Claudia Schöning-Kalender
Multikulturalität - Versuch über Dimensionen von Differenz


Multikulturalität war das Stichwort der Saison in der Bundesrepublik Deutschland, bis die Rassisten medienwirksam zuschlugen. Seitdem ist es seltsam still geworden um die multikulturelle Gesellschaft, gerade, als ginge es nun darum, die nackte Haut des demokratischen Rechtsstaats zu retten, als sei die Multikulturalität einer Gesellschaft schmückendes Beiwerk für friedliche Zeiten, nicht aber zentraler Bestandteil des Selbstverständnisses ihrer Mitglieder.
Im Moment, drei Jahre nach der Vereinigung von Deutschland-West und Ost, sind die Zeiten nicht friedlich in Deutschland, und so scheint es nicht opportun, weiterhin öffentlich über Modelle von Multikulturalität und über die notwendige politische Unterstützung zu deren Realisierung zu streiten. Zwar hat sich nach dem Mordanschlag in Mölln, bei dem drei Menschen ums Leben kamen, die Stimmung in Deutschland entscheidend verändert - es waren Frauen und ein kleines Mädchen, die getötet wurden, sie stammen aus der Türkei, gehören also zu den Menschen, die schon viele Jahre in Deutschland leben, und der Anschlag geschah mitten im Ort, her war auch Nachbarschaft getroffen, hier hatte die Gefahr offensichtlich ein neues Gesicht, die Betroffenheit eine andere Dimension bekommen-, und die seitdem nicht abreißenden Lichterketten drücken in erster Linie eine moralische Betroffenheit aus, deren tatsächliche politische Folgen noch nicht eindeutig erkennbar sind. Allerdings wird darin deutlich, von welcher Bedeutung Wanderungsbewegungen und der regulierende Umgang mit Grenzen und Gesetzen wie auch die Setzung gesellschaftlicher Leitlinien in diesem Zusammenhang zur Zeit in Deutschland sind.
Das Thema Multikulturalität ist in Deutschland untrennbar mit dem Topos "Einwanderungsland" verknüpft, obwohl die offizielle Leitlinie nach wie vor lautet: "Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland". Die Einwanderung als Faktum ließe sich leicht nachweisen mit den Zahlen derer, die gestern gekommen und heute geblieben sind; doch welche Formen und Modelle des Zusammenlebens sich daraus ergeben, ob Einwanderung und Multikulturalität Bestandteil des Bildes von der eigenen Gesellschaft werden, ist abhängig von der Wahrnehmung und vom Konsens der Gesellschaftsmitglieder. Dabei sind diese Wahrnehmung und der Konsens der Gesellschaftsmitglieder im derzeitigen Prozeß der Selbstvergewisserung selbst auf dem Prüfstand, einem Prozeß, der zu Teil auf die deutsche Vereinigung zurückzuführen ist, zum Teil auch auf die (Industrie-)weltweite kritische Auseinandersetzung mit der Moderne. Das vielfach (herbei-)zitierte Ende der großen Erzählungen, der konsensstiftenden und häufig genug auch konsenserzwingenden Ideen und Institutionen, bedeutet einen notwendigen neuen Umgang mit Vielfalt, die sich keineswegs in ethnische und nationalkulturellen Unterschieden erschöpft.

Was nun bedeutet Multikulturalität?
Ich beginne mit einer Form der Multikulturalität, die zwar vielfach beschworen wird, um Zögerliche im wahrsten Sinne des Wortes "auf den Geschmack" zu bringen, eine Form der Multikulturalität, die aber meines Erachtens nur bedingt an die Einwanderung, viel stärker dagegen an die Internationalisierung des Warenverkehrs geknüpft ist: die Vielfalt der Konsumkultur. Oft genug wird in politischen Reden auf die "Bereicherung" unserer Alltagskultur durch griechische Kneipen, türkische Döner und italienische Pizza hingewiesen: kulinarische Vielfalt, sei es auf den Märkten oder in der Auswahl an Spezialitätenrestaurants, Vielfalt in der Freizeitkultur, Ethnolook, Ethnopop und Ethnotanz zum Beispiel, zu denen aber meins Wissen bisher weder die Tracht der Schwälmer Bäuerin noch der bayrische Schuhplattler gehören.
Kein Straßenfest und kein Gewerkschafts-1. Mai ohne die obligatorische Folklore (türkisch, griechisch, früher jugoslawisch), und wenn der Kaufhof Orient-Wochen zelebriert, dann wird für die Teppich-Knüpfvorrichtung eine "Orientalin" eingeflogen oder eine einheimische Türkin mit einem Folklore-Kostüm zur Kenntlichkeit entstellt.
Diese Entwicklung ist in erster Linie ein Konsum-Multikulturalismus, unterstützt und mitgetragen von einer Werbebranche, die die Grenzenlosigkeit der Warenwelt in einem bunten Kosmopolitismus übersetzt ("United Colours of Benetton", "Come together, be frieds with Stuyvesant"), ein Multikulturalismus, der nicht unbedingt abhängig ist von der Anwesenheit einer entsprechenden nationalen Gruppe. Auch der inzwischen auf jedem größeren Markt fast obligatorische provencalische Stand mit Kräutern, Käse und Oliven wird von Deutschen betrieben, nicht von Franzosen. Wichtiger noch als die Anwesenheit der entsprechenden Gruppe in Deutschland scheint die Reise- und Urlaubserfahrung der KundInnen zu sein, die Sehnsucht nach dem anderen Leben. Möglicherweise hätte auch das Warenangebot der Einwanderungsgruppen aus der Türkei, Griechenland, Spanien etc. keine Chance gehabt ohne diese Reiseerfahrungen; ich wage die These, daß nicht die Begegnung der Nähe, sondern die in der Ferne, nicht der Mittagstisch des türkischen Nachbarn, sondern die Erinnerung an Antalya und Anatolien zur Akzeptanz des Warenangebots geführt hat. Ebensowenig bedeutet der Umgang mit fernöstlichen Gewürzen und Kräutern der Provonce eine Neugier auf die Kochtöpfe von EinwanderInnen, sie sind vielmehr Geruchsbilder für Träume und Phantasien von anderen Lebensformen. Darüber hinaus ist diese sogenannte kulinarische Multikulturalität genau das, als was sie häufig gutgemeint naiv bezeichnet wird: eine Bereicherung deutscher Konsum-Kultur im doppelten Sinne; nur wer es sich leisten kann, hat Anteil an den vereinheitlichenden und vereinheitlichenden Marktstrukturen dieser Welt und damit zugleich auch Zugang zu ihrer Vielfalt.
Auf einer zweiten Ebene steht das Postulat der Multikulturalität als einer notwendigen Folge von Einwanderung bzw. als die kulturelle Seite der Einwandergesellschaft. So sehr jedoch das Einwanderungsland Deutschland als Faktum mit Zahlen zu belegen ist, so wenig wird es bis heute bestätigt, weder durch Gesetze und durch Politik noch durch eine spürbar breite Akzeptanz und Toleranz gegenüber dem "Anderssein": sei es Hautfarbe, Sprache, Kleidung etc. Die "Nation als Abstammungsgemeinschaft mit gemeinsamer Kultur und Geschichte"(Heckmann 1992, S. 68) läßt neue und "andere" Mitglieder kaum zu.
Menschen nichtdeutscher Herkunft, auch wenn sie in Deutschland geboren sind (das sprachliche Paradox bezeichnet lediglich das inhaltliche"), unter liegen einer Sondergesetzgebung, die selbst für ExpertInnen schwer zu durchschauen ist. Allein die Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit (der Begriff Annahme" darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es höchst schwierig ist, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erlangen) befreit aus diesem Sonderstatus, zumindest aus dem rechtlichen. Aus dem kulturellen Sonderstatus befreit sie keineswegs, wie die vielfältigen Alltagserfahrungen von Menschen mit dunkler Hautfarbe oder fremd klingenden Namen bestätigen. So müssen Deutsche immer wieder auf die Frage reagieren, wo sie denn so gut Deutsch gelernt haben, und einem, der Abdul heißt, wird in deutschen Amtstuben die deutsche Staatsangehörigkeit nur widerwillig und auf Nachweis geglaubt. Die Wahrnehmung der deutschen Gesellschaft als einer mulitikulturellen ist bis hierher noch nicht gedrungen.
Das mag diejenigen nicht berühren, die sich als Kosmopoliten verstehen, die über die notwendigen materiellen und ideellen Ressourcen, über das ökonomische wie über das kulturelle Kapital verfügen, um sich ihren (geistigen und realen) Ort zu wählen.
Für den überwiegenden Teil der Einwanderer und EinwanderInnen (und übrigens auch der Deutschen) ist diese Wahlmöglichkeit nicht gegeben. Zwar spielen auch viele auch nach Jahrzehnten noch gedanklich mit den vielen Varianten des Bleibens und des Gehens, inzwischen verteilen sich die verschiedenen Realisierungen dieser Gedankenspiele über mehrere Generationen. Dies ist jedoch nicht der Kosmopolitismus, der eine generelle Unabhängigkeit von Orten und damit auch deren freie Wahl impliziert, sondern es ist ein Leben in verschiedenen Welten, das den betroffenen MigrantInnen jeweils sehr spezifische Orte bereithält, andere dagegen verwehrt. Dies gilt für EinwandererInnen in Deutschland, zum Beispiel aus der Türkei, in mehrfacher Hinsicht. Zum einen schreiben Ihnen Gesetz und Politik einen (segregierten) Ort in der Gesellschaft vor, der eine flexible und den eigenen Bedürfnissen angemessene Teilhabe an Kultur und Gesellschaft in der Regel unmöglich macht. Zum anderen haben sie bereits einen Ort in der Wahrnehmung der einheimischen Bevölkerung, sie werden nicht als fremd im Sinne von 'unbekannt', sondern als fremd im Sinne von 'andersartig' wahrgenommen. Diese Wahrnehmung und dieses Wissen ist den meisten TürkInnen unbekannt, in ihrem Repertoire kommt hauptsächlich die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft im ersten Weltkrieg vor, und so mancher türkische Großvater hat auf der Grundlage dieses Wissen seinem Enkel geraten, als Arbeiter nach Deutschland zu gehen. Ganz anders das Repertoire der Deutschen: Hier sind ganz andere Erfahrungen wirksam, vermittelt über Jugendlektüre und Deutschstunde (Karl May und Ludwig Uhland), den Geschichtsunterricht und den Kinderchor ("die Türken vor Wien" und das Lied vom C-A-F-F-E-E, dem "Türkentrank"), über frühere Alltagsbegegnungen und Phantasiebilder (Gewürzhändler auf bayrischen Märkten - Kümmeltürken - und Orientphantasien europäischer Künstler). Wenn es, wie so häufig, in gutgemeinten Appellen heißt, wir müßten nur mehr voneinander wissen, um einander zu verstehen(Essinger 1986), so scheint mir zuallererst ein Austausch darüber notwendig, was wir tatsächlich voneinander "wissen" (Vgl. Schöning-Kalender 1987). Dieses Wissen ist kein statisches und kanonisiertes, es wird überlagert durch neues Wissen und vermischt mit persönlichen Erfahrungen, unterliegt auch Wertverschiebungen. Eine solche Verschiebung hat es offensichtlich unter der Schockwirkung von Mölln gegeben, die Angegriffenen und Getöteten waren keine Fremden, auch keine Anderen, es waren Nachbarinnen, Unsrige. Gegenüber dieser existentiellen Erfahrung, die weit über die betroffenen Menschen und den Ort hinaus Wirkung gezeigt hat, tritt anderes Vorwissen zurück, wird vielleicht zur Anekdote, geht aber ganz sicher nicht verloren.
Nicht zuletzt bringen die Menschen kulturelles Gepäck mit, das sie je nach vorgefundenen Möglichkeiten auch "auspacken". So sind zum Beispiel bestimmte Entwicklungen innerhalb der türkischen Bevölkerung in Deutschland, etwa die der ethnischen Koloniebildung, nur zum Teil auf sozial und strukturell erzwungene Segregation, z.B. auf dem Wohnungsmarkt, zurückzuführen. Die Hochzeits- und Beschneidungsfeste etwa, zu denen bestimmte Herkunftsgruppen z.T. aus ganz Europa zusammenkommen, sind damit nicht zu erklären. Friedrich Heckmann, der für die BRD auf der Grundlage amerikanischer Forschungen das Konzept der ethnischen Kolonie als Gesellschaft de Einwanderer entworfen hat (Heckmann 1981), spricht von einem "sozial relevanten Raum" (ein Konzept, dem in der Volkskunde womöglich das der "Territorialität des Menschen" von Ina Mara Greverus korrespondiert); für ihn wie für den Pädagogen Georg Auernheimer gehört Akzeptanz dieses "Raumes", ein Stück kultureller Autonomie der Einwanderungsgruppen, zur Multikulturalität einer Gesellschaft (Auernheimer 1992). Das heißt, auch durchaus sichtbare Grenzen zwischen verschiedenen Lebenswelten und Orientierungssystemen sind zu akzeptieren. Hier wir das Recht auf kollektiven Eigen-Sinn, auf das Anders-Sein als Gruppe eingefordert, nicht zuletzt auch als mögliche Quelle von Macht und Einfluß (Lobby) in einer sich verändernden Gesellschaft.
Problematisch an diesem Konzept (das empirisch vielfach belegbar ist) ist die Grenzziehung entlang ethnischer Linien; sozialer Stratifikation und vor allem Geschlechterbeziehungen geraten aus dem Blickfeld.
Dabei ist doch stets von den Frauen die Rede. Längst sind die "verschleierten türkischen Frauen" zur Metapher der Bedrohung geworden: Den einen gilt ihr äußeres Erscheinungsbild und ihr Auftreten als Nachweis dafür, daß sie nicht in eine zivilisierte, abendländische Gesellschaft passen, sowenig wie die Männer, von denen sie unterdrückt werden. Sie dienen als Gegenbild zu unserer aufgeklärten, emanzipierten Gesellschaft, dessen Bild sie durch ihre Präsenz "verunzieren". Andere sehen in diesen Frauen den Inbegriff der Gefahr, die hinter der Akzeptanz des Anderen lauert: Akzeptanz der Unterdrückung, der Gewalt gegen Frauen unter dem Deckmantel der "anderen Kultur". Die Vehemenz, mit der um diesen Punkt gestritten wird ruft einen Satz von Julia Kristeva in Erinnerung: "Blieben wir also auf dem Plan der Kultur und versuchen wir, uns als Fremde wiederzuerkennen, um die Fremden außer uns angemessener zu würdigen, anstatt alle Mühe darauf zu verwenden, sie den Normen unserer eigenen Verdrängung anzupassen"(Kristeva 1992)
Ganz ähnliche Gefahren der Multikulturalität auf der Basis segredierter "sozial relevanter Räume" sehen angehörige Frauen dieser Minderheit selbst: Sie sind bestimmten patriarachalischen Zwängen um so mehr ausgesetzt, als ihr Verhalten auch von der eigenen Gruppe als Bedrohung wahrgenommen wird. Dies passiert vor allem dann, wenn sie in ihren Meinungen und in ihrem Verhalten von Gruppennormen abweichen und z.B. ihrer weiblichen Identität mehr Bedeutung beimessen als der ethnischem. Im heutigen Kroatien führt ein solches Verhalten der Frauen zu ihrer existentiellen Bedrohung: Als "Verschwörerinnen" werden Journalistinnen gebrandmarkt, weil sie die Kriegsverbrechen an Frauen in Bosnien und Herzegovina nicht unter "völkischen" Aspekten zum weiteren Anheizen des Hasses mißbraucht sehen wollen, weil sie nach wie vor auf Kategorien der Moral, demokratischer und Frauenrechte beharren (Messow 1993). Die hier aufgezeigten Dimensionen der Benutzung von Frauen als Verkörperung einer Idee, einer Gruppe, einer Kultur bezeichnet Therese Wobbe als "Verletzungsoffenheit" der Frauen (Wobbe 1992).
Auf einer weniger dramatischen Ebene wird durchaus auch die empirische und definitorische Rekonstruktion der ethnischen Kolonie durch die Wissenschaft von jungen Frauen (u.a. der sogenannten 2. Migrantengeneration) als Bedrohung empfunden: Mit diesem Konzept wird unter Umständen eine lebensweltliche Enge wissenschaftlich beschworen, der sie mit viel Kraft und Phantasie zu entkommen versuchen, ohne sie für sich völlig zu zerstören. Sehr deutlich wurde mir dies am Beispiel einer jungen sehr begabten Türkin, die bei dem Versuch, Konzepte von ethnischer Kolonie in einer Arbeit kritisch zu diskutieren und empirisch zu belegen, in Konflikt geriet und fast scheiterte. Der Konflikt war vor allem dadurch ausgelöst, daß sie zwar aus eigener Erfahrung jede Menge Beispiele zum Beleg der Existenz von ethnischer Kolonie anführen konnte, daß diese aber auch einen wichtigen Teil ihrer Sozialisisation ausmachten, daß sie sich aber zugleich heftig dagegen wehrte gegen ein Definition von außen (aus der Sicht deutscher Wissenschaft) und möglicherweise gegen eine Defintionsmacht über ihre subjektiven Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit.
Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß sie jungen Menschen Multikulturalität nicht von Bedeutung bzw. nur negativ besetzt ist.
Hier tritt ein anderes Konzept von Multikulturalität in den Vordergrund, das nicht allein von ethnischen nationalen Grenzziehungen ausgeht, sondern vielmehr die Zwischenwelten (Hettlage/Hettlage-Varjas) betont. Zwar werden auch hier Grenzen nicht geleugnet, doch sind sie weniger Trennung als vielmehr Übergänge zwischen den Welten, ermöglichen es, eindeutige Festlegungen zu vermeiden, ermöglichen es auch, nicht zwischen, sondern mit zwei, drei, vielen Kulturen zu leben, ermöglichen es auch, die Pluralität der eigenen Identität zu leben, eine Pluralität, die jenseits von ethnischer und nationaler Zugehörigkeit in den "Binnenraum des Ichs" (Paul Valéry) hineinreicht. In der poststrukturalistischen Theorie wird dieses Denken als Dezentrierung des Subjekts beschrieben(Weedon 1990: 49), Robert Musil sprich bildhaft von den neun Charakteren des Menschen, denen er einen zehnten hinzufügt, der "nichts (ist) als die passive Phantasie unausgefüllter Räume...Dieser, wie man zugeben muß als in England, weil das, was sich von ihm abhebt, andre Form und Farbe hat..."(Musil 1970: 34)
Ein derart weit gefaßter Zugang zur Multikulturalität löst Festlegungen, hebt aber auch Sicherheiten auf. Claus Leggewie bezeichnet die multikulturelle Gesellschaft als "Chiffre für den Dauerzustand sozialer Heterogenität, den es noch zu denken gilt, während wir ihn längst zu leben (und zu erleiden) begonnen haben."(Leggewie: 1991: 12)
Hier wird angedeutet, daß multikulturelle Gesellschaft keineswegs nur Frohsinn erzeugt, wo sie denn existiert, sondern daß sie auch erlitten wird und ausgehalten werden muß, daß sie auch Verlust bedeutet: "Es gibt in ihrem sozialen Strukturen kein Zentrum mehr, keine formalen oder diskursiven Identitäten und Oppositionen, sondern nur eine unendliche 'Spur von Differenzen'"(Leggewie 1991: 12)
Die Pluralität multikultureller Lebenswelten radikalisiert noch einmal den rasanten Dauerprozeß der Zerlegung und Differenzierung, welche sich die Postmoderne zum Thema gemacht hat. Als "neue, wirklich inter-nationale Moderne"(Micha Brumlik) verstanden, entgrenzt sie nationale Bornierungen und stellt zivile, religiöse und zivilreligiöse 'Großerzählungen' der Neuzeit in Frage"(ebd.) Große, fast dröhnende (wüßte ich genau, was das ist, würde ich sagen "männliche") Worte, die uns die Zeichen der Zeit interpretieren helfen sollen und doch alles eher verdunkeln. Die "Pluralität multikultureller Lebenswelten", was heißt denn das? Das sind doch nicht die Auberginen auf dem Markt, auch nicht die internationalen Straßenfeste, die die Großerzählungen der Neuzeit in Frage stellen, es sind ganz offensichtlich auch nicht die Flüchtlinge in ihren Unterkünften oder die EinwanderInnen in ihrer ethnischen Kolonie, die zur Entgrenzung nationaler Bornierungen beitragen...Hier ist nicht mehr die Rede von den profanen Niederungen des konfliktbeladenen Alltags, dies ist vielmehr der mit wenigen prägnanten Strichen gezeichnete Entwurf einer Postmoderne, die für sich ebenfalls das Etikett "Multikulturelle Gesellschaft" in Anspruch nimmt. In der Version von Wolfgang Welsch ist sie dadurch charaktierisiert, "daß wir mit einer zunehmenden Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen, Wissenskonzeptionen und Orientierungsweisen konfrontiert sind" (Welsch 1988: 23). Auf welcher Art von Differenz diese unterschiedlichen Lebensformen etc. beruhen, ob auf ethnischer, sozialer, geschlechtsspezifischer, ist hier nicht mehr thematisiert, es scheint nicht von Bedeutung zu sein. Wohl aber ist thematisiert, welches die Handlungsmaximen für die Existenz in einer solchen radikal pluralen Gesellschaft sein sollen: "Vom einzelnen, gerade auch dem in Entscheidungslagen Stehenden, verlangt die postmoderne Situation Grenzbewußtsein, Grenzbeachtung und Vielheitsblick." (Welsch 1988: 63) Angesichts der laufenden politischen Ereignisse bin ich geneigt, diese Erwartung als völlig realitätsfremd abzutun, wäre da nicht eine, der ich mehr Autorität zubillige, und die ein ähnliches Bild zeichnet: "Da ein neues gemeinschaftstiftendes Band fehlt - eine Heilsreligion, die die Masse der Umherirrenden und Differenten in einen neuen Konsensus einbinden würde einen anderen als den von 'mehr Geld und Güter für alle'-, sind wir das erste Mal in der Geschichte dazu gezwungen, mit anderen, von uns gänzlich Verschiedenen zu leben und dabei auf unsere persönlichen Moralgesetze zu setzen, ohne daß irgendein unsere Besonderheiten umschließendes Ganzes diese tranzendieren könnte. Eine paradoxe Gemeinschaft ist im Entstehen, eine Gemeinschaft von Fremden, die einander in dem Maße akzeptieren, wie sie sich selbst als Fremde erkennen. Die multinationale Gesellschaft ist im Entstehen, eine Gemeinschaft von Fremden, die einander in dem Maße akzeptieren, wie sie sich selbst als Fremde erkennen. Die multinationale Gesellschaft wäre somit das Resultat eines extremen Individualismus, der sich aber seiner Schwierigkeiten und Grenzen bewußt ist - der nur das Irreduzible kennt, die bereit sind, sich wechselseitig in ihrer Schwäche zu helfen, einer Schwäche, deren anderer Name unsere radikale Fremdheit ist."(Kristeva 1990: 213)
Es mutet sonderbar an, daß in einer Zeit, in der in Europa (und nicht nur hier) nationale und ethnische Minderheiten ihre Gruppenidentität zu stärken versuchen, in der Frauen symbolische Bezugspunkte suchen, um von dort aus Realität anders(weiblich) zu interpretieren und zu ändern, in einer Zeit schließlich, in der die großen Vielvölkerstaaten in ethnisch gesäuberte Teile zerschlagen werden, daß in einer solchen Zeit von Seiten der Philosophie radikale Pluralität und extremer (letztlich einsamer) Individualismus als dieser Zeit angemessene Modelle menschlichen Denkens und Handelns, als Modelle menschlicher Orientierung angeboten werden. Hier ist die Differenz logisch weiter getrieben, als es mir politisch recht sein kann. Wo eben noch die "große Erzählung" war (die Nation, der Glaube etc.) tritt unversehens das irreduzible Individuum (das bereits wiederum als ideologieträchtiges Axiom in poststrukturalistischer Manier destruiert wurde) an ihre Stelle. Zum einen beobachten wir die nur allzu erfolgreichen Wiederbelebungsversuche der "großen Erzählungen", zum anderen ist mir nicht nachvollziehbar, wie bis dato Unterdrückte und Benachteiligte (Minderheiten, Frauen, soziale Randgruppen) ihre Rechte einklagen sollen, wenn nicht auf der Grundlage ihrer Gemeinsamkeiten (Rasse, Klasse, Geschlecht, Alter) - oder ist es, wie Di Stefano in Blick auf die Geschlechterdifferenz formuliert, "time to give up the conforts and closures of the concept of gender for a more radical and decentered ettention to multiple differences, none of which merit theoretical privileging over others?" (Nach Helsema 1991: 2). In einer philosophisch begründeten Gesellschaft von Individuen wird sozusagen definitorisch das Recht auf Gruppenidentität und deren mögliche politische Notwendigkeit für Angehörige bestimmter gesellschaftlicher Gruppen negiert. Dies sieht Kristeva durchaus auch, und sie löst den Widerspruch für sich, indem sie auf verschiedenen Ebenen argumentiert, das heißt, sie trennt die pragmatisch-politische Ebene von der theoretisch-analytischen. Inneke van Helsema schlägt an dieser Stelle, d.h. dort, wo die politischen Konsequenzen etwa für die Frauenbewegung dieser "unendlichen Spur der Differenz" mitgedacht werden, die Technik des "arbitrary closure"(Hall) oder des "stopping point"(Nicholson) vor, also eine politische Entscheidung (Helsema 1991: 2). Mir scheint es - politisch, emotional und empirisch begründet (wobei ich sicher von einer anderen Empirie ausgehe als Kristeva) - richtiger zu sein, von einer Zunahme transitorischer Gruppenidentitäten auszugehen. Transitorisch, das bedeutet zugleich Struktur und Prozeß, diese Gruppenidentitäten verändern etwas und sie verändern auch sich selbst, sie sind auf keinen Fall statisch und ausschließlich. Ein solcher Denkansatz trägt durchaus den verschiedenen Ebenen der Multikulturalität Rechnung, von denen bisher die Rede war: Erläßt zu, daß die Tatsachen des Frau-Seins, des Türkisch-Seins etc. im gesellschaftlichen Machtgefüge so wichtig sind, daß sie Gruppenbildungen auf dieser Grundlage erzwingen, daß aber auf der anderen Seite diese Gruppe nicht zwingend und ausschließlich dokumentieren, was das Frausein, das Türkischsein bedeutet und beinhaltet. Und er läßt zugleich auch zu, daß sich für das Individuum in verschiedenen Lebenssphären und Lebenszusammenhängen die Bedeutung verschiedener Zugehörigkeiten verschieben und verändern kann.
Und gerade hierin, in dem Ersatz der großen Erzählungen durch transitorische Gruppenidentitäten, in der sensiblen Beobachtung, Beschreibung und Analyse der Übergänge, der alltäglichen Dinge und Handlungen, die sie verursachen und tragen, sehe ich die große Chance für die Kulturforschung. Ich sehe die Chance in der Produktion kleiner Geschichten, die Grenzen und Trennungen aufzeigen, ohne sie zu setzen.
zitiert: nach W.Schmied-Kowarzik/D.Stederoth, Kulturtheorien, Kassler Philosophische Schriften 29, S.183ff siehe dort auch die Literaturnachweise.

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Most recent revision: April 07, 1998

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