlicher, daß die Rede über die Nation immer zugleich auch ein Resultat eines Deutungskampfes ist, eines Deutungskampfes um die legitime Auslegung dessen, was deutsche Nationalität sei. Es treten damit andererseits die Aspekte und spezifischen Fragestellungen selbst in den Vordergrund, die diesem Deutungskampf seine Form geben.
Etienne Balibar hat in einem Aufsatz zur Entstehung der Nation-Form davon gesprochen, daß keine Nation von Natur aus eine ethnische Basis habe. Aber in dem Maße, wie eine Gesellschaftsform einen nationalen Charakter bekomme, werde die Bevölkerung "ethnizisiert". D. h., die Bevölkerungen "werden für die Vergangenheit und Zukunft so dargestellt, als würden sie eine natürliche Gemeinschaft bilden, die per se eine herkunftsmäßige, kulturelle und interessenmäßige Identität hat, welche die Menschen und die gesellschaftlichen Bedingungen transzendiert." (Balibar 1992, S. 118) Diese Aufgabe übernimmt der nationale Diskurs; er muß einen Modus der 'Zugehörigkeit' benennen und ihn zugleich als allgemein legitimiert verkünden. Ethnizität wird also geschaffen, und zwar im wesentlichen mittels sprachlicher Benennung. Nun, um diese Ethnizität zu schaffen, um sie als natürlich erscheinen zu lassen, gibt es verschiedene Wege. Die wichtigsten Wege waren: die Sprache und die 'Rasse'. In beiden Fällen wurde die Nation diskursiv dadurch geschaffen, daß ihr ein natürlicher Ursprung unterschoben wurde. Entweder ein rassisch begründeter oder ein sprachlicher. Wie eng die Wege beieinander liegen, sollen die folgenden Betrachtungen des nationalen deutschen Diskurses aufzeigen.

Die deutsche Sprache
Der deutsche nationale Diskurs hat sich, anders beispielsweise als in Frankreich, in der Auseinandersetzung mit einem äußeren Feind, d. h. im Kampf gegen Napoleon, entwickelt. Die spezifische Ausformung dieses nationalen Diskurses wurde gerade zur Zeit der sogenannten 'Befreiungskriege' bestimmt durch Nationalerziehungspläne, die ein wesentliches Gewicht auf die Unterrichtung der deutschen Sprache legten.
Geschichtlich betrachtet, gab es die Vorstellung von der Besonderheit der deutschen Sprache schon viel früher. Dabei lassen sich unterschiedliche Weisen erkennen, wie der deutschen Sprache eine Sonderstellung zugesprochen wurde. Schon im zwölften Jahrhundert lassen sich Dokumente finden, die der 'teutonischen Sprache' eine Einzigartigkeit zuschrieben, welche den vom Lateinischen kommenden Sprachen abgesprochen wurde. Das Hauptargument für die Einzigartigkeit war einfach und religiös gewendet: Adam und Eva hätten deutsch gesprochen, und zwar weil das Deutsche im Gegensatz zu den weitverbreiteten und -verzweigten romanischen Sprachen eine einheitliche Sprache sei, und deshalb sei die deutsche Sprache die Ursprache des Menschengeschlechts - so sah es jedenfalls eine Schülerin von Hildegard von Bingen. (Vgl. Poliakov 1993, S. 96)
Deutlich wird an dieser Argumentation, daß versucht wird, die Sprache zu verzeitlichen, d. h., mehr noch, ihr eine Genealogie zuzusprechen, mit der dann ihr Ursprung und ihre Abstammung geheiligt wird. Die Vorstellung von der Besonderheit der deutschen Sprache bleibt auch in den folgenden Jahrhunderten bestehen. Der religiöse Hintergrund tritt zwar zurück, dennoch bleibt die Betonung der Ursprünglichkeit bestehen, und sie fällt oftmals zusammen mit einer Geringschätzung anderer Sprachen.
"Sollt unser Sprach minder sein?" so befragte sich im 16. Jahrhundert der elsässische Arzt Lorenz Fries. "Nein, ja wohl viel mehr, ursach daß sie ein ursprünglich Sprach ist, nit zusammengebettlet wie die französische, von Griechisch und Lateinisch, den Hunnen und Goten."(2)

Im 18. Jahrhundert scheint nun die Ineinssetzung von Sprache und Nation weitgehend akzeptiert worden zu sein.
"Ab 1807 wurde das 'heilige Band der Sprache' zur integrierten Komponente einer politischen Bildung, die Fichte vom Lehrstuhl des Philosophen, Kleist von der Bühne, Schleiermacher von der Kanzel des Predigers, Arndt durch die Essayistik sowie Stägemann und Körner in ihren Kriegsliedern verkündeten."(3)

Doch schauen wir genauer hin! Wie wird der Zusammenhang von Sprache und Nation hergestellt? Im Grunde ist das Gedankenmodell recht einfach. Wilhelm von Humboldt beispielsweise ging bei seinen sprachtheoretischen Überlegungen davon aus, daß die Sprache die Wahrnehmungsweise einer Nation sei. Als zur damaligen Zeit allgemein anerkannt sah er die Vorstellung an,
"dass die verschiedenen Sprachen Organe der eigenthümlichen Denk- und Empfindungsarten der Nationen ausmachen, dass eine grosse Anzahl von Gegenständen erst durch die sie bezeichnenden Wörter geschaffen werden, und nur in ihnen ihr Daseyn haben..." (W.v. Humboldt 1963, S. 26)

Wilhelm von Humboldt nahm also an, daß eine Sprache ein Organ sei, die soziale Welt zu erfassen, und daß jede Nation über ein derartiges Organ verfüge. Ja, eine Unterscheidung von Sprache und Nation sei letztlich kaum möglich:
"Im Grunde ist die Sprache, nicht wie sie in fragmentarischen Lauten und Werken auf die Nachwelt kommt, sondern in ihrem regen, lebendigen Daseyn, nicht auch die äussere bloss, sondern zugleich die innere, in ihrer Einerleiheit mit dem durch sie erst möglichen Denken, die Nation selbst, und recht eigentlich die Nation." (ebd., S. 27)

Humboldt bleibt jedoch nicht bei der Behauptung stehen, daß Nationen mit ihren Sprachen unterschiedliche "Denk- und Empfindungsarten" haben. Er betont, daß die Sprachen aufgrund ihrer grammatischen Formen erheblich voneinander abwichen und daß die Verschiedenheit der grammatischen Formen einen Einfluß auf die Ideenentwicklung einer Nation habe.
"Überall ist in den Sprachen das Wirken der Zeit mit dem Wirken der Nationaleigenthümlichkeit gepaart, und was die Sprachen der rohen Horden Amerikas und Nordasiens charakterisiert, braucht darum nicht auch den Urstämmen Indiens und Griechenlands angehört zu haben." (W.v. Humboldt 1963, S. 31)

Die Substanz einer Nation ist demnach für Humboldt die Sprache, sie entscheidet über die Eigentümlichkeit einer Nation, über ihre Fähigkeit, Ideen zu entwickeln, und über ihren Geist:
"Nicht, was in einer Sprache ausgedrückt zu werden vermag, sondern das, wozu sie aus eigener, innerer Kraft anfeuert und begeistert, entscheidet über ihre Vorzüge, oder Mängel. Ihr Massstab ist die Klarheit, Bestimmtheit und Regsamkeit der Ideen, die sie in der Nation weckt, welcher sie angehört, durch deren Geist sie gebildet ist, und auf die sie wiederum bildend zurückgewirkt hat." ( ebd., S. 34)

Ähnlich wie Humboldt betonte auch Fichte in seinen bekannten "Reden an die deutsche Nation", daß die Sprache ein "geistiges Werkzeug" sei, mit dem die Völker jeweils ihre Welt erfahren. Nur: Die Fähigkeit der Wahrnehmung sei, so Fichte, nach "der Stufe der Entwickelung des sinnlichen Erkenntnissvermögens unter dem gegebenen Volke" (Fichte 1971, S. 317) verschieden.
Bezüglich der Bewertung der Sprachen und Völker war Fichte eindeutig. Für ihn war das deutsche Volk das Urvolk, die deutsche Sprache die Ursprache. An erster Stelle standen in dieser Sicht die germanischen Stämme, die sowohl volkliche als auch sprachliche Ursprünglichkeit für sich reklamieren konnten. Fichte hält seine Ausführungen nur für eine Schilderung der historischen Sonderstellung der Deutschen, nur für eine Schilderung einer Tatsache, die ohnehin offen zutage liege. Im siebten Abschnitt seiner "Reden an die deutsche Nation", die die Überschrift trägt "Noch tiefere Erfassung der Ursprünglichkeit und Deutschheit eines Volkes", macht Fichte folgende Zwischenbemerkung:
"Es sind in den vorigen Reden angegeben und in der Geschichte nachgewiesen die Grundzüge der Deutschen als eines Urvolkes, und als eines solchen, das das Recht hat, sich das Volk schlechtweg, im Gegensatze mit anderen von ihm abgerissenen Stämmen zu nennen, wie denn auch das Wort Deutsch in seiner eigentlichen Wortbedeutung das soeben Gesagte bezeichnet." (ebd., S. 359)

Aber die idealisierte Überhöhung eines deutschen Volkes ist bei Fichte immer zugleich auch eine Verherrlichung der deutschen Sprache. Gerade gegenüber anderen Ländern, die sich auf eine germanische Abkunft berufen könnten, führt Fichte noch einmal jenen nebulösen Grundunterschied zwischen ihnen und den Deutschen an:
"Zum Behuf einer Schilderung der Eigenthümlichkeit der Deutschen ist der Grundunterschied zwischen diesen und den anderen Völkern germanischer Abkunft angegeben worden: dass die ersteren in dem ununterbrochen Fortflusse einer aus wirklichem Leben sich fortentwickelnden Ursprache geblieben, die letzteren aber eine ihnen fremde Sprache angenommen, die unter ihrem Einflusse ertödtet worden." (ebd., S. 328)

Es lohnt sich, die Rede Fichtes bei der Benennung dieses sogenannten Grundunterschiedes näher zu betrachten, näher auf die von ihm verwandten sprachlichen Symbole zu achten. Fichte verbindet das Deutsche mit dem Bild eines Flusses. Das Deutsche sei, wie er anführt, ein ununterbrochener Fortfluß, was besagt, daß ein Bild der Kontinuität gezeichnet wird. Demgegenüber hätten die anderen Völker germanischer Abkunft eine "ihnen fremde Sprache" angenommen, was sagen will, daß ihre Geschichte eine nicht geradlinige sei, sondern vielmehr durch Brüche gekennzeichnet. Bis hierher setzt Fichte also das Eigene, das Deutsche, mit einer ungebrochenen Linie der Abkunft gleich, das Fremde, die anderen germanischen Stämme, ist für ihn hingegen gebrochen, in seiner Abkunft beschädigt. Zugleich wird diese sprachliche Entgegensetzung noch überblendet durch das Bild vom Leben und vom Tod. Fichte hatte ja für das Deutsche angenommen, daß es eine "aus wirklichem Leben sich fortentwickelnde Ursprache" sei. Es scheint, als wolle Fichte also das Eigene mit dem Leben, das Fremde mit dem Tod gleichsetzen. Und dieser Anschein trügt nicht. Einige Seiten später spricht Fichte das vormals nur auf der symbolischen Ebene Angedeutete offen aus: Der besagte Grundunterschied bestehe darin,
"dass der Deutsche eine bis zu ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache redet, die übrigen germanischen Stämme eine nur auf der Oberfläche sich regende, in der Wurzel aber todte Sprache. Allein in diesen Unterschied, in die Lebendigkeit und in den Tod, setzen wir den Unterschied." (ebd., S. 325)

Fichte entwickelt dann aufgrund des Besagten eine Beschreibung des Geistes des Auslandes, den er schlicht "Ausländerei" nennt. Er konstatiert einen "ertödtenden Geist des Auslandes", der sowohl die wissenschaftlichen Ansichten trübe, als auch das gewöhnliche Leben beeinträchtige. Die "Ausländerei" sei im wesentlichen getragen durch den "Glauben an den Tod", sie lähme ein Volk, weil sie die "ruhige Ergebung in die nun einmal unabänderliche Nothwendigkeit ihres Seyns" (ebd., S. 373) fördere, also einen Fatalismus hervorrufe, der dahin führe, daß jeder nur den "möglichst grössten Vortheil" aus seinem Dasein ziehen wolle. Daß diese sprachphilosophischen Überlegungen alles andere als losgelöst sind vom politischen Geschehen, machen die Beispiele deutlich, die Fichte anführt, um seine Gedanken bezüglich der Ursprache der Deutschen zu konkretisieren. Die gegen die französische Entwicklung gewandten Überlegungen verdeutlicht Fichte anhand der Begriffe Humanität, Popularität und Liberalität. Für ihn sind diese Begriffe Bestandteile eines Anschauungskreises einer Sprache, die im Grunde tot und unverständlich sei.
"Ich bediene mich als solchen Beispieles der drei berüchtigten Worte: Humanität, Popularität, Liberalität. Diese Worte, vor dem Deutschen, der keine andere Sprache gelernt hat, ausgesprochen, sind ihm ein völlig leerer Schall, der an nichts ihm schon bekanntes durch Verwandtschaft des Lautes erinnert, und so aus dem Kreise seiner Anschauung und aller möglichen Anschauung ihn vollkommen herausreisst." (ebd., S. 321)

Fassen wir zusammen: Wir sahen, daß Humboldt in seinen sprachtheoretischen Untersuchungen die Sprache als Organ der Nation betrachtete; ein Unterschied von Sprache und Nation sei nahezu unerheblich, von Bedeutung sei, so Humboldt, die Beschaffenheit des Organs Sprache, denn sie präge die jeweilige Nation. Auffällig ist die Verwendung des Wortes Organ, Humboldt neigte offensichtlich dazu, Sprache zu naturalisieren, sie als eine innere Natur zu begreifen. In einem zweiten Gedankengang hob Humboldt auf den formalen Aufbau der Sprache ab. Er ging von der unterschiedlichen Fähigkeit der Sprache aus, Wirklichkeit zu erfassen, und unterstellte einen Einfluß auf den Nationalhabitus.
Fichte hingegen ist radikaler. Daß die Völker unterschiedliche Sprachen und damit unterschiedliche Möglichkeiten haben, ihre Welt zu begreifen, ist für ihn offenbar eine banale Feststellung. Auch daß es intellektuell höherstehende und weniger höherstehende Völker und Sprachen gebe. Man könnte es folgendermaßen ausdrücken: Wenn Humboldt die Sprache naturalisiert, so ist von Fichte zu sagen, daß er das Deutsche - und damit ist bei ihm Sprache und Volk gleichzeitig gemeint - als etwas Göttliches hypostasiert.
Fichte ist aber mit solchen Ansichten nicht unbedingt einmalig oder in besonderem Maße erwähnungsbedürftig. In der Phase des frühen deutschen Nationalismus waren derartige nationalistisch gefärbte Reden Legion. Wichtiger erscheint mir in diesem Zusammenhang, daß Fichte diese damals weitverbreiteten Gedankengänge - ich verweise nur auf Ernst Moritz Arndt - in eine sprachlich inszenierte Dramaturgie verpackte. Fichte ließ seine nationalistischen Gedankengänge in einen 'Traum von Tiefe' verschwinden, wie ich es einmal salopp und recht unklar nennen will. Damit meine ich, daß Fichte seine Rede sehr stark in bildliche Zusammenhänge aufgehen läßt. Immer wieder wird die Tiefe, das Ursprüngliche und Ununterbrochene angerufen, und wenn Fichte über die deutsche Sprache und das deutsche Volk spricht, dann heißen diese: Ur-Sprache und Ur-Volk. Und das Ausland, Frankreich insbesondere, entbehrt all dessen. Gekünstelte Sprache, affektierte Manieren, keine Tiefe eben, ein leerer Schall von oberflächlichen Begriffen wie Liberalität und Humanität - das ist für Fichte Frankreich.

'Rasse'
Sprache und 'Rasse' waren nicht weit voneinander entfernt. Beide Begriffe konnten ineinander übergehen, ohne daß dadurch etwas anderes bezeichnet worden wäre. Gewiß gab es Dutzende von Vorstellungen, was eine 'Rasse' sei; und zwar nicht nur biologisch abgeleitete. So gab es frühe Anthropologen, die zwischen einer 'schönen' und einer 'häßlichen' 'Rasse' unterschieden, einer 'aktiven' eine 'passive' gegenüberstellten, einer 'Tagrasse' eine 'Nachtrasse' entgegenhielten, eine 'männliche' und eine 'weibliche' 'Rasse' zu entdecken glaubten, oder aber, wie Hegel, einen Unterschied sahen zwischen einer vor allem von Negern verkörperten 'Natur' und einem von Germanen verkörperten 'Geist'. (4)
Einen entscheidenen Einfluß auf die weiteren 'Rasse'-Vorstellungen übten jedoch insbesondere die vergleichenden Sprachwissenschaften aus, vor allem nachdem die altindische Sprache Sanskrit entdeckt worden war. In den Anfängen des 19. Jahrhunderts übte sich nahezu eine ganze Philologengeneration darin, Sprach-Genealogien aufzustellen, die beispielsweise die europäischen Sprachen in ihrer Abkunft von einer Ursprache darstellten. Die Entdeckung des Sanskrit machte es möglich, das Deutsche bis zu seinem mutmaßlichen Ursprung in Indien zu verfolgen. Es wurden verschiedene Sprachfamilien konstruiert, die durch die Jahrhunderte aufeinander bezogen gewesen sein sollen. Am verbreitetsten war jedoch hierbei die Vorstellung, die in Indien die Wiege der Kultur annahm. Gemäß dieser Ansicht sei das Sanskrit die Grundlage aller westlichen Sprachen und es sei durch die sogenannte arische Völkerwanderung von Asien nach Europa gelangt. In gewisser Hinsicht konkurrierte diese Überzeugung, nach der Indien der Ursprungsort der sogenannten indogermanischen Sprachen und deren Kultur sei, mit dem Glauben an die biblische Schöpfungsgeschichte.
Stark wirkten solche Vorstellungen auch auf die Romantik ein. Friedrich Schlegels berühmter Essay "Über die Sprache und Weisheit der Indier" (Schlegel 1846) hatte einen großen Einfluß auf die politische Romantik. Das Buch war eine Huldigung an die altindische Sprache Sanskrit, und Schlegel lobte die frühen Inder als Menschen, die vom Dach der Welt herabgestiegen seien, um neue Reiche zu gründen, Kulturen zu stiften. Schlegels Überlegungen waren jedoch auf die Sprache bezogen; expressis verbis hat er von einer Überlegenheit der Germanen, der antiken Völker und der Inder nicht gesprochen.
Aber schon Schlegels Nachfolger als Professor an der Universität Bonn, der Indologe Christian Lassen, war deutlicher. Er bezog die von sprachlichen Vergleichen ausgehenden Unterschiede auf Völker und Menschen. Menschen, die aus Indien stammten, hätten den höchsten und vollkommensten Geist, so Lassen. Anderen Völkern hingegen fehle die Tiefe ihrer Wahrnehmungsfähigkeit. Lassen differenzierte vor allem zwischen indischen Ariern und den semitische Sprachen sprechenden Juden und Arabern. Lassen wendete seine durch Sprach-Vergleiche gewonnen Unterscheidungen durchaus rassistisch.
Es bleibt festzuhalten, daß die begriffliche Spaltung zwischen Ariern und Semiten - eine Spaltung, die ein deutliches Werturteil zugunsten der Arier und eine Herabsetzung der Semiten beinhaltete, zu wesentlichen Teilen durch sprachphilosophische Überlegungen der damaligen Intellektuellenschicht mitgetragen und verbreitet wurde. In der internationalen Gemeinde der Wissenschaften waren es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht die wenig bekannten Intellektuellen, sondern oftmals ihre anerkanntesten Personen - wie z. B. Ernest Renan und Max Müller -, die den Dualismus von Ariern und Semiten als geschichtswirksame Kraft in den Rang einer Lehrmeinung hoben. Léon Poliakov schrieb 1971 in der Einleitung seiner Studie über den arischen Mythos: "Von 1940 bis ungefähr 1944 war die wichtigste Unterscheidung unter den Bewohnern Kontinentaleuropas diejenige zwischen Ariern und Semiten. Tatsächlich waren die Menschen, die der ersten Kategorie angehörten, zum Leben berechtigt, diejenigen, die zur zweiten Gruppe gerechnet wurden, zum Tod verurteilt; in den meisten Fällen wurde das Urteil im Lauf jener vier Jahre vollstreckt." (Poliakov 1993, S. 15) Wie angedeutet, waren jedoch die rassistischen Stereotypen dieses 'Rasse'denkens schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts existent und lagen ausformuliert vor.
Vermutlich hätten sich die mythischen Erzählungen über die geistigen Ursprünge der 'Rasse' nicht derart auswirken können, wie dies im sogenannten Dritten Reich geschah, wenn sich dieser Diskurs über die 'Rassen'herkunft nicht mit nationalstaatlichen Identitäts- und Herkunftsvorstellungen verknüpft hätte.
Die Ursprünge der 'Rasse' wurden mit der nationalen Herkunft gleichgesetzt: Die Vergangenheit einer 'Rasse' und ihre Geschichte ging mit der des Volkes eine Symbiose ein. Dies bedeutet, daß "von Anfang an eine Verbindung zwischen Rassismus und dem Aufkommen des Nationalbewußtseins" bestanden hat. Die Vorstellung einer 'rassisch' begründeten Abkunft kann demnach als ein rassistischer Diskurs gefaßt werden. Aber dieser Diskurs ist nicht allein rassistisch, er ist zugleich ein Aspekt des nationalen Diskurses, d. h., er ist zugleich Teil jener Erzählung der nationalen Geschichte.

Volk
Der Begriff Volk hat in den letzten 150 Jahren eine grundlegende Veränderung erfahren. War in der Verfassung von 1871 das Volk noch Objekt, so wandelte sich dies im folgenden Jahrhundert. Spätestens nach der Revolution von 1918 wurde das Volk, zumindest was die politische Verfassung betrifft, in den Rang des Souveräns gehoben. Carl Schmitt schrieb 1928 in seiner "Verfassungslehre": "Subjekt jeder Begriffsbestimmung des Staates ist das Volk." ( Schmitt 1928, S. 205) Er betrachtete also das Volk als dem Staat vorgängig, und auch den Begriff der Nation hielt Schmitt für einen Bildungsbegriff des 19. Jahrhunderts.
Sicherlich ist diese zentrale Stellung des Begriffes Volk eine Folge der Demokratisierung. Aber schon sehr früh war der Volksbegriff völkisch, d. h., er zielte darauf ab, über die Grenzen zu gehen. In der erwähnten Verfassungslehre von Carl Schmitt findet sich auch diese Tendenz schon angedeutet, wenn er, das demokratische Gleichheitsgebot betreffend, folgende bedenkliche Formulierung wählt:
"Die demokratische Gleichheit ist wesentlich Gleichartigkeit, und zwar Gleichartigkeit des Volkes. Der zentrale Begriff der Demokratie ist Volk und nicht Menschheit." (ebd., S. 234)
Faßt man so die Begriffe Volk und Demokratie, dann können natürlich nur diejenigen demokratische Rechte für sich beanspruchen, die dazugehören, also als zum Volk gehörig definiert werden. Carl Schmitt hat früh, schon 1926, zweierlei betont: Er behauptete zum einen, daß zur Demokratie Homogenität gehöre, sowie zum anderen, ich zitiere im Originalton, "Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen". (Schmitt 1926, S. 14) Nun, ich kann an dieser Stelle keine vollständige Skizze des deutschen völkisch begründeten Nationalismus geben. Eine gute Darstellung der Kernelemente der völkischen Ideologie hat Helmut Kellershohn erarbeitet(8). Auf zwei Facetten des völkisch begründeten Nationalismus möchte ich jedoch hinweisen. Das sind seine immer vorhandene Liberalismuskritik sowie sein auf die Zukunft gerichtetes Denken. Zunächst zur Liberalismuskritik.
Bekanntlich hatte der moderne deutsche Nationalismus, der sich nach Ende des Ersten Weltkrieges in Deutschland bildete, außenpolitische Feinde, und zwar die Siegermächte Frankreich, England und die USA, die als Gesamtfeind den verabscheuten Westen bildeten. Die Revision von Versailles war daher von konservativ nationalen bis nationalistischen Kreisen das Hauptziel. Als Spezifikum des modernen nationalistischen Diskurses trat jedoch hinzu, daß dieser Feind als ein zugleich innen- und außenpolitischer Feind gedacht wurde. Die Sündenbockfunktion eines Feindes mußte im völkischen Diskurs der Liberalismus übernehmen. Diese Aufgabe konnte er so gut erfüllen, weil er ja aus der völkischen Sicht ein Doppelgesicht hatte. Er war der Inbegriff des liberalen Westens, und er war zugleich als liberale politische Strömung im Inneren vorhanden.
Der Liberalismus wurde daher als eine gegen die politische Größe Volk gerichtete Bewegung gedeutet. Moeller van den Bruck, eine der wichtigsten Gestalten des nationalistischen Diskurses und Hauptideengeber der Konservativen Revolution, zum Gegensatz von Volk und Liberalismus:
"Aber gerade das Volk ist dem liberalen Menschen völlig gleichgültig. Der Liberalismus ist die Partei der Emporkömmlinge. Er ist die Partei einer Zwischenschicht, die verstanden hat, sich zwischen das Volk und die Auslese einzuschieben, die sich aus dem Volke heraus ständig, aber nicht berechensam, sondern schöpferisch vollziehen muß, wenn das Volk als Nation schöpferisch bleiben soll. Die Angehörigen dieser Zwischenschicht haben das Wachstum der Nation übersprungen oder sich als Fremdkörper in sie eingedrängt." (Moeller van den Bruck 1931, S. 82)

Deutlich wird hier, wie schnell ein nationalistischer Diskurs, der die Gegnerschaft von Volk und Liberalismus beschreibt, in einen rassistischen übergehen kann. Denn letztlich hängt es nur davon ab, wie man diese von Moeller so bezeichnete "Zwischenschicht", die den Übergang vom Volk zur Nation behindere, definiert. Die Übergänge von Liberalen zu Juden oder Ausländern generell sind fließend.
Ein weiteres Charakteristikum des völkischen Nationalismus besteht darin, daß die Kategorie Volk, so, wie sie im nationalistischen Diskurs verwandt wird, über den politischen status quo hinausstrebt. Das konservative nationalistische Denken forderte die Zusammenfassung des ganzen deutschen Volkes, auch jener Volksteile, die außerhalb der Grenzen lagen. Und zumeist wurde dieser Volksbegriff in eine zeitliche Dimension eingebettet. Indem das Volkliche oder Völkische als letzte Instanz auch der geschichtlichen Entwicklung angesehen wurde, bekam der Volksbegriff eine auf die Zukunft gerichtete Bedeutung. "Das Volk ist ein Werdewesen", behauptete ein Autor der Konservativen Revolution. Und so ist es nicht verwunderlich, daß im Zusammenhang mit dem politischen Begriff Volk auch von 'Volkswerdung', 'Volk im Werden' oder 'völkischer Sendung' gesprochen wurde.

Schlußbetrachtung
Sprache - 'Rasse' - Volk: Aspekte des deutschen nationalen Diskurses. So ist mein Vortrag ausgeschrieben worden. Ursprünglich war dies ein Arbeitstitel. Ich hatte beabsichtigt, das Besondere, Facetten des Sonderbewußtseins des deutschen nationalen Diskurses zu erarbeiten. Aber dieses Besondere ist meiner Ansicht nach eben nicht ein einziger Aspekt, sondern das Gesamt der Erzählungen, die, indirekt oder direkt, als national definiert worden sind. Vieles hätte also noch erwähnt werden müssen. Beschränkt habe ich mich auf die Teil-Erzählungen über die deutsche Sprache, den arischen Mythos und die nationalistische Ausdeutung des Begriffes Volk.
Folgendes scheint mir wichtig zu sein: Alle drei Diskurse sind historische Erzählungen genealogischer Mythen. Alle drei Erzählungen haben daher eine starke Perspektivität. Immer wird die Ursprünglichkeit betont. Wir sahen dies bei Fichte, der von einem Urvolk und der Ursprache der Deutschen sprach. Dieselbe Erscheinung finden wir auch beim 'Rasse'-Diskurs, vor allem nachdem der Mythos vom Arier sich durchgesetzt hatte. Zugleich geht mit dieser Perspektivität aber auch eine über das Gegebene hinaustreibende Sichtweise einher. Schon Fichte hatte gesagt, der Charakter der Deutschen liege in der Zukunft. Und diese, gegen den status quo revoltierende Haltung scheint ein bis heute wirksames Charakteristikum des modernen deutschen Nationalismus zu sein.
Aber, was hat dies mit der heutigen Situation zu tun? Meiner Meinung nach geht es in fast allen Debatten, die das sogenannte Nationale zum Thema haben, darum, eine Normalität der deutschen Nationalstaatlichkeit zu definieren und sie als allgemein legitimiert durchzusetzen. Betrachtet man die Debatten, die nach der Wiederveinigung einsetzten, z. B. die Reihe in der FAZ unter dem Titel "What's left", die "Umdenken" titulierte Serie in der ZEIT oder die umstrittenen Spiegel-Essays von Martin Walser, Botho Strauß und Hans Magnus Enzensberger - ausgelotet wurden dort die neuen Selbstverständlichkeiten und Normalitäten. Es geht dabei unter anderem um Fragen der deutschen Außenpolitik, die deutsche Rolle in Europa usw.
Aber in diesen Auseinandersetzungen um die Normalität einer deutschen Nationalstaatlichkeit geht es auch um die nationale Erzählung selbst. Es geht, Jürgen Habermas hat es treffend benannt, auch um die "Wiederherstellung einer zeitweise unterbrochenen Kontinuität in der Zeit". (Habermas 1993, S. 181)
Und in diesen neuen Erzählungen der nationalen deutschen Geschichte, die ja im Wortsinne Revisionen sind, kann eine große Gefahr liegen; denn das Bestreben, die deutsche Geschichte ohne Brüche und Katastrophen zu erzählen, sie in eine Kontinuität zu bringen - wie sollte es bewerkstelligt werden, wenn nicht vorpolitische Mythenerzählungen reaktiviert werden. "Rückruf in die Geschichte", so hat Karlheinz Weißmann, ein mittlerweile einflußreicher rechtsintellektueller Publizist, sein 1992 erschienenes Buch genannt. Darin ist, grob gesprochen, folgendes zu lesen: Vier Jahrzehnte habe sich die deutsche Nation aus der Geschichte verabschiedet, ihre psychische wie nationale Identität sei schwer beschädigt gewesen. Das Jahr 1989, die Wiedervereinigung, sei jedoch eine Rückführung aus dieser völlig anomalen Situation gewesen. Dabei gebe es jedoch große Schwierigkeiten. Weißmann: "Die Anomalie der geistigen Situation nach 1945 ist jedenfalls nur dann zu beseitigen, wenn sich die Nation ihrer ganzen Geschichte stellt, auch denjenigen Phasen, die Anlaß zu Stolz und Zufriedenheit geben." Aber mehr noch: Weißmann hält die nationale Erzählung für den ausschlaggebenden Faktor für die erwünschte Normalität der deutschen Nationalstaatlichkeit. Es heißt bei ihm dazu: "Die notwendige Integration der Deutschen wird sich zwangsläufig über eine gemeinsame Nationalgeschichte vollziehen, oder sie wird sich überhaupt nicht vollziehen." (Weißmann 1992, S. 49) Diese Position ist in der gegenwärtigen Situation kein Einzelfall. Der Prozess, die deutsche Geschichte neu zu erzählen, sie insbesondere nationalstaatlich zu erzählen, ist im vollen Gange. Dabei werden viele Aspekte des nationalen Diskurses wieder aufgenommen, von denen wir angenommen hatten, daß sie endgültig beiseitegeschoben seien.
Wie dem entgegengewirkt werden kann, ist schwer auszumachen. Ich denke, es ist wichtig, bei allen politischen Betrachtungen, die die deutsche Geschichte betreffen, einer Erzählung vorzubeugen, die zu stark auf Kontinuitäten, auf genealogische Erzählungen zurückgreift. Denn diese Diskurse neigen dazu, Nationen zu naturalisieren. Sie erzählen nicht von den Brüchen, den Katastrophen und Diskriminierungen, die mit der Nationen-Formation verbunden sind.
Zugleich darf eine nationale Erzählung nicht autistisch werden. Eine Rede über die Nation, die nur ihre eigene Abkunft durch die Jahrhunderte hindurch sucht und die nichts für wichtiger hält als die Homogenität ihrer selbst - eine solche nationale Erzählung kann keine Handlungsfähigkeit liefern. Es kommt darauf an, die historischen Erzählungen über die deutsche Nation anzubinden an europa- und weltpolitische Entwicklungen, vor allem also solchen Ansichten entgegenzuarbeiten, die eine politische Handlungsfähigkeit allein durch die Nationalstaaten gesichert sehen.

Literatur
Balibar, E.: Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie, in: Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein 1992, S. 107-130
Balibar, E./Wallerstein, I.: Rasse - Klasse - Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg/Berlin 1992
Bruck, M. van den: Das dritte Reich, 3. Auflage Hamburg 1931
Butterwegge, Chr./Jäger, S. (Hg.): Rassismus in Europa, Köln 1992
Fichte J.G.: Reden an die deutsche Nation (1808), in: Fichtes Werke. Band VII. Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971
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Most recent revision: April 07, 1998

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