aus: Das Manifest der 60
Deutschland und die Einwanderung


Das vereinigte Deutschland hat Probleme. Eines davon ist der Umgang mit Migration und ihren Folgen. Wissenschaftliche Kritik, Warnungen und Appelle gab es zuhauf. Dennoch wurde dieses Feld von der Politik lange ignoriert. Die sonst so ereignisreichen 1980er Jahre blieben deshalb in puncto Migration ein verlorenes Jahrzehnt.
Die gesellschaftlichen Folgen der politischen Versäumnisse sind unübersehbar. Die wachsende Fremdenfeindlichkeit in Deutschland ist weder allein pathologischer Ausdruck einer allgemeinen Zivilisationkrise am Vorabend der Jahrtausendwende noch 'natürliche' Reaktion auf Zuwanderungsdruck. Sie ist auch ein aggressive Antwort auf fehlende Konzepte in der Migrationspolitik.
Die offene Diskussion der einschlägigen Probleme wird heute erschwert durch die Versäumnisse von gestern und die dadurch noch gesteigerten Berührungsängste gegenüber dem hoch emotionalisierten Thema 'Einwanderung` Wenn aber heute gesagt wird, die seit mehr als einem Jahrzehnt überfällige Debatte um Einwanderungsgesetzgebung und Migrationspoltik sei der Öffentlichkeit nicht zuzumuten und nur geeignet, die Fremdenfeindlichkeit zu erhöhen, dann werden Ursachen und Folgen verkehrt.
Wir wollen nicht lamentieren, sondern argumentieren. In der Sache ist, zum Teil schon seit Jahren, fast alles gesagt. Es geht darum, die verfügbaren Argumente in der exemplarischen Zusammenschau zu bündeln und in die politische Diskussion zu bringen als Grundlage für das Bemühen um einen tragfähigen Konsens.
Die weltweiten Wanderungs- und Fluchtbewegungen sind individuelle und gesellschaftliche Antworten auf politische, ökonomische und ökologische Krisensituationen. Diese Herausforderung gegenüber kann auch ein Land von der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands für sich allein wenig bewirken. Gesamteuropäische Lösungen sind gefragt. Als dem meist erstrebten Wanderungsziel in Europa kommt Deutschland für die Entwicklung und Umsetzung entsprechender Konzepte eine besondere Verantwortung zu. Voraussetzung dazu aber ist, die in den eigenen Grenzen anstehenden Probleme auch dort zu bewältigen und nicht an die Adresse Europas zu delegieren. Je mehr an ungelösten nationalen Problemen in die europäische Zukunft vertagt wird, desto schwieriger wird der Weg dorthin.
Im Umgang mit Migration geht es überdies nicht nur um globale und gesamteuropäische Aufgaben, sondern auch um einige Interessen auf nationaler Ebene: Eine weitere Vernachlässigung der politischen Hausaufgaben im Problemfeld Migration gefährdet den inneren Frieden und kulturelle Toleranz im vereinigten Deutschland. Es geht um die Situation von Einheimischen und Zuwanderern auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, in den Schulen, im Alltag von heute. Es geht um die gegenseitige Akzeptanz von deutscher Mehrheit und zugewanderten Minderheiten. Und es geht um den Sozialstaat von morgen, um die Sicherung seiner sozialen Leistungssysteme bei eine alternden und schrumpfenden Bevölkerung. Ihre Abnahme in absoluten Zahlen wurde bislang noch durch Zuwanderung aufgefangen. Wahrscheinlich werden in Zukunft weit stärker auf solche Hilfe von außen angewiesen sein, als wir uns dies heute vorstellen können und wollen.
Aber Einwanderer sind keine beliebige verfügbare Reserve, zumal dann nicht, wenn sie aus anderen Teilen Europas stammen oder gar deutschstämmig sein sollen. Das überall in Europa schrumpfen die Geburtenzahlen. Auch die 'Volksdeutschen' in Polen, Rußland und Zentralasien sind kein unerschöpfliches Reservoir.
Zuwanderung kann ein Beitrag zur Lösung innerer Probleme ohnehin nur dann sein, wenn einheimische Mehrheit und zugewanderte Minderheiten neben- und miteinander leben können. Das verlangt von beiden Seiten ein gewisses Maß an Integrationsbereitschaft. Sie hat kulturelle, aber auch ökonomische Voraussetzungen: Am günstigsten sind sie, wenn Einwanderer wirklich gebraucht werden, für ihren Lebensunterhalt sorgen und ihren Beitrag zur Sicherung des Generationenvertrages leisten können. Umgekehrt kann MIgration auch destabilisierend wirken, wenn die Mehrzahl der Zugewanderten auf Sozialleistungen angewiesen bleibt und am Rande der Gesellschaft, in einer Getto-Situation oder gar in der Illegalität lebt.
Nach innen geht es im die Zukunft des Sozialstaates, für die Zuwanderung und Eingliederung eine erhebliche Rolle spielen werden, und um den sozialen Frieden bei anhaltender Zuwanderung. Nach innen und außen geht es einerseits um Einwanderungsgesetzgebung und Migrationspolitik, andererseits um die Aufnahme von Flüchtlingen und die Bekämpfung der Fluchtursachen.
In diesem umfassenden Aufgabenbereich haben wir uns in diesem Manifest klare Prioritäten gesetzt: Es geht um Deutschland und die Einwanderung. Der humanitäre Bereich von Flucht und Asyl wird hier nicht zentral thematisiert. Nicht weil wir ihn für unwichtig halten, sondern weil wir ihn für zu wichtig halten, um ihn von vornherein in die Diskussion um die ganz anders ausgerichteten Fragen von Einwanderungsgesetzgebung und Einwanderungspolitik einzubeziehen.
In Flüchtlingsfragen geht es um Hilfe durch Schutz und Asyl und um die Bekämpfung der Fluchtursachen. In Einwanderungsfragen aber geht es vornehmlich um die Interessen und Probleme des Einwanderungslandes. Vor diesem Hintergrund fragt das Manifest nach Aufgaben für Politik in Deutschland. Europäische und globale Perspektiven bieten Rahmenbezüge.
1.Tabu Migration: Belastungen und Herausforderungen in Deutschland

1.1 Deutsch-deutsche Erfahrungen
Im Saldo der Wanderungsbilanz haben sich für Deutschland in den letzten 10 Jahren die Vorzeichen umgekehrt. Aus dem Auswanderungsland des 19.Jahrhunderts wurde ein Einwanderungsland neuen Typs. Seit dem zweiten Weltkrieg hat sich dieser Wandel im Westen Deutschlands enorm beschleunigt.
In der Geschichte von Wanderung und Eingliederung überwogen in den beiden deutschen Staaten unterschiedliche Entwicklungen und Erfahrungen. Das galt schon für die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen. Sie wurden im Westen appelativ 'Heimatvertriebene', im Osten schönfärberisch 'Umsiedler' genannt. Was im Westen jahrzehntelang von einflußreichen Vertriebenenorganisatoren öffentlich als 'Recht auf Heimat' eingefordert wurde blieb in der DDR als 'Umsiedlerproblematik' tabuisiert mit Rücksicht auf die östlichen Nachbarn. Das gleich galt dort für die öffentliche Beschäftigung mit den traumatischen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung. Von der Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen abgesehen, dominierten in der DDR bis zum Bau der Mauer 1961 und in abnehmenden Umfang auch danach im Gegensatz zur Bundesrepublik nicht Zuwanderung und Eingliederung, sondern Abwanderung und Ausgliederung durch Übersiedlung oder Flucht in den Westen.
Der Mauerbau im Osten aber beschleunigte im Westen nur den Weg zum unwilligen Einwanderungsland; denn hier seit Mitte der 1950er Jahre unter staatlicher Mitwirkung begonnene Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte wurde nach dem Ende des Zustroms aus der DDR um so mehr forciert. Die 'Gastarbeiterfrage' der 1960er und frühen 1970er Jahre trug in der Bundesrepublik schon Ende der 1970er Jahre unverkennbare Züge eines echten Einwanderproblems. Das wiederum wurde im Westen regierungsamtlich dementiert, im politischen Entscheidungsprozeß verdrängt und im Verwaltungshandeln tabuisiert. Großkonzepte für Einwanderungsfragen blieben, nur folgerichtig, aus.
Auch in der DDR gab es - in vergleichsweise kleiner Zahl und meist im Zeitvertrag - ausländischer Arbeitskräfte. Offiziell und vor allem gegenüber dem 'kapitalistischen Ausland' wurde die Existenz des sozialistischen Arbeitskräfteimports in der Regel totgeschwiegen. Im Innern wurden die damit verbundenen Probleme tabuisiert, die ausländischen Heloten oft durch separate Unterkünfte auf Distanz zur einheimischen Bevölkerung gehalten.
In den Prozeß der Vereinigung brachten die einander fremd gewordenen Deutschen, neben vielen anderen ungelösten Fragen, auch in beiden deutschen Staaten unbewältigte Probleme im Umgang mit Fremden ein, ganz zu schweigen von der gemeinsamen Last der deutschen Geschichte gerade in diesem Bereich.

1.2. Eingliederungsprobleme im vereinigten Deutschland
Das vereinigte Deutschland der 1990er Jahre ist mit einer neuen Eingliederungssituation konfrontiert. Sie ist komplexer und unübersichtlicher als die beiden vorausgegangen - die Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen bis Mitte der 1950er Jahre und der im Westen anschließende Weg von der 'Gastarbeiterfrage' zum tabuisierten Einwanderungsproblem. Die neue Eingliederungssituation umfaßt mehrere Gruppen von ausländischen und einheimischen 'Fremden':
Es gibt in Deutschland nach wie vor die seit den späten 1970er Jahren entstandene, paradoxe Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland und Einwanderungsentscheidung. Darin leben, als einheimische Ausländer, die meisten der heute schon bis zu drei Generationen umfassenden Familien aus der früheren 'Gastarbeiterbevölkerung' - de jure Ausländer, de facto Einwanderer.
Die zweitgrößte zugewanderte Minderheit bilden die fremden Deutschen aus Ost- und Südosteuropa, die seit dem letzten Drittel des vergangen Jahrzehnts jährlich zu Hunderttausenden als Aussiedler 'zurück' ins Land ihrer Vorfahren kamen - de jure Deutsche, de facto auch Einwanderer.
Dazu kommt, als drittgrößter Problembereich, die in den 1980er Jahren ebenfalls stark angestiegene, seit Juli 1993 durch das neue Asylrecht gebremste Zuwanderung ausländischer Flüchtlinge. Schwer abschätzbar, aber zweifelsohne hoch ist die Zahl der illegal anwesenden Ausländer, die seit dem 'Asylkompromiß' noch gestiegen sein dürfte.
Daneben stehen deutsch-deutsche Eingliederungsfragen und Entfremdungserfahrungen: Noch längst nicht bewältigt sind im Westen die Identitätsprobleme vieler Übersiedler aus der ehemaligen DDR. IM Osten gibt die einseitige Überformung durch den Westen vielen Menschen das Gefühl, Fremde im eigenen Land geworden zu sein. Diese innere Entfremdung hat die im Osten Deutschlands ohnehin wenig geübte Begegnung mit von außen zugewanderten Fremden noch weiter erschwert.
In der Unübersichtlichkeit der neuen Einwanderungssituation wird Zuwanderung von vielen Menschen als Bedrohung empfunden. Das hat der rechtsradikalen Agitation ein gefährliches Thema geliefert. Fremdenfeindliche Sündenbocktheorien und Projektionen wurden verstärkt durch soziale Angst und Ratlosigkeit, Orientierungsmangel und Perspektivlosigkeit, Wertediffusion und eine schleichende gesellschaftliche Entsolidarisierung.

1.3. Das verlorene Jahrzehnt der 1980er Jahre
Fremdenfeindliche Abwehrhaltungen haben auch zu tun mit einer heute schon historischen Bringschuld bundesdeutscher Politik. Sie kommt aus dem Versteckspiel mit der Wirklichkeit im für die Gestaltung der Einwanderungssituation verlorenen Jahrzehnt der 1980er Jahre. Es ist spät geworden in der Diskussion um Einwanderung und Eingliederung in Deutschland: Anfang der 1980er Jahre wurde bereits gefragt, ob es für die hier anstehenden Aufgaben noch 'fünf vor zwölf' oder schon 'fünf nach zwölf Uhr' sei. Geschehen ist seither wenig. Wieviel Uhr mag es heute sein?
Umfassende gesetzliche und politische Antworten auf die Herausforderung durch die Migration und ihre Folgen fehlen nach wie vor. Mehr als ein Jahrzehnt lang galt als kleinster Nenner aller einschlägigen regierungsamtlichen Statements die parteiübergreifende Lebenslüge: 'Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland'. Sie hat einen der wichtigsten und, bei Vernachlässigung, gefährlichsten gesellschaftlichen Gestaltungsbereiche tabuisiert und damit blockiert. Ausländerpolitik ist keine Antwort auf Einwanderungsfragen.
Mit der ungeregelten Einwanderung und der demagogischen Auseinandersetzung darüber wuchs die Angst vor den Fremden. Als die Angst von 'unten' auf die Konzeptionslosigkeit von 'oben' traf, schlugen 'unten' Irritationen, Frustrationen und soziale Ängste um: bei den einen in politische Apathie bzw. 'Politikverdrossenheit', bei anderen in gewaltbereite Fremdenfeindlichkeit bzw. fremdenfeindliche Gewaltakzeptanz. Das waren nicht etwa nur unvermeidliche Folgen von Einwanderung und Eingliederung, sondern auch vermeidbare Folgen ihre mangelnden politischen Gestaltung. Längst überfällig ist für alle Problembereiche und Folgeprobleme des Wanderungsgeschehens eine umfassende auf klare Rechtsgrundlagen gestützte Politik für Migration, Integration und Minderheiten. Sie muß mit nüchternen Bestandsaufnahmen beginnen. Sie muß daraus den politischen Gestaltungssbedarf ableiten und die dazu nötigen Handlungsspielräume schaffen. Sie muß langfristig angelegt sein und alle Politikbereiche gegeneinander abwägen: von der Wirtschaftspolitik über die Sozialpolitik bis zur Kulturpolitik.
Voraussetzung dazu sind Gesamtkonzepte, hervorgegangen aus einer offenen Generaldebatte über die Zukunft von Bevölkerung, Wirtschaft, Politik und Kultur in Deutschland. Eine solche Debatte ist belastet durch politische Versäumnisse, unausgetragene Konflikte, verkrampfte Positionen und das mangelnde, bestenfalls in wechselseitiger Schuldzuschreibung akzeptierte Eingeständnis verlorener Handlungschancen im vergangenen Jahrzehnt und früher. Im gemeinsamen Interesse an der Gestaltung der Zukunft und an der Sicherung von sozialen Frieden und kultureller Toleranz im Innern muß es dennoch gelingen, konsensfähige Perspektiven zu finden. Nötig dazu ist eine De-Eskalation der hoch emotionalisierten Migrationsdiskussion und die Bereitschaft zum pragmatischen Dialog über die gemeinsamen Probleme.
Jede weitere politische Erkenntnisverweigerung oder Tabuisierung, jede defensive Verdrängung oder Vernachlässigung dieses innenpolitisch brisanten Themas, jede weitere Flucht aus der Handlungsverantwortung aus Angst vor dem Bürger als Wähler käme fahrlässiger Selbtgefährdung gleich. Die Migration und ihre Folgen werden Deutschland und Europa auch in Zukunft begleiten: von den Wanderungen im europäischen Binnenmarkt und an seinen Rändern bis zum kontinentalen und interkontinentalen Wanderungsdruck in Ost-West- und Süd-Nord-Richtung.
Deutschland allein kann die Wanderungsproblematik der Welt nicht lösen. Aber es kann und muß, auch im eigenen Interesse, auf nationaler und europäischer Ebene seinen Beitrag dazu leisten. Dabei müssen die Hintergründe des weltweiten Wanderungsgeschehens und die Problemlagen in Europa als Rahmenbezüge im Auge behalten werden.
Verfasser Klaus Bade

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Most recent revision: April 07, 1998

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