DAS DEUTSCHE VOLK UND SEINE FEINDE
Von Lutz Hoffmann

Seit vielen Monaten kreist das Sinnen und Trachten der Politiker, das Räsonieren der Medien und das Grollen der Bürger um die Frage, wie man sich hierzulande der Asylbewerber erwehren kann. Statt sich der Vielzahl anderer Probleme zuzuwenden, basteln alle an dem Eindruck, als sei keines davon noch lösbar, bevor nicht dem angeblichen Mißbrauch des Asylrechts ein Ende bereitet worden wäre.
Kritische Kommentare wittern ein Ablenkungsmanöver: Die ins Land drängenden Ausländer würden - wie weiland die Juden - zu Sündenböcken gestempelt, um vom Versagen der Politik abzulenken. So griffig ein solcher Verdacht auch sein mag, er verkürzt unzulässig, wenn er die Ursache allein im taktischen Kalkül der Herrschenden lokalisiert. Die Situation hat komplexere Ursachen. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß herrschende oder zur Herrschaft strebende Kräfte dabei mitzumischen und daraus ihren Vorteil zu ziehen versuchen.
Allerdings besteht schon ein Zusammenhang zwischen den inneren Zuständen einer Gesellschaft und dem Ausmalen eines Feindbildes, das als Bedrohung dieser inneren Zustände erscheint. Das Feindbild festigt den Zusammenhalt einer Gesellschaft. In dieser integrativen Wirkung liegt letztlich auch der positive Effekt begründet, den Feindbilder für Herrschaftsverhältnisse haben. Denn in der Art des Zusammenhalts, der in einer Gesellschaft für legitim erachtet wird, ist auch die Legitimität ihrer Machtstrukturen und Machthaber begründet.
Da der Zustand der Integration ein höchst praktischer und politischer ist, hat er auch seinen Namen, mit dem er von den Beteiligten begriffen wird. Seit der Französischen Revolution und der Entstehung von Nationalstaaten definiert sich eine Gesellschaft, die sich für integriert hält oder um ihre Integration ringt, als Volk. In diesem Begriff ist immer auch schon der Zustand der Integration und der allgemeine Wille, diesen Zustand herzustellen, zu wahren und weiterzuentwickeln, ausgesprochen.
Wenn das Feindbild eine integrative Funktion hat, und wenn das Volk der Inbegriff gesellschaftlicher Integration ist, dann haben seine Feinde für das Volk nicht nur eine marginale, sondern eine mehr oder weniger konstitutive Bedeutung. Jedenfalls gilt dies für das deutsche Volk, wovon nachfolgend die Rede sein soll. Und es spricht einiges dafür, daß es sich dabei nicht um einen deutschen Sonderweg, sondern um ein verallgemeinerbares Muster handelt, auch wenn es vielleicht bei den Deutschen besonders markant hervortritt.
Im heutigen Verständnis kann man von einem bestimmten Volk nur dann reden, wenn dessen Menschen von sich auch das Bewußtsein haben, dieses Volk zu sein. Erst wenn Menschen durch ihre kollektive Identität definieren, daß sie "ein Volk" sind, hat dieses Volk auch eine reale Existenz (1). Alles andere ist ein willkürlicher Nominalismus, gegen den die Menschen, zumindest wenn er politisch wird, leidenschaftlich aufbegehren. Sie wollen sich nicht vorschreiben lassen, wie "ihr Volk" definiert wird, sondern erheben den Anspruch, daß das eine Angelegenheit sei, in der sie völlig autonom sind. Es ist unnötig, auf das Anschauungsmaterial zu verweisen, das dazu gerade die letzten Jahre liefern.

"An einem deutschen Volk hat es leider gefehlt"
In diesem Sinne nun ist vor dem 19. Jahrhundert von einem "deutschen Volk" nirgendwo die Rede. Vergeblich sucht man auch nur den Begriff in der Literatur dieser Zeit. Zwar sprach man schon lange von der "deutschen Nation", ohne damit aber die heutige Bedeutung zu verbinden. Sie bezeichnet noch keine kollektive Identität, sondern umreißt höchst vage ein Territorium und eine Verfassung.
Herder, den man später gemeinhin zum Propheten des deutschen "Nationalgeistes" erklärt hat, spricht noch am Ende des 18. Jahrhunderts nur von den "Nationen Deutschlands", von "mehreren Völkern", aus denen "von jeher Deutschland" bestand (2). Der Dichter Wieland konstatiert zur gleichen Zeit für Deutschland "die gänzliche Abwesenheit jenes Gemeinsinnes und Nationalgeistes, der sich mehr oder weniger bei allen Völkern äußert" (3). Den Fremden müsse "Gleichgültigkeit und Kälte gegen allgemeines Nationalinteresse... als ein Charakterzug der Deutschen auffallen" (4). Denn wer das deutsche Reich aufmerksam durchwandere, lerne zwar "Oestreicher, Brandenburger Sachsen, Pfälzer, Baiern, Hessen, Württemberger usw..., aber keine Deutschen kennen" (5). Selbst noch 1811 schrieb Campe in seinem Wörterbuch der deutschen Sprache: "Man spricht und liest vielfach von dem britischen, französischen, schwedischen, spanischen etc. Volk. Nur an einem deutschen Volke hat es leider gefehlt, und man muß hoffen, daß eins aus den Trümmern des deutschen Reichs entstehen werde."(6) Da formt sich bei den letzten beiden Autoren zwar eine vage Idee vom "deutschen Volk", die Wieland zum Spott reizt, während Campe sie mit Hoffnungen auflädt. Doch eine Existenz dieses "deutschen Volkes" vermögen beide nicht zu vermelden.
Das ändert sich schlagartig zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Plötzlich ist in der zeitgenössischen Literatur allenthalben die Rede vom "deutschen Volk". Und es läßt sich gar nicht übersehen, daß das eben die Zeit war, in der Napoleon die deutschen Staaten mit seiner Invasion überzogen hatte.
Als sich die französischen Armeen in den deutschen Städten einquartierten, gab es unzählige handfeste Gründe, sie als eine unerträgliche Belastung zu empfinden und alles Denken auf die Frage zu lenken, wie man sie wieder vertreiben könnte. Dazu aber mußte man den Franzosen gegenüber eine zumindest gleichwertige militärische Energie aufbieten können. Das führte vor die Frage, woher die Kampfkraft stammte, die Napoleon bei den Franzosen mobilisieren konnte. Die Antwort gab die Idee der Nation, die die Franzosen nicht wie bisher die Söldner und die gepreßten Untertanen für die ihnen fremden Interessen eines Monarchen, sondern für ihre eigene Sache in den Kampf ziehen ließ (7).

"Der Nation das Gefühl der Selbständigkeit einflößen"
Der Direktor des preußischen Kriegsdepartments und Schöpfer der Landwehr, Scharnhorst, war sich daher bewußt, daß er die Franzosen kopieren mußte, um ihnen militärisch gewachsen zu sein: "Wir werden erst siegen können, wenn wir gelernt haben, so wie die Jakobiner den Gemeingeist zu wecken,... wenn man mit derselben Tatkraft und Rücksichtslosigkeit alle Hilfsquellen der Nation mobil machen wird, ihre Leiber, ihr Vermögen, ihren Erfindungsgeist, ihre Hingabe zu dem Heimatboden und nicht zuletzt ihre Liebe zu den Ideen." (8) Das Volk mußte einen Begriff von sich selbst bekommen, also erst im modernen Sinne zum Volk werden, wenn die französischen Okkupanten vertrieben werden sollten: "Man muß der Nation das Gefühl der Selbständigkeit einflößen, man muß ihr Gelegenheit geben, daß sie mit sich selbst bekannt wird, daß sie sich ihrer annimmt; nur erst dann wird sie sich selbst achten und von anderen Achtung zu erzwingen wissen." (9) Und auch der Reformator des preußischen Staatswesens, Freiherr vom und zum Stein, sah deutlich, daß ohne eine Agitation kollektiver Gefühle kein Weiterkommen war: "Nur indem man den Geist der Nationen aufreizt und in Gärung bringt, kann man es dahin bringen, alle ihre moralischen und physischen Kräfte zu entwickeln." (10)
Das Selbstverständnis der bedrohten Einheit hat sich also nicht spontan oder naturwüchsig herausgebildet. Es wurde mit überlegtem Kalkül propagandistisch unter die Leute gebracht. Das Volk muß erst von Intellektuellen gedacht werden, bevor es sich selbst denken kann. Vor und während der Befreiungskriege 1815/17 gegen die Franzosen haben das zahlreiche Schriftsteller mit fanatischer Gründlichkeit besorgt.
Bei keinem anderen ist so deutlich der enge Zusammenhang zwischen der Mobilisierung von Haß gegen die Feinde und der Konstituierung der Einheit des Volkes zu erkennen wie bei dem Dichter und Kriegspropagandisten Ernst Moritz Arndt. Um "den Namen Deutscher zu einem großen Gefühl zu machen", rief er dazu auf, "das Volk auf sich selbst, auf seine Ehre, seinen Mut, seine Zahl, seine Arme hinzuweisen und alle ihre Gefühle und Gedanken gegen die Franzosen zu entflammen" (11). Denn "nur in einem solchen gemeinsamen Kriege können durch verbrüderten Stolz und Mut die Bande wieder geknüpft werden, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr gelöst und in unseren Tagen endlich völlig zerrissen wurden" (12).

"Der Krieg ist unser Vater"
Aber die Befreiungskriege endeten in der Restauration, die der Wiener Kongreß in Europa einläutete. Das kurze Aufflackern des Bewußtseins vieler Deutscher, ein Volk zu sein, blieb zunächst Episode. Es mußten erst noch zwei weitere Kriege gegen Frankreich geführt werden, bevor sich ein in der Hitze des Krieges entzündetes Bewußtsein zu einer alltäglichen Selbstverständlichkeit ablagern und Gemeingut werden konnte.
Den Einfluß des Krieges 1870/71 beschreibt der Historiker und liberale Politiker Hermann Baumgarten in einer Schrift mit dem bezeichnenden Titel "Wie wir wieder ein Volk geworden sind" (13). Zunächst reflektiert er den Erfolg der nationalen Geschichtsschreibung der vorangehenden Jahrzehnte, die das Mittelalter als eine Heldenzeit des deutschen Volkes verherrlicht hatte, indem er von dem "Verschwinden der deutschen Nation... im dreißigjährigen Kriege" schrieb: Damals "hörten wir auf zu sein" (14). Für das Jahr 1848 konnte er dann immerhin schon feststellen, daß "die Deutschen... wieder ein Volk sein wollten" (15). Aber erst im Kriege 1870/71 vollendete sich "der lange schwere Auferstehungsprozeß unseres Volkes": (16) Denn "die Völker in ihrer Gesamtheit werden nur durch den Donner der Schlachten geweckt" (17).
Mehr noch hat der Erste Weltkrieg dazu beigetragen, das inzwischen wieder erschlaffte subjektive Bewußtsein des deutschen Volkes herauszuarbeiten. Die Beiträge sind zahllos, mit denen die Elite der deutschen Wissenschaft diesen Krieg begrüßt und unterstützt hat, weil in ihm "jene zersetzenden Mächte, die im Frieden unsere Volkseinheit in Frage stellten", überwunden waren (18). So stellt z.B. der Soziologe Simmel erfreut fest, "daß erst mit diesem Krieg auch unser Volk endlich eine Einheit und Ganzheit geworden ist" (19). Und diesmal überdauert der Überschwang nicht nur den Krieg, sondern auch eine Niederlage. Noch zehn Jahre später beschreibt der Schriftsteller Ernst Jünger in hymnischem Überschwang die Auswirkungen des Schützengrabenerlebnisses: "Der Krieg ist unser Vater, er hat uns gezeugt im glühenden Schoß der Kampfgräben als ein neues Geschlecht, und wir erkennen mit Stolz unsere Herkunft an." (20)

Antisemitismus
Da ein Volk seine Grundlage im kollektiven Bewußtsein hat, ist sein Bestand nicht schon dadurch auf die Dauer gesichert, daß dieses sich irgendwann in der Vergangenheit gebildet hatte. Es bedarf der fortwährenden Vergegenwärtigung durch neue und aktuelle Bedrohungen, um im Bewußtsein erhalten zu werden und dadurch seine Integration zu wahren. Feindschaft ist nicht nur für den Entstehungsprozeß des Volkes, sondern auch für die Kontinuität seiner Existenz konstitutiv. Oder auch umgekehrt: Nachdem Feindschaft das Bewußtsein der Menschen, ein Volk zu sein, hervorgebracht hat, sucht dieses Bewußtsein fortwährend nach neuen Feinden, um sich angesichts der von dieser ausgehenden Bedrohung zu aktualisieren.
Das Volk definiert sich immer wieder neu als Gegenentwurf des Bildes, das es von seinen jeweiligen Feinden hat. Das führt dazu, daß das Volk sein Selbstverständnis modifiziert, wenn seine Feinde wechseln. Oder es sucht sich solche Feinde, die einen Antagonismus zu den Elementen zur Darstellung bringen, die es für sich selbst als wichtig ansieht.
Zunächst ist dies durchaus eine kollektive Reaktion, die durch Stimmungen und öffentliche Meinungen vorangetrieben wird. Aber immer haben dabei auch herrschende oder zur Herrschaft drängende Kreise ihre Hände im Spiel. Sie bestätigen und verstärken das Bild, das das Volk von Bedrohern und Bedrohung hat, um durch die dadurch erzeugte Integration des Bewußtseins eine gesellschaftliche Vormachtstellung zu festigen oder zu erlangen.
In der Rückschau auf den Holocaust erscheint der Antisemitismus vor allem als ein schwer erklärbarer Haß der Deutschen gegen die Juden. Die antisemitische Propaganda hat jedoch vor diesen Haß die Bedrohung der Deutschen durch die Juden gerückt und dadurch zunächst die unfertige Integration des 1871 von Bismarck durch eine "Revolution von oben" gegründeten deutschen Reiches vorangetrieben. Zwei der populärsten frühen antisemitischen Schriften tragen die Titel "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum" und "Der Verzweiflungskampf der arischen Völker gegen das Judentum" (21). Und Treitschkes judenfeindliches Pamphlet "Unsere Aussichten" von 1879 gipfelt in dem bekannten Ausruf: "Die Juden sind unser Unglück!" (22)
Die antisemitische Propaganda übertrieb maßlos den Einfluß, die völkische Geschlossenheit und die rassische Reinheit des jüdischen Volkes, um einerseits durch Vergleichbarkeit und andererseits durch Polarisierung des Volksbewußtsein der Deutschen zu stärken. "Das imaginierte Gegenbild des jüdischen Volkes erscheint bei einem Volk wie dem deutschen, dessen nationales Selbstbewußtsein so außerordentlich labil ist, als ein willkommenes Mittel, um auf diesem indirekten Wege zu einer Steigerung des eigenen Nationalbewußtseins zu gelangen." (23) Dieser Zusammenhang tritt bereits in dem ersten Satz, mit dem Treitschke 1879 den Berliner Antisemitismusstreit eröffnete, offen zutage: Wenn eine "leidenschaftliche Bewegung gegen das Judenthum" "durch unser Volk geht", dann "arbeitet in den Tiefen unseres Volkslebens eine wunderbare, mächtige Erregung. Es ist, als ob die Nation sich auf sich selbst besänne" (24). Mit Berufung darauf, daß es sich zwar um eine "brutale und gehässige, aber natürliche Reaction des germanischen Volksgefühls" handelt, macht Treitschke sich zu dessen Einpeitscher (25).
So machte man den jüdischen "Drang nach Weltherrschaft" verantwortlich für alles, wovon die Deutschen sich bedroht fühlten und wozu im "deutschen Wesen" die Alternative liegen sollte. Aufklärung und Französische Revolution, englischer Kapitalismus und Imperialismus, russischer Bolschewismus wurden als Werk der "jüdischen Weltverschwörung" gebündelt (26). Dem deutschen Volk aber wurde die Aufgabe zugewiesen, dagegen ein Bollwerk zu errichten, indem es alle seine Kräfte in seinem völkischen Willen sammelte.

Antikommunismus
Nach dem Zweiten Weltkrieg brach dieses Gefühl der Bedrohung keineswegs in nichts zusammen, sondern verschob das Gewicht lediglich auf den Kommunismus als den schon vorher dominierenden Strang im Bündel der antisemitisch zusammengefaßten feindlichen Bedrohung. Es war der Kalte Krieg, der dafür sorgte, daß sich "unser westdeutsches kollektives Feindbild urplötzlich vom Judentum... auf die Sowjetunion verlagert hat" (27).
Weder die Überzeugungskraft der westlichen Ideen, noch der entschiedene Wille einer Abkehr von dem im "Dritten Reich" auf seine unmenschliche Spitze getriebenen völkischen Wahn allein haben dazu geführt, daß die Westdeutschen nach 1945 ihren durchaus überzeugenden Frieden mit Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit geschlossen haben. Entscheidend war vielmehr auch diesmal der Wille, einer feindlichen Bedrohung ein diese polarisierendes Selbstverständnis entgegenzusetzen. Den Abscheu gegenüber allen totalitären Strukturen übten die Deutschen nicht an der ohnehin zunächst verdrängten eigenen totalitären Vergangenheit, sondern an einem aus dieser Zeit geerbten Feindbild, das sich im Kalten Krieg lediglich in eine andere Bündniskonstellation einordnete und daher zu einem neuen Antagonismus einlud.
Die Entwicklung nach 1945 ist den Deutschen mittlerweile so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie wieder einmal der Meinung sind, selbst nie etwas anderes gewollt zu haben. So bleibt ausgeblendet, daß es ohne den Kalten Krieg weder einen einheitlichen Staat zunächst der Westdeutschen, noch dessen raschen wirtschaftlichen Aufschwung, noch dessen freiheitliche und demokratische Ordnung, noch dessen Wiederbewaffnung, noch dessen Alleinvertretungsanspruch und eine Wiedervereinigungsidee gegeben hätte. Das alles ist Schritt für Schritt im Kalten Krieg als Waffe gegen eine mehr oder weniger faktische Bedrohung durch den Bolschewismus herausgearbeitet worden.
Zunächst waren es zwar die westlichen Alliierten, die auf diese Weise Westdeutschland als feste Bastion gegen ihre ehemaligen östlichen Verbündeten ausbauten. Aber durch die Ideologie eines militanten Antikommunismus sind diese Merkmale auch in die kollektive Identität der Westdeutschen eingeprägt worden. Jedes Ja zu den neuen Errungenschaften war verpackt in ein ängstliches Nein gegenüber der drohenden Alternative im Osten. Der Antikommunismus fungierte als zentrale "Integrationsideologie" der sich als deutsches Volk begreifenden westdeutschen Gesellschaft (28).

"Ausländerfeindlichkeit"
Weil jene Errungenschaften mittlerweile zur kollektiven Identität des deutschen Volkes gehören, fällt es nicht schlagartig auf, daß der dafür grundlegende Antagonismus verloren gegangen ist. Doch untergründig macht sich bereits bemerkbar, daß der Integrationsideologie des Antikommunismus das Objekt abhanden gekommen ist. So daß sich immer deutlicher die Frage stellt, "was es für die liberaldemokratische Gesellschaft bedeutet, wenn sie keine ernstzunehmenden Feinde mehr sich gegenüber hat und sozusagen mit sich allein ist" (29). Die Politik- und Parteienverdrossenheit, die Europamüdigkeit, der Rechtsextremismus, die schleichende Aushöhlung des Sozialstaats, die zunehmende Gewaltneigung bei Jugendlichen sind Indikatoren eines Zerfallens der integrativen Kräfte, die angesichts des Fehlens eines noch bedrohlichen Feindes ihren außenpolitischen Impuls verloren haben.
Es kann daher nicht überraschen, daß sich im steigenden Wanderungsdruck auf Mitteleuropa ein neues Feindbild abzeichnet. Die deutsche "Ausländerfeindlichkeit" war von ihrem Anfang an auch eine Vergewisserung deutscher Identität angesichts ihrer vorgeblichen Bedrohung durch "Überfremdung" (30) Wenn sie sich nach der deutschen Einigung zu einer zunehmend militanten und massenhaften Erscheinung auswächst, dann steht das in einem unmittelbaren Zusammenhang einerseits mit dem Ende des Kalten Krieges, das mit einem Verlust an integrativen Kräften bezahlt werden muß, und andererseits mit einem erheblichen Anstieg des Integrationsbedarfs für das neue deutsche Staatswesen.
"Ausländerfeindlichkeit" ist daher ebenso die irre Suche der kollektiven Identität nach dem abhanden gekommenen Feindbild, wie die willkommene neue Integrationsideologie herrschender oder zur Herrschaft drängender Kräfte, um ihren Führungsanspruch zu legitimieren, wie auch das Medium, mittels dessen sich marginalisierte Gruppen der Gesellschaft ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Volk und damit ihres Anspruchs auf Teilhabe an dessen Wohlstand zu vergewissern suchen. Es ist gar nicht zu übersehen, daß sich angesichts dieses neuen Feindbildes auch die kollektive Identität des deutschen Volkes wieder einmal wandelt. Sie geht auf Distanz zu universalistischen Ideen und wendet sich erneut dem Partikularismus nationalistischer, tendenziell völkischer, wenn nicht gar rassistischer Vorstellungen zu.

"Die Gefahr aus dem Osten"
Antisemitismus, Antikommunismus und "Ausländerfeindlichkeit" haben gemeinsam, das sie alle irgendwie auf eine "Gefahr aus dem Osten" starren. Während im 19. Jahrhundert das deutsche Volk seinen Feind zunächst im Westen sah, hat sein Bedrohungsgefühl im 20. Jahrhundert immer deutlicher eine östliche Ausrichtung bekommen und dabei uralte Mythen aktualisiert. Der Antisemitismus war gleichsam die Brücke, über die die Bedrohung vom Westen zum Osten wanderte.
Schon als die Sozialdemokraten sich 1913 im deutschen Reichstag dafür stark machten, den damals eineinviertel Millionen Ausländern ihren Zugang zu den deutschen Bürgerrechten zu erleichtern, wurde ihnen von konservativer Seite dieser Mythos entgegengehalten: "Der Zug der Nationen geht im großen und ganzen vom Osten nach dem Westen, und auf diesem Zuge der Nationen stoßen die Massen, die sich vom Osten aus in Bewegung setzen, erst auf das Deutsche Reich mit seinen geordneten rechtlichen Zuständen, seiner hohen wirtschaftlichen Blüte, seinen freiheitlichen Institutionen." (31)
Noch deutlicher wurde dieses Feindbild im Kontext des Kalten Krieges. Der Kommunismus erschien in der Nachkriegszeit eben nicht nur als eine Ideologie und eine Staatsmacht, sondern mehr noch als Sonderfall jener "Mut", von der im Jahr 1952 der Staatssekretär im Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen, Franz Thedieck, das Abendland seit Jahrhunderten bedroht sah: "Immer wieder ist die östliche Flut bis in die Herzkammern Europas hineingebrandet: Ich erinnere an die Awaren und Hunnen, an die Horden Dschingis Khans und an das Vordringen der Türken. Immer wieder pochten sie an die Tore Mitteleuropas, aber jedesmal noch gelang es unter dem Einsatz aller Kräfte, ihrem Ansturm Herr zu werden. Heute steht wieder eine asiatische Großmacht an Elbe und Werra, an der Saale, am Rand des Böhmerwaldes, im Herzen von Wien. Mehr als je zuvor bedarf es deshalb der Zusammenfassung aller europäischen Kräfte, um zu bewahren, was christlicher Humanismus in Jahrhunderten aufbaute." (32) Wer den Kommunismus so gesehen hat, dem kann es heute nicht schwerfallen, in dem mit dem Ende des Eisernen Vorhangs aufgebrochenen Wanderungsdruck nur die neue Variation einer alten Melodie zu erkennen.
Am Feindbild also hat sich so viel gar nicht geändert. Es ist die Konstante deutscher Identität. Diese Konstante bildet gleichzeitig die Brücke, über die sich die historischen Brüche in der kollektiven Identität vermitteln. Nicht diese, sondern deren Feinde weben den roten Faden, der sich durch die Geschichte des deutschen Volkes zieht.

Völker ohne Feindbilder?
Die Konstituierung des deutschen Volkes wäre selbst angesichts der bittersten Unterdrückung durch die französische Besatzung nicht gelungen, wenn sie nicht ohnehin auf der Tagesordnung der Geschichte gestanden hätte. Die Auflösung der feudalen und ständischen Ordnung und der Übergang zur modernen Gesellschaft forderte die Entwicklung von Großgesellschaften, deren Zusammenhalt in der subjektiven Identität der Menschen als deren Mitglieder verankert ist (33).
Die Französische Revolution war jenseits aller konkreten und singulären Faktoren, die sie hatten ausbrechen lassen, der epochemachende erste Durchbruch der Moderne. Und so inhaltlich fragwürdig auch die Idee des deutschen Volkes war, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter den Hammerschlägen Napoleons formte, so entsprach sie doch einer geschichtlichen Notwendigkeit. Ohne die Herausbildung irgendeines neuen kollektiven Begriffs wäre der Übergang in die moderne Gesellschaft blockiert gewesen.
Wenn die kollektiven Identitäten der Völker ein notwendiges Vehikel und ein unverzichtbares Element der Moderne sind, dann liegt die Frage nahe, ob sich ihre Konstitution nicht auch aus dieser Funktion entwickeln läßt. Nicht ihre Bedrohung von außen, sondern innere Notwendigkeit würde dann eine Gesellschaft dazu bringen, sich als Volk zu begreifen. Sie würde sich nicht auf eine mythologisch verbrämte Vergangenheit, sondern auf die pragmatisch begriffene Herausforderung ihrer Zukunft berufen, um sich als Volk zu konstituieren.
Tatsächlich ist dies die Idee der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution gewesen. Unter Berufung auf die Fiktion des Gesellschaftsvertrags organisiert sich das Volk als Gesellschaft freier und gleicher Menschen, die sich für berechtigt und befähigt halten, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln (34). Diese Selbstkonstitution des Volkes als Zivilgesellschaft ist zwar weder in den Vereinigten Staaten noch in der Französischen Republik die einzige politische Wirklichkeit geblieben. Auch bei ihnen und anderen demokratisch sich legitimierenden Völkern ist feindliche Bedrohung bis heute ein Medium der gesellschaftlichen und politischen Integration. Doch als eine mögliche Option, die sich oft als Motor politischen Wandels erwiesen hat, hat die Selbstkonstitution ihren festen Platz in der kollektiven Identität dieser Völker behalten.
In Zukunft kann die Menschheit auf die Gefahr hin, sich sonst selbst zu zerstören, sich keine Kriege mehr leisten. Gleichwohl wird sie als Weltgesellschaft nur funktionieren, wenn die Individuen sich in partikularen kollektiven Identitäten verortet wissen. Daher wird es zur zentralen Frage des Überlebens der Menschheit, ob die bisherige Konstitution des Volkes durch Feinde ersetzt und abgelöst werden kann von einer effektiven Durchsetzung der Idee, daß die Völker sich als zivile Gesellschaften selbst konstituieren. Das Ja zum Eigenen würde aus dessen immanenten Anforderungen und nicht mehr über den Umweg einer Abwehr der Verneinung begründet werden, die die eigene Existenz von einer feindlichen Bedrohung erfährt. Die europäische Verfassungsgeschichte hat diese Möglichkeit in die Idee der Republik gefaßt. Denn "die Einheit der Republik ist allein das Werk ihrer Menschen. Indem die Bürger der Republik sich dieses Werk zuschreiben und sich in ihm wiederfinden, entwickeln sie eine kollektive Identität, durch die sie sich von anderen Menschen unterscheiden" (35).
Die nur zu geläufige Kritik an der deutschen Einigung läßt sich in dem Versäumnis zusammenfassen, das "wiedervereinigte" Volk in diesem Sinne als Republik zu konstituieren. Die politische Klasse hat sich fast geschlossen jedem Plebiszit, jeder breiten Verfassungsdiskussion und jeder Selbstorganisation der Gebietsbewohner (unter Einschluß der niedergelassenen "Ausländer") verweigert, durch die diese sich als neues Volk des neuen Staates hätten begreifen können. Statt dessen hat man das überstürzte Handeln der Administration auf den Mythos eines von Natur aus zusammengehörenden Volkes gegründet, das nur noch und rein vegetativ "zusammenwachsen" müsse.
In einem sich selbst konstituierenden Volk gäbe es nicht mehr die Versuchung, innenpolitische Gegner als fünfte Kolonne des äußeren Feindes zu diskriminieren, wie es völkische Nationalisten gegenüber jüdischen, Kalte Krieger gegenüber kommunistischen Bürgern praktizieren konnten und wie es heute wieder denen gegenüber versucht wird, die sich einer Verfassungsänderung verweigern, die das Land gegen Flüchtlinge abschotten soll (Volker Rühe: "SPD- Asylanten"). Die Integration der Gesellschaft wäre nicht mehr darauf angewiesen, daß innenpolitische Antagonismen auf die Folie eines außenpolitischen Freund-Feind-Denkens projiziert und dadurch unterdrückt werden. Wenn eine Gesellschaft ihre Bereitschaft, ihre Fähigkeit und ihre Möglichkeit steigert, interne Konflikte nicht als Gefährdung einer in der Vergangenheit wurzelnden, sondern als Chance einer in Zukunft herzustellenden Integration zu begreifen, kann sie auf die Vorstellung eines von außen drohenden Feindes verzichten.

Erheblich gekürzte und auf aktuelle Fragen zugeschnittene Version eines Beitrags, der Anfang 1993 unter dem Titel "Die Konstitution des Volkes durch seine Feinde" in dem von Wolfgang Benz herausgegebenen Jahrbuch für Antisemitismusforschung Band 2 im Campus-Verlag erscheint.
1) Vgl. hierzu und zu anderen, im folgenden nur angedeuteten Ausführungen: Lutz Hoffmann, Das "Volk", Zur ideologischen Struktur eines unvermeidlichen Begriffs, in: "Zeitschrift für Soziologie", Jg. 20 (1991), Heft 3, S. 191 ff.
2) Johann Gottlieb Herder, Warum wir noch keine Geschichte der Deutschen haben? (1792-1797) Sämtliche Werke (hrsg. v. Bernhard Suphan), Band 18, Berlin 1883, S. 383.
3) Christoph Martin Wieland, Der allgemeine Mangel deutschen Gemeinsinnes und Nationalgeistes (1792), in: Ders., Werke, Berlin o.J., Band 35, S. 254.
4) Ebd., S. 255.
5) Ebd., S. 254 f.
6) Zit. bei Walther Mitzka (Hrsg.), Trübners Deutsches Wörterbuch, Berlin 1956, S. 691.
7) Vgl. Heinz Otto Ziegler, Die moderne Nation, Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Tübingen 1931, S. 115 ff.
8) Gerhard Johann David von Scharnhorst, zit. bei Percy Stulz, Fremdherrschaft und Befreiungskampf, Die preußische Kabinettspolitik und die Rolle der Volksmassen in den Jahren 1811 bis 1813, Berlin (Ost) 1969, S. 31.
9) Ders., zit. ebd., S. 39.
10) Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein, zit. ebd., S. 49.
11) Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit II, in: Ders., Werke (hrsg. v, W. Steffens), 7. Teil, Berlin etc. o.J., S. 83.
12) Ders., Geist der Zeit III, ebd., S. 169.
13) Hermann Baumgarten, Wie wir wieder ein Volk geworden sind (1870), in: Ders., Historische und politische Aufsätze und Reden, Straßburg 1894, S. 241 ff.
14) Ebd., S, 280.
15) Ebd., S. 309.
16) Ebd., S. 316.
17) Ebd., S. 894.
18) Otto von Gierke, Der deutsche Volksgeist im Kriege, Stuttgart-Berlin 1915, S. 6.
19) Georg Simmel, Deutschlands innere Wandlung, in: Ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, Reden und Aufsätze, München-Leipzig 1917, S. 29.
20) Ernst Jünger Vorwort zu: Friedrich Georg Jünger, Aufmarsch des Nationalismus, Berlin 1928, S. XI.
21) Wilhelm Marr, Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum (1873), 10. Auflage, Bern 1879. - Hermann Ahlwardt, Der Verzweilungskampf der arischen Völker gegen das Judentum, Berlin 1890.
22) Dokumentiert bei Walter Boehlich (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt/M. 1956, S. 11.
23) Iring Fetscher, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland, in: Hermann Huss/Andreas Schröder (Hrsg.), Antisemitismus, Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1965, S. 24.
24) Zit. bei Boehlich (Fn. 22), S. 5 f.
25) Ebd., S. 11.
26) Vgl. z.B. Gottlieb Leibbrandt, Bolschewismus und Abendland, Idee und Geschichte eines Kampfes gegen Europa, Berlin 1939.
27) Peter-Michael Pflüger, Feindbild - Selbstbild, Gedanken zur Einführung, in: Ders. (Hrsg.), Freund- und Feindbilder, Begegnungen mit dem Osten, Olten 1986, S. 9.
28) Wilfried von Bredow, Vom Antagonismus zur Konvergenz?, Studien zum Ost-West-Problem, Frankfurt/M., 1972, S. 166 ff.
29) Ernst Nolte, Tod, wo ist dein Stachel? Karl Poppers "Offene Gesellschaft" nach dem Sieg über ihre Feinde, in: "Frankfurter Allgemeine Zeitung", 26. August 1982, S. 26.
30) Vgl. Lutz Hoffmann/Herbert Even, Soziologie der Ausländerfeindlichkeit, Zwischen nationaler Identität und multikultureller Gesellschaft, Weinheim-Basel 1984, - Lutz Hoffmann, Ausländer raus? Ein deutsches Dilemma, in; Hermann Bausinger (Hrsg.), Ausländer-Inländer, Arbeitsmigration und kulturelle Identität, Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Band 67, Tübingen 1986, S. 9 ff.
31) Dr. Lewald (Reichsamt des Innern), Verhandlungen des Reichstages XIII. Legislaturperiode, Sten. Berichte, Bd. 284, Berlin 1913, S. 5303.
32) Zit. bei Gerhard Kade, Die Bedrohungslüge, Zur Legende von der Gefahr aus dem Osten", Köln 1979, S. 16.
33) Vgl. Bernhard Giesen (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität, Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt/M. 1991, S. 255 ff.
34) Vgl. Ulrich Rödel/Günter Frankenberg/Helmut Dubiel, Die demokratische Frage, Frankfurt a.M. 1989.
35) Lutz Hoffmann, Die unvollendete Republik, Zwischen Einwanderungsland und deutschem Nationalstaat, 2., erweiterte Auflage, Köln 1992. In diesem Buch wird die Idee der Republik systematisch begründet und mit deren historischen und staatsrechtlichen Defiziten in Deutschland konfrontiert. Vgl. auch ders., Nicht die gleichen, sondern dieselben Rechte. Einwanderungspolitik und kollektive Identität in Deutschland, in: "Blätter", 9/1992" S. 1090 ff.
Quelle: Blätter für deutsche und internationale Politik 11/92

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Most recent revision: April 07, 1998

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