Gemeinschaft
I
Im Begriff 'Volksgemeinschaft ist das Volk nur Attribut, das Substantiv ist die
Gemeinschaft. Die beschwörende Verdopplung - als schlösse der Begriff
'Volk' den der Gemeinschaft nicht ohnehin ein - verrät einerseits Zweifel an
der Berechtigung, die von Konjunkturzyklen und vom Sog der großen Fabrikzentren
umhergewirbelte und zusammengewürfelte Bevölkerung industrialisierter
Länder als Volk zu bezeichnen; die Wortbildung drückt andererseits aus,
daß das Volk bloß der nebensächliche und auswechselbare Vorwand
für die Hauptsache ist, nämlich die Gemeinschaft. Gemeinschaft schlechthin
oder schicksalhafte, unkündbare Verbundenheit und distanzlose Nähe ist
aber unter der Voraussetzung, daß die einzelnen nicht mehr Zwangsmitglieder
eines Stammes, einer Kaste oder eines Standes sind und deshalb das Recht haben,
sich in Parteien, Vereinen, mit Freunden oder Gleichgesinnten frei zu assozieren,
nur als Ausnahmezustand möglich. Das Fronterlebnis im Schützengraben,
die Erfahrung, daß unter dem trivialen Aspekt ihrer Verwundbarkeit durch herabhagelnde
Granaten betrachtet, alle Menschen gleich sind, war bekanntlich der Ursprung der
deutschen Gemeinschaftsideologie. Gemeinschaft, die Gleichheit nicht als gleiches
Recht aller, ihre Verschiedenheit zu entwickeln, sondern als nivellierende Reduktion
der einzelnen aufs Elementare durch äußere Elementargewalt zur Bedingung
hat, ist nur ein anderer Name für Fremdenhaß. Im Krieg gegen das Ausland
entdeckten die deutschen Soldaten die Wohltat des Verlusts von Distanz und Differenz
zwischen den Einzelnen - Merkmal jeder Zivilisation. Umherwatend im gleichen Schlamm,
eingehüllt in den gleichen Gestank von Latrinen und verdreckter Kleidung, denselben
Entbehrungen. Strapazen und Gefahren ausgesetzt, wurden die einzelnen einander ähnlich.
Diese Entwürdigung und Quälerei als Gemeinschaftserlebnis genießen
zu können, setzt Leute voraus, die außer ihrer kreatürlichen Bedürftigkeit
nichts gemeinsam haben, denen alle Zivilisation, alle Kultivierung und Humanisierung
des Kreatürlichen fremd und verhaßt ist und dies deshalb lieben, sich
in den Zustand bloß noch kreatürlicher Bedürftigkeit zu versetzen.
Zur Ausnahmesituation, der die Gemeinschaft entsprungen ist, führt das Verlangen
nach ihr daher unweigerlich zurück.
W.Pohrt Endstation S. 23f
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt