SELBSTBESTIMMUNG UND SEZESSION
Herausforderung für die Staatengemeinschaft
Von Bruno Schoch


"The dilemma of self-determination is not the whole problem of world peace, but it is a very important part of it." Alfred Cobban 1951 (1)


1. Die überraschende Aktualität von 1919
Mit dem großen Aufatmen war es schnell vorbei. Schon erheben sich Stimmen, die der Blockkonfrontation nachtrauern. Deren Jahrzehnte lang schwer druckende Lasten, sei es das Damoklesschwert nuklearer Abschreckung mit all seinen Risiken, seien es die im Realsozialismus notfalls manu militari exekutierten "allgemeinen Gesetzmäßigkeiten" des Marxismus-Leninismus, werden flugs verdrängt. Post festum erscheint dann der globale Bipolarismus ins rosige Licht einer Machtkonstellation getaucht, die zumal in Europa politische Stabilität verbürgte. Seit es damit zu Ende ist, zerfiel nicht nur das, was früher das "sozialistische Lager" hieß, sondern setzte auch ein staatlicher Zerbröckelungsprozeß der Sowjetunion ein, der möglicherweise noch nicht an sein Ende gelangt ist. Und anstelle des raschen Übergangs zu einer stabilen europäischen Friedensordnung - vielen Politikern, Publizisten und manchen Politikwissenschaftlern zufolge eine Sache lediglich von ein paar Jahren sind alte und neue Formen von Gewalt, aggressivem Nationalismus, Kriegen und Bürgerkriegen freigesetzt worden, die beängstigend zunehmen. Hals über Kopf erklären Zeitgeist-Diagnostiker wie Hans-Magnus Enzensberger die "Aussichten auf den Bürgerkrieg" zum Signum unseres Zeitalters, wenn nicht gar zur Wiederkehr der angeblichen Normalität von Geschichte.
Manche der seit dem großen Umbruch von 1989/90 in Europa aufgebrochenen Konflikte und Kriege erinnern unwillkürlich an die Zwischenkriegszeit und an jenen Raum, den man einst, nicht ohne imperialen Zungenschlag, "Zwischeneuropa" nannte. Nach dem Zusammenbruch der großen dynastischen Reiche Europas im Ersten Weltkrieg wurde in den Pariser Vorortverträgen von 1919 ein Gürtel neuer Nationalstaaten geschaffen - auf der Grundlage der nationalen Selbstbestimmung. Dieses Prinzip hatte in den letzten Monaten des Krieges stürnüsche Triumphe erlebt: Revolutionäre Nationalismen vereinigten das Verlangen nach Demokratisierung und den Ruf nach nationaler Befreiung aus den als "Völkerkerker" geschmähten multinationalen Staaten. Diesen nationalen Bewegungen suchte die von den Alliierten errichtete Nachkriegsordnung Rechnung zu tragen, was insofern der Quadratur des Kreises glich, als sich nationale Ansprüche in Ostmittelund Südosteuropa vielfach diametral entgegenstanden und wechselseitig ausschlossen. Hinzu kam, daß die staatliche Neuordnung Europas zugleich dem doppelten strategischen Interesse zu gehorchen hatte, den revolutionären Einfluß der Oktoberrevolution und zugleich die Macht Deutschlands, der man die Alleinschuld am Kriegsausbruch zuschrieb, einzudämmen (2).
Eine ganze Reihe der im postkommunistischen Raum entflammten Nationalitätenkonflikte, Gebietsansprüche, Grenzrevisionismen und Minderheitenprobleme haben ihre Wurzeln in den territorialen Regelungen der seinerzeit geschaffenen Zwischenkriegsordnung. Daß diese unzählige Widersprüche und Inkohärenzen barg, ist kein Geheimnis. Etwas anderes ist ihre generelle Ablehnung und Verdächtigung als, "Diktat", "Heuchelei" und "Sieger-Ordnung", in Deutschland nicht nur von der politischen Rechten betrieben und tradiert (3). Ein kritisch-realistischer und problembewußter Blick auf die damalige Neuordnung, der sich von manchen bis heute untergründig wirksamen Ressentiments nicht vernebeln läßt, könnte außerdem belehren über die gegenwärtigen Schwierigkeiten der internationalen Staatengemeinschaft, weit eskalierte nationalistische Konflikte und Kriege zu lösen oder doch zumindest einzuhegen. Immerhin hat der Völkerbund erstmals versucht, Rechte und Schutz nationaler Minderheiten in internationalen Verfahren zu institutionalisieren. Das ist hierzulande keineswegs Gemeingut. Zu der mehr oder weniger bewußt national geprägten Optik gehört auch, daß sich der Völkerbund in Deutschland bis heute keiner großen Aufmerksamkeit erfreut. Als Symptom dafür mag, jedenfalls wenn man einem verbreiteten Handbuch über die UNO aus dem Jahre 1992 glauben darf, der folgende unglaubliche Sachverhalt gelten: "Die letzte umfassende Monographie über den Völkerbund in deutscher Sprache ist 1938 (!) erschienen." (4)
Ein zentraler, doch nach wie vor schwammig-unpräziser Begriff, von sämtlichen nationalen und nationalistischen Bewegungen in Anspruch genommen, ist das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Seine Interpretation enthält offenbar, wie zuletzt die Kontroversen über Zeitpunkt und Geschwindigkeit der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens gezeigt haben (5), bis heute beträchtliche Unterschiede, die tief in Geschichte und national-kulturell geprägten Ideologien und Mentalitäten wurzeln. Allen Deklarationen zum Trotz besaß es indes niemals absolute Gültigkeit. Insbesondere haben alle internationalen Organisationen aus ureigenen Interessen der Staaten noch nie ein Recht auf Sezession abgeleitet. Ihr Dilemma besteht seit jeher darin, daß von erfolgreicher nationaler Sezession ein Dominoeffekt auszugehen droht (6). Wenn sich manche Sezessionen schon nicht verhindern lassen, so möchte die Staatengemeinschaft wenigstens unterbinden, daß sie Schule machen.

2. Der Nationalstaat zwischen Interdependenz und Fragmentierung
Nicht mehr vom Bipolarismus paralysiert, kommen nun internationale Organisationen und Institutionen - vorab die UNO, aber nicht nur sie - mit ihren Mechanismen und Instrumentarien zur Friedenswahrung aufs neue zum Tragen. Doch treten zugleich jetzt auch ihre praktischen Defizite in aller Schärfe hervor. Die bisherige Bilanz der Eindämmung ethnonationaler Konflikte ist ernüchternd: Die Entwicklung von Normen und Prinzipien steckt in den Anfängen, die Sanktionsinstrumente greifen schlecht, und die Möglichkeiten zur Konfliktbeendigung sind wenig entwickelt. (7) Schon jetzt ist die Kluft zwischen den enorm gewachsenen Erwartungen an die UNO und ihrer beschränkten Leistungsfähigkeit gefährlich tief.
Die UNO basiert auf der Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten, deren Sicherheit und territoriale Unversehrtheit sie gewährleisten will; einzig im Fall des Genozids ist Einmischung geboten. Doch sind wir mit Entwicklungen konfrontiert, die diese Basis der internationalen Politikin Fraae stellen: Für eine Reihe der herausragenden Probleme unserer Epoche sind die Nationalstaaten, selbst die großen, zu klein geworden. So können sie militärische und ökologische Sicherheit nicht mehr garantieren; und die weltweiten ökonomischen Verflechtungen und Interdependenzen verringern die nationalökonomische Steuerungskapazität. Daraus folgt die Relativierung staatlicher Souveränität, die Notwendigkeit der Kooperation und der Verlagerung von Kompetenzen von den Nationalstaaten "nach oben", auf internationale und transnationale Organisationen.
Diese Tendenz scheint indes mit einer gegenläufigen einherzugehen: Der Nationalstaat, nach wie vor der einzig wirklich relevante Ort demokratischer Partizipation und politischer Willens- und Identitätsbildung, an dem die Menschenrechte einklagbare Bürgerrechte sind, wird in mancher Hinsicht als zu groß empfunden. Bisher vorab auf ihn fixierte Loyalitäten, Autoritäten, Bindungen und Identifikationen und außenpolitische Akteure verschieben sich gleichsam von der Staatenwelt weg "nach unten", entweder - wie in den hochgradig vernetzten OECD-Ländem - auf die "Gesellschaftswelt" (Ernst-Otto Czempiel), oder aber auf ethnische, religiöse oder andere soziale Einheiten. Beides relativen die Rolle der Staaten als exklusive Akteure auf der internationalen Bühne, manche Staaten werden vom Ethnonationalismus gar zerstört und zerfallen in neue - Nationalstaaten, ob bloß prätendiert oder international anerkannt.
Thomas G. Masaryk hat diese widersprüchliche Tendenz schon während des Ersten Weltkrieges konstatiert: Die politische Selbständigkeit wird allerdings immer mehr zu etwas Relativem, dies ist aber kein Argument gegen das Streben der unterdrückten Nation nach Selbständigkeit." (8) Den durch wachsende Globalisierung erzeugten Integrationstendenzen stehen mithin Fragmentierung, Dissoziation und Sezession gegenüber. Die überwältigende Mehrheit der heutigen Kriege sind innerstaatliche Konflikte. Doch charakterisiert es geradezu ethnonational ausgetragene Auseinandersetzungen und Revisionismen, daß sie die im Völkerrecht geläufige und für die UNO konstitutive Unterscheidung von zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Konflikten unterlaufen. Die Differenz zwischen Krieg und Bürgerkrieg zerfließt, wie das anhaltende Schlachten im ehemaligen Jugoslawien exemplarisch verdeutlicht. Diese Entwicklung, die aller Voraussicht nach anhalten wird, hat dazu geführt, das traditionelle Interventionsverbot der UN-Charta aufzuweichen. Damit zieht die internationale Staatengeineinschaft einerseits die Konsequenz aus dem realen Macht- und Souveränitätsverlust der nationalstaatlichen Akteure. Andererseits kann der Rekurs auf Menschenrechte und Humanität nicht ausreichen, staatliche Souveränität und Einmischungsverbot auszuhebeln. Interventionen benötigen zwingend eindeutige und verallgemeinerbare Kriterien, andernfalls, mögen sie auch noch so gut gemeint sein, verstricken sie die UNO in Widersprüche, was a la longue deren Autorität und Legitimität zerrüttet.

3. Die Verengung der nationalen Selbstbestimmung
Es gehört zu den vorrangigen Zielen der UNO, "freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln." (Art. 1) Genauer besehen erweist sich der Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung als ebenso dynamisch wie elastisch. Da er auf die seit je schillernden und umstrittenen Begriffe Nation und Volk verweist, war es bisher nicht möglich, allgemeine, trennscharfe Kriterien zu definieren, wem sie zusteht und wem nicht.
Die Idee der Selbstbestimmung ist wie der Nationalismus modernen Ursprungs, also historisch erst spät entstanden. Hand in Hand mit der demokratischen Emanzipation im späten 18. Jahrhundert, vor allem in der Amerikanischen und in der Französischen Revolution, hat sich die Idee der Selbstbestimmung im Kampf gegen die Souveränität des Fürsten herausgebildet. Die Crux besteht nun darin, daß die Forderung nach Selbstbestimmung auf ein Doppeltes verweist, auf die Gestaltung der innenpolitischen Geschicke sowie auf das Verhältnis zu anderen Nationen und Staaten. Die revolutionär beanspruchte Souveränität des politisch verfaßten Volkes meinte zunächst den demos, nicht den ethnos (9). In den westlichen Staaten erwuchs Selbstbestimmung aus der Freiheit des Staatsbürgers, seine eigene Regierung zu wählen; sie war die Folge der Volkssouveränität und unauflösbar mit dieser verknüpft. Das erklärt, warum self-government im angelsächsischen Sprachgebrauch lange ein Synonym für self-determination blieb (10).
Demgegenüber wurde in der italienischen und deutschen Nationalbewegung ein "objektives" Verständnis von Nation geschichtsmächtig, das sich dann in ganz Mittel- und Osteuropa ausbreitete. Parallel dazu erfuhr die Forderung nach Selbstbestimmung hier eine Wendung nach außen: Sie mobilisierte primär gegen fremde Herrschaft, während der konstitutionelle Aspekt zweitrangig war. Freiheit erschien in erster Linie als nationale Freiheit. Besonders drastisch fielen die nationale und die konstitutionelle Komponente der Selbstbestimmung auseinander, als Deutschland 1870/71 das Elsaß annektierte. Dessen Abgeordnete protestierten in der Pariser Nationalversammlung im Namen des Rechts eines freien Volkes, über sein Schicksal selbst zu entscheiden, gegen die Annexion - im Deutschen Reich ernteten sie nur Hohn. Hier legitimierten die einen die Annexion mit der Zugehörigkeit zur angeblich "objektiven" Nation, während andere - wie etwa Bismarck - schlicht auf das Recht des Siegers pochten und sich über die "Professorenidee" mokierten, das Elsaß im Namen des Volkstums zurückzuholen.
Nach 1870 spielte die nationale Selbstbestimmung in der internationalen Politik lange kaum mehr eine Rolle. Sie wurde überschattet von anderen machtpolitischen und ideellen Triebkräften, sei es vom aggressiven, expansionistischen Nationalismus, sei es vom sozialistischen Internationalismus. Noch bei Kriegsausbruch 1914 sprach wenig für die Aktualität der Idee der Selbstbestimmung. Zu Beginn des Krieges waren die Nationalitäten kaum mehr als Spielbälle im militärischen und diplomatischen Ringen der Großmächte. Diese hüteten sich aus unterschiedlichen Gründen, die Selbstbestimmung zu verabsolutieren: Deutschland aus Rücksicht auf das verbündete Habsburger Reich, den europäischen Nationalitätenstaat par excellence, sowie aus Scheu vor ihren demokratischen Implikationen; Frankreich und England fürchteten, die Idee könnte ihre Kolonien anstecken; in den USA erinnerte man sich an den Bürgerkrieg und empfand die akuten Nationalitäten- und Sprachkonflikte in der alten Welt als etwas ziemlich Befremdendes.
Erst nachdem die Oktoberrevolution das Selbstbestimmungsrecht und sogar ein freilich, wie sich bald erweisen sollte, von den Bolschewiki lediglich taktisch verstandenes - Recht auf Sezession propagiert und damit die Nationalitäten aus Objekten der Kabinettspolitik in politische Akteure verwandelt hatte, entfesselte sich allenthalben der Kampf für nationale Selbstbestimmung. Woodrow Wilson "schwebte ursprünglich bei dem Wort Selbstbestimmung der Völker kaum das ethnisch-nationale Prinzip vor, sondern einfach der demokratische Grundsatz 'keine Regierung ohne Zustimmung der Regierten', keine Verschiebung von Grenzen ohne Billigung durch die betroffene Bevölkerung." (11) Doch 1918 drängte sich der nationalstaatliche Akzent des Begriffs in den Vordergrund. Jetzt, als die Autorität der letzten in Europa noch dynastisch, vordemokratisch und mehr vor- als übernational verfaßten Staaten erlosch und Wilson seine lange aufrechterhaltene Intention, die Donaumonarchie zu erhalten, fallengelassen hatte, verstand man unter nationaler Selbstbestimmung in zunehmendem Maß die Übereinstimmung von Nation und Staat. In dieser spezifisch verengten Gestalt ist das Selbstbestimmungsrecht zum Gestaltungsprinzip der politischen Neuordnung Europas - und seither zu einer weltweiten Leitidee - geworden.
Am Ende des Ersten Weltkrieges veränderte sich mithin der Inhalt der Selbstbestimmung tiefgreifend. Unter den spezifischen Bedingungen Osteuropas, wo Nationen anders als im Westen als kulturelle und sprachliche Zugehörigkeiten verstanden wurden, reduzierte sich nationale Selbstbestimmung auf die nationale Komponente und drängte die demokratisch-konstitutionelle weitgehend zurück: ethnos rangierte vor demos. An warnenden Stimmen hat es schon damals nicht gefehlt. Robert Lansing, Wilsons Secret of State, hielt das proklamierte Recht auf nationale Selbstbestimmung für eine Katastrophe, da es unter bestimmten historischen Umständen eben nicht als Synonym für den Grundsatz "Zustimmung der Regierten" aufgefaßt werde: "An welche Einheit denkt Wilson eigentlich, wenn er von der Selbstbestimmung spricht? Meint er eine Rasse, einen Gebietsteil oder ein Gemeinwesen? Ohne die Festsetzung einer ganz bestimmten, für die Praxis brauchbaren Einheit bedeutete die Anwendung dieses Prinzips eine Gefahr für den Frieden und die Stabilität. (...) Dieses Prinzip wird der Ausgangspunkt unmöglicher Ansprüche an die Friedenskonferenz werden und viel Unruhe in vielen Ländern stiften. (...) Das ganze Wort 'Selbstbestimmung' ist mit Dynamit bis zum Rande geladen. Es wird Hoffnungen erwecken, die sich nimmer erfüllen lassen. Ich fürchte, daß es tausende und abertausende von Leben kosten wird. (...) Welch ein Verhängnis, daß dies Wort je geprägt wurde! Welch Elend wird es über die Menschen bringen!" (12)
4. Unaufhebbare Widersprüche im Recht auf nationale Selbstbestimmung
Die in den Pariser Vorortverträgen gestaltete Neuordnung Europas legte Haken und Ösen des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung exemplarisch bloß. Dabei muß man zweierlei unterscheiden. Das eine sind die Ressentiments, die den Westmächten und namentlich Woodrow Wilson von Seiten der besiegten Mittelmächte entgegenschlugen: Sie verhöhnten das idealistische Pathos und den demokratischen Messianismus des amerikanischen Präsidenten und schmiedeten das Selbstbestinimungsrecht, wie Lansing befürchtet hatte, schnurstracks um zu einer scharfen Waffe gegen die als ungerecht und schmachvoll empfundene Nachkriegsordnung. Die Diskrepanz zwischen der verheißenen Selbstbestimmung und den Realitäten diente ihnen dazu, die idealistischen Prinzipien und "Phrasen" der Sieger als Kaschierung handfester Interessen zu entlarven. Das andere ist das prinzipielle Problem, daß sich die Idee der nationalen Selbstbestimmung in den Niederungen der praktischen Politik unausweichlich in Unbestimmtheiten und Widersprüchen verstricken muß, wofür die Geschichte von den Pariser Friedensverhandlungen bis heute reiches Anschauungsmaterial liefert. Im Kern bestehen diese Widersprüche in folgendem:
a) Schwierigkeiten, das Substrat des Selbstbestimmungsrechts zu definieren: Was ist eine Nation? Die Geschichte der Nationenbildung und die inhaltliche Definition der Nationen weist ein hohes Maß an Kontingenz auf, das sich gegen verallgemeinerbare Systematisierungen sperrt. Wo sich die Nation aus historischen Gründen nicht "subjektiv" als politisch verfaßtes Staatsvolk konstituiert und definiert, werden in der Regel "objektive" Gegebenheiten wie Abstammung, Kultur, Sprache, Geschichte usw. herangezogen. Doch entgegen der prätendierten Objektivität birgt die Bestimmung einer Nation nach kulturellem Verständnis seit je erhebliche praktische Schwierigkeiten und Ungereiintheiten.
- Kriterien der Sprache und solche der Geschichte decken sich oft nicht. In der Regel beruft sich jede Nation auf Sprache oder Ethnie, wo es ihr nutzt, lehnt dagegen dasselbe Kriterium ab, wo es ihrem nationalen Interesse zuwiderläuft. Wer im Deutschen Reich mit Blick auf Elsaß-Lothringen ethnisch argumentierte, ließ keineswegs dasselbe für die Polen im Osten gelten. Und wenn das nach dem Ersten Weltkrieg auf erstandene Polen unter Berufung auf Ethnizität Territorien von Deutschland forderte, so dachte es selbstredend nicht daran, auf Ostgalizien zu verzichten, wie wenig Polen dort auch wohnen mochten. Die Beispiele lassen sich fast beliebig vermehren. - Nationalität ist in der Regel nichts Statisches, sondern wandelt sich im Lauf der Geschichte vielfach. Verschiedenheit ethnischer Herkunft scheint in fast allen Staaten die Regel zu sein. Die Abstammungsgemeinschaft ist in der Regel weniger historische Realität denn nachträglich konstruiert, schon der durchaus national gesinnte Max Weber wußte, daß es entscheidend auf den Glauben an die Gemeinsamkeit ankam (13). Selbst auf vermeintlich objektive Zahlen von Volkszählungen und Nationalitätenstatistiken ist oft wenig Verlaß, da ihre Ergebnisse in hohem Maße von politisch vorgegebenen Kriterien und Definitionen abhängen. Exemplarisch sei hier daran erinnert, daß die Anerkennung einer mazedonischen Nation in Titos Jugoslawien nie unumstritten war, ebenso wie die der bosriischen Muslime als eigene Nationalität, die nur schrittweise durchzusetzen war: Konnte man sich bei der Volkszählung von 1948 als "national unbestimmter Muslim" bekennen, so wurde 1961 die Sparte "Muslim im ethnischen Sinne" eingeführt, doch erst seit der Volkszählung von 1971 ist von "Muslimen im Sinne einer Nation" die Rede - und das wiederum nur für Bosnien-Herzegovina, nicht jedoch für die slawischen Muslime in Mazedonien, wo es den Bemühungen um ein mazedonisches Nationalbewußtsein zuwidergelaufen wäre (14). Die Existenz einer mazedonischen oder bosnischen Nationalität wird bekanntlich bis heute buchstäblich angefochten. Das Beispiel ist weitaus weniger singulär, als der hierzulande tief wurzelnde Aberglaube an die Objektivität nationaler Zugehörigkeiten meint. Es ist kein Zufall, daß die verfügbaren Zahlen über nationale Minderheiten häufig extreme Schwankungen aufweisen, ganz zu schweigen von den unlösbaren Schwierigkeiten der Millionen, die aus gemischten Ehen stammen und im Fall auseinanderbrechender Staaten plötzlich damit konfrontiert sind, sich ethnisch eindeutig zuordnen zu müssen (15). - Das sogenannte "nationale Erwachen" war 1919 unterschiedlich weit entwickelt. In manchen Fällen, etwa in dem der Slowaken, lag der politische Wille zu einem eigenen Nationalstaat weit hinter dem "objektiven" Kriterium der Nationalität zurück, das sich mit der Herausbüdung einer slowakischen Literatursprache seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts gefestigt hatte. Die Abgrenzung von Ungarn führte die Slowaken an die Seite der Tschechen - ähnlich wie bekanntlich die südslawische Idee sich gegen Ende der Habsburger Monarchie bei Slowenen und Kroaten größerer Popularität erfreute als in Serbien. Die historische Rückständigkeit des slowakischen Nationalismus war die Grundlage für die Schaffung der Tschechoslowakei: "Die Tschechen haben ein historisches Recht auf die Selbständigkeit der böhmischen Länder (Böhmen, Mähren, Schlesien), auf die Selbständigkeit ihres Staates. Außerdem haben sie ein Recht auf die Angliederung der von den Magyaren brutal unterdrückten Slowakei, (...) die einst den Kern des Großmährischen Reiches gebildet hatte." (16) Wie es sich mit diesen Rechten auch immer verhielt, diese Lösung besaß vor allem den Vorteil einer deutlichen slawischen Mehrheit im neugeschaffenen Nationalstaat.
b) Das "Schwellenprinzip". Der allgemeinen Vorstellung nach gehört zum Recht auf einen eigenen Staat eine gewisse Minimalgröße. "A minority, even a big minority, is not a nation", sagte Masaryk (17), - doch wo liegen die Grenzen? Die Rede von der "Balkanisierung" als einer endlosen staatlichen Zersplitterung hat bis heute einen pejorativen Unterton, bis hin zu Boutros-Ghalis Warnung vor der wachsenden Zahl von "Mikronationalismen". Aus der Differenz zwischen den heute 183 UNO-Staaten und der um ein Vielfaches höheren Zahl von Völkern, Ethnien oder Sprachen - Schätzungen schwanken zwischen 2500 und 8000 - erwächst ein gewisses Fragmentierungs- und Destabilisierungspotential, obgleich deren überwältigende Mehrzahl keinen eigenen Staat anstrebt. Die Mindestgröße einer sich als Nation definierenden Gruppe, die der Staatengemeinschaft zufolge für einen eigenen Staat notwendig ist, ist biegsam und offenbar im Sinken begriffen. Paradoxerweise trägt der Bedeutungsverlust des Nationalstaates dazu bei. Denn da er ohnehin nicht mehr imstande ist, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten, schwindet der Anreiz für kleine Völker und Volksgruppen, in größeren Staatsverbänden zu bleiben.
c) Schwierige Grenzziehungen in ethnisch gemischten Siedlungsräumen. Gerade in diesen, weniger die Ausnahme als vielmehr die Regel, stößt eine Lieblingsvorstellung sei es im wenig reflektierten deutschen Alltagsbewußtsein, sei es im expliziten Nationalismus (18), an eine Schranke: Die Idee, nationale und staatliche Grenzen sollten sich nahtlos decken, ist hier ein Ding der Unmöglichkeit. In diesem Sinne ist die weit verbreitete Vorstellung gerechter Grenzen ein Irrglaube. Man mag es drehen und wenden wie man will, mit jeder Grenzziehung entstehen, den beliebten russischen Puppen gleich, neue Minderheiten. Daraus erwuchs 1919 die überaus aktuelle Idee eines international garantierten Minderheitenschutzes (19). Die Alternative dazu waren und sind mehr oder weniger zwanghaft betriebene nationale Assimilation und ungeachtet ihrer nicht immer so blutrünstig wie derzeit im ehemaligen Jugoslawien ausgetragenen Formen insgesamt doch barbarische Praktiken "ethnischer Säuberung".
d) Das Selbstbestimmungsrecht war seit jeher mit anderen, konkurrierenden Prinzipien verknüpft. Das gilt jedenfalls dann, wenn man nicht nur sieht, wo es überall in Anspruch genommen wird, sondern sich überlegt, für wen, wann und warum es von anderen Staaten, namentlich den Großmächten, anerkannt worden ist. Schon die aus dem Jahre 1865 stammende Passage in einem Dokument der I. Internationale, in welchemder Begriff des Selbstbestimmungsrechts erstmals nachweisbar auftaucht, lautet: "Es ist dringend erforderlich, den wachsenden Einfluß Rußlands in Europa zu vernichten, indem für Polen das Selbstbestimmungsrecht gesichert wird, das jeder Nation gehört. (20) Dieses Recht hängt mithin nicht als reines Prinzip im luftleeren Raum, es ist wie alles in der Sphäre der Politik in der Regel zugleich Mittel zum Zweck. Die deutsche Rechte, die nach dem Ersten Weltkrieg am lautesten gegen "Verrat" und "Heuchelei" Wilsons mobilisierte, verdrängte den Diktatfrieden von Brest-Litowsk. Auch Wilsons berühmte 14 Punkte enthielten konkurrierende Prinzipien, die man für die Lebensfähigkeit der neuen Nationalstaaten für unabdingbar hielt, neben einer angenommenen staatlichen destgröße beispielsweise einen Zugang zum Meer für Polen oder Serbien oder die Brennergrenze für Italien.
e) Zu den Widersprüchen der 1919 im Signum der Selbstbestimmung gestalteten Ordnung gehörte auch der Konsens unter den erten, daß weder ihre eigenen Minderheiten noch ihre Kolonien daraus ein Recht auf Sezession ableiten können sollten. Die Kolonien haben später, wie die seitherige Geschichte bezeugt, das Selbstbestimmungsrecht mit Erfolg für ihre antikoloniale Befreiung zu nutzen gewußt.
f) Die endgültige Auflösung der Spannung zwischen self-government und nationaler Selbstbestimmung hatte fatale Konsequenzen. Namentlich für Deutschland, das sich nach Versailles erst recht zum Volkstumsgedanken bekannte, war das von den Garantiemächten aus machtpolitischen Erwägungen verhängte Anschlußverbot für das deutschsprachige Restösterreich ein gefundenes Fressen, um die gesamte Nachkriegsordnung als ungerecht zu brandmarken, als sprechendes Exempel für den "heuchlerischen" Charakter der westlichen Werte, die letztlich doch nur die eigenen machtpolitischen Interessen verbrämten. Zugleich griffen revisionistische Bestrebungen die Lage der deutschen Minderheiten, die sich in den jungen Nationalstaaten gegenüber früher in mancher Hinsicht verschlechtert hatte, für ihre Zwecke auf. Besonders lauthals forderten nun jene Kreise das nationale Selbstbestimmungsrecht für alle Volksdeutschen, die Weimar als angeblich oktroyierte, deutschem Wesen fremde Staatsform bekämpften. Doch sich auf das Selbstbestimmungsrecht zu berufen und zugleich den Völkerbund zu verspotten, der es doch garantieren sollte, das bereitete eine explosive tur vor: Ohne Demokratie und Menschenrechte läuft Selbstbestimmung auf den gnadenlosen Kampf der Volksgruppen hinaus.

5. Suche nach Auswegen
Aufgrund all dieser Schwierigkeiten, die keineswegs nur von historischer Bedeutung sind, wird es kaum gelingen, allgemeine Kriterien dafür zu finden, wann und unter welchen Bedingungen das von vielen in Anspruch genommene Recht auf Selbstbestimmung, gar auf nationale Sezession, unbestreitbare Legitimität besitzt und ihre politische Realisierung von der internationalen Staatengemeinschaft Unterstützung und Anerkennung findet. Historisch gehörten militärische Macht zur Selbstbehauptung, politische Cleverneß, schiere Größe eines Volkes oder von den Großmächten im Interesse des Gleichgewichts geförderte und garantierte Eigenstaatlichkeit von lüeinstaaten zu den Faktoren, die diese Anerkennung bewirkt haben. Wenn demokratische Mächte, die ihre politische Legitimität einzig dem Konsens der Regierten verdanken, lange innere Unruhen befürchten, sind sie irgendwann bereit, Sezessionen zu akzeptieren, wie die Entkolonialisierungsgeschichte zeigt.
Die Schwierigkeiten der Staatenwelt im Umgang mit dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawien, aber auch der Sowjetunion, haben zu entgegengesetzten Vorstellungen darüber geführt, wie derartige Konflikte künftig zu steuern seien. Verteidigern des staatlichen Status quo stehen Anhänger von nationaler Selbstbestimmung, Sezession und Grenzrevisionen gegenüber, die der Bush-Administration vorwerfen, sie habe allzu lang konservativ-ängstlich auf die Existenz der Sowjetunion oder Jugoslawiens gesetzt (21). Riskieren jene, im Namen der Stabilität jede staatliche Unterdrückung nationaler Minderheiten zu billigen, so laufen diese umgekehrt Gefahr, nationalistischen Revisionen und Sezessionen sowie einer im Namen nationaler Homogenität betriebenen Destabilisierung Tür und Tor zu öffnen. Studiert man die Dilemmata der europäischen Neuordnung von 1919 und die Erfahrungen der Zwischenkriegszeit, so spricht vieles dafür, daß sich die Alternative nicht prinzipialistisch lösen läßt. Deshalb möchte ich abschließend wenigstens thesenhaft einige Überlegungen und Anregungen formulieren, praxisorientiert zum einen, als Richtlinien für Lösungswege, die von der Forschung weiterentwickelt und ausgearbeitet werden müssen, zum anderen.
a) Gegenüber der weitverbreiteten ethno-nationalistischen Verkürzung ist auf dem ursprünglichen Bedeutungsgehalt demokratischer Selbstregierung zu insistieren, ohne die Selbstbestimmung im Grunde keine raison d'etre hat. Überhaupt ist sie anders, als der nationalistische Wahn glaubt, kein absoluter Wert - im Gegensatz zu den unveräußerlichen Rechten des Menschen. Auch für die Kontroverse zwischen "stabilitarians" und Sezessionsbefürwortern gilt, daß in erster Linie die Chancen für Menschenrechte und Freiheit einen verläßlichen Maßstab zur politischen Bewertung abgeben.
b) Selbstbestimmung im demokratischen Sinn impliziert entgegen der vorherrschenden Meinung nicht notwendigerweise einen eigenen Nationalstaat. Umgekehrt haben das hohe Maß an Gemeindeautononomie, kantonaler Selbstverwaltung und demokratischer Partizipation im Fall der viel bemühten Schweiz zur staatlichen Integration und zur Konsolidierung einer politischen Willensnation beigetragen. Die Priorität demokratischer Selbstbestimmung vor dem Nationalitätsprinzip, wie man deren ethnische Komponente seinerzeit noch nannte, führte die Schweizer Liberalen schon in der Mitte des 19. Jahrhundert dazu, von ihrer enthusiastischen Unterstützung für die italienische und deutsche Einigungsbewegungen wieder abzurücken, als diese die Forderung republikanischer Freiheitsrechte hinter dem Nationalitätsprinzip zurücktreten ließen und es gar gegen die Existenzberechtigung der Schweiz richtete (22). Das Beispiel Schweiz steht für die Möglichkeit, Selbstbestimmung innerstaatlich zu realisieren, in Gestalt hoher kommunaler und regionaler Autonomie und föderativer Partizipationsstrukturen. Es läßt sich gewiß nicht beliebig als Modell auf ganz andere historische Situationen anwenden. Doch daß Selbstbestimmung, in Übereinstimmung mit ihrem ursprünglichen Bedeutungsgehalt, prinzipiell realisierbar ist, ohne daß Nationalität und Staat, ethnos und demos sich decken, ist um so mehr zu betonen, als die neue Welle des Nationalismus wieder einmal leicht den gegenteiligen Eindruck erwecken könnte.
c) Wenn die internationale Staatengemeinschaft ein Recht auf Sezession nach wie vor mit guten Gründen ablehnt, muß sie freilich zugleich - mit weitaus mehr Energie als bisher - auf Minderheitenrechten und -schutz insistieren, deren Einhaltung prämieren und ihre Mißachtung ahnden, um der Eskalationsdynamik nationalistischer Konflikte frühzeitig entgegenzuwirken. Dazu muß nicht nur die Prävention verbessert werden. Vielmehr sind kollektive Mechanismen zur "therapeutischen Konfliktintervention" (23) zu entwickeln und auszubauen. Nach den Erfahrungen des Völkerbundes, aber auch nach der bitteren Elendsgeschichte von Vermittlungsversuchen und Friedensplänen im ehemaligen Jugoslawien spricht alles dafür, daß man dabei nicht a tout prix um militärische Komponenten herumkommen wird. Entscheidend wird sein, sie im Sinne der Idee kollektiver Sicherheit als im Interesse aller stehende Bestrafung des Aggressors zu legitimieren und zu ermöglichen.
d) Selbst wenn das Interesse der internationalen Stabilität gebietet, die Priorität auf innerstaatliche Veränderungen zu legen, d.h. Menschenrechte, Minderheitenschutz und den Verzicht auf gewaltsame Grenzrevisionen einzuklagen, wird internationaler Druck mit Sicherheit nicht in allen Fällen imstande sein, den Zerfall von Staaten a la longue gegen den Willen ihrer Bürger aufzuhalten, zumal wenn nationalistische Sezessionsbewegungen ihre moralische Unterstützung aus dem Kampf gegen Unterdrückung und für demokratische Partizipation beziehen. Manches spricht dafür, daß über Erfolg oder Mißerfolg einer sich als Nation verstehenden Gruppe, unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht einen eigenen Staat zu errichten, zumindest unter nicht-totalitären Bedingungen analog zum berühmten Herr-Knecht-Kapitel in Hegels "Phänomenologie des Geistes" letztlich ihre Bereitschaft den Ausschlag gibt, für dieses Ziel auch die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen. Entschlossenen, demokratisch legitimierten und geeint auftretenden nationalrevolutionären Bewegungen gegenüber ist die internationale Staatengemeinschaft ein Stück weit ohnmächtig. Die Sezessionen von Slowenien und Kroatien werden somit nicht die letzten sein. Freilich spricht gerade diese Erfahrung für das dringende Erfordernis, künftige Sezessionsprozesse, wenn sie schon nicht zu verhindern sind, wenigstens so weit als irgend möglich zu internationalisieren - mit dem doppelten Ziel, sowohl ihre naturwüchsige Gewalt als auch die international destabilisierende Präzedenzwirkung möglichst in Schranken zu halten. Das setzt voraus, in Zukunft einige Verhaltensregeln zu ändern:
- Ebenso wie sich das demokratische Mehrheitsprinzip nicht eo ipso zur Klärung von Nationalitätenkonflikten eignet, vielmehr diese nicht selten erst produziert, sind auch Volksabstimmungen kein Allheilmittel. In ethnisch gemischten Gebieten nehmen sie mit ihrer Forderung an den einzelnen, sich ohne Wenn und Aber einer Volksgruppe zuzuordnen, die nationalistische Reduktion von Politik auf Freund und Feind vorweg und enthalten deshalb ein nicht unbeträchtliches, konfliktverschärfendes "Selbsterhitzungspotential" (24). - Sofern sich abzeichnet, daß sich die staatliche Auflösung nicht mehr verhindern läßt, sind künftig striktere internationale Einbindungen, Verfahren und Kontrollen erforderlich, um den Sezessionsprozeß in allen Stufen seiner Abfolge international zu steuern und das Sicherheitsdilemma der Nachbarstaaten gering zu halten. Möglicherweise läßt sich aus der über Mächte-Diplomatie, NATO- und EG-Einbindung sowie KSZE- Zustimmung hinausgehenden internationalen Einbettung der deutschen Vereinigung im sogenannten "zwei plus vier"-Prozeß auch für den Umgang mit Sezessionsprozessen manches verallgemeinern: Die Anerkennung bestehender Grenzen als conditio sine qua non, der vertraglich garantierte Verzicht auf Revisionismus, international verbindliche und kontrollierbare Rüstungsbegrenzungen und Abrüstung, die Festschreibung und der Ausbau der internationalen Einbindung haben zumindest die Wahrscheinlichkeit der Wiederkehr alter nationaler Spannungen mindern können, wenn sie auch keine absoluten Garantien sind. - Von ganz entscheidendem Gewicht ist, daß die mit dem Krisenmanagement betrauten Staaten künftig ein Höchstmaß an politisch-diplomatischer Einstimmigkeit in Zielen und Mitteln erreichen. Es war fatal, daß es im Falle Jugoslawiens trotz der historisch optimalen Konstellation, in der keine der Großmächte von ihrer Vetoposition in der UNO Gebrauch machen wollte, zu höchst unterschiedlichen, ja konträren Positionen im Westen und in der EG kam, die wie von unsichtbarer Hand gezogen dem roten Faden der jeweiligen Nationalgeschichte folgten. Wenn die einen auf Stabilität und das Prinzip der Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten setzen, die anderen dagegen das Selbstbestimmungsrecht auch binnenstaatlichen Volksgruppen zugestehen und sich unter dem Stichwort "Internationalisierung des Konfliktes" von der frühen Anerkennung einer Sezession eine gewaltmindernde Wirkung versprechen, trägt das dazu bei, die Konfliktparteien zu verwirren und entschlossenen Aggressoren unnötige Handlungsspielräume zu eröffnen. - Die internationale Anerkennung neuer, aus Sezession hervorgehender Staaten ist strikt an die Einhaltung von essentiellen Bedingungen zu knüpfen: an die verbindliche Verpflichtung, Grenzen nicht mit Gewalt zu verschieben, sowie an den Verzicht auf nationale Homogenisierung der Staatsbürger und an die Gewährung von Minderheitenschutz. Sollten sich Grenzkorrekturen und sogar - entgegen aller Vernunft und trotz allem gebotenen Widerstand - Bevölkerungsaustausch letztlich als unvermeidlich herausstellend, so ist auch dabei ein Höchstmaß an internationaler Kontrolle anzustreben. Die Anerkennung, im Falle Sloweniens und Kroatiens zum Zweck der "Internationalisierung" und vermeintlichen Beendigung des Bürgerkrieges vorangetrieben, hatte zwei substantielle Fehler. Zum einen war kein internationaler Akteur willens, vorbereitet und bereit, dieser Internationalisierung wirklich Nachdruck zu verleihen und den Aggressoren in den Arm zu fallen - insofern war sie illusionär. Zum anderen hat die staatliche Trennung wahrscheinlich die Konflikte in den diffizilsten politischen Gebüden des ehemaligen Jugoslawien, in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in Mazedonien, verschärft. Am schlimmsten indes dürfte sich auswirken, daß dieser Krieg das Vertrauen in die internationalen Organisationen und ihre Krisenmechanismen durch den wiederholten Nachweis ihrer Wirkungslosigkeit schweren Schaden zugefügt hat. Doch gehören, um es abschließend noch einmal pointiert zu sagen, all diese zuletzt genannten Versuche, Sezessionen zu internationalisieren, schon in den Bereich des anagements und der Schadenbegrenzung. Sie sind dann gefragt, wenn die Eskalation nationalistischer Gewalt bereits fortgeschritten ist. Deshalb muß eine auf Prävention zielende internationale Politik, die verhindern will, daß es zur nationalistischen Gewaltspirale überhaupt kommt, sowohl aus prinzipiellen Erwägungen als auch im Interesse der Stabilität auf dem Primat des demos vor dem ethnos geradezu kategorisch bestehen. Zugleich müssen wir dringend Strategien entwickeln, um internationale Garantien für Recht und Schutz nationaler Minderheiten auch wirklich durchsetzen zu können. Gerade weil die "Rückkehr zu den Stämmen" und binnennationalistische Bewegungen das internationale Staatensystem gefährden, können staatliche Souveränität und das Prinzip der Nichteinmischung keine absolute Schranke mehr darstellen gegen die Bemühungen um die Verwirklichung der Selbstbestimmung innerhalb der bestehenden Staaten. Nach dem hier Ausgeführten versteht sich, daß Ideologien entgegenzutreten ist, die glauben machen wollen, die Unverletzlichkeit des territorialen Status quo - immerhin das Fundament der KSZE - sei mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes obsolet geworden sei, oder die das alte nationalistische Lied neu intonieren, nur Grenzen, die mit nationalen übereinstimmten, seien "gerecht" und deshalb auf die Länge stabil, oder die gar, durch historische Erfahrung wenig gewitzigt, von einem "Recht auf Sezession" schwadronieren. Sie spielen mit einem gefährlichen Feuer, nicht zuletzt im Blick auf den Prozeß des nation-building in anderen Kontinenten (25).
Überarbeitete Fassung eines Beitrags für die VII. Internationale Amaldi-Konferenz, von der Accademia dei lincei in Kooperation mit der Polnischen Akademie der Wissenschaften im September 1994 in Jablonna bei Warschau durchgeführt.

1) Alfred Cobban, National Self-determination, Chicago 2 1951 (zuerst 1944), S. XII.
2) Vgl. Arno J. Mayer, Politics and Diplomacy of Peacemaking. Containment and Counterrevolution at Versailles, 1918-1919, London 1967.
3) "Wilson ist groß, und Kautsky ist sein Prophet", lautet das entsprechende Kapitel in Dan Diners historischem Essay verkehrte weiten: Antiamerikanismus, Frankfurt/M. 1993, S. 63-88. - Nur am Rande sei angemerkt, daß auch manche gegenwärtige Denunziation und "Entlarvung" der UNO mit ihren unzureichenden Funktionsmechanismen als angeblich bloß legitimatorisches Instrument, Feigenblatt der USA oder des Westens - vom "Spiegel" bis weit in die kritischen Milieus der ehemaligen Fiiedensbewegung und Linken hinein gang und gäbe - oft stärker als bewußt in dieser nationalen ideologischen Fluche stehen.
4) Günther Unser, Die UNO. Aufgaben und Strukturen der Vereinten Nationen, München 11992, S. 15 f.
5) Vgl. dazu meinen Beitrag: Anerkennen als Ersatzhandlung. Ein kritischer Rückblick auf die Bonner Jugoslawienpolitik, in: Peter Schlotter u.a., Der Bosnienkrieg und das hilflose Europa. Plädoyer für eine militärische UN-Intervention, "HSFK-Report", 5-6/1993, S. 37-54; John Newhouse, Berlin, der Westen und die Auflösung Jugoslawiens. Das Versagen der Diplomatie - Chronik eines Skandals, in: "Blätter", 10/1992, S. 1190-1205.
6) Vgl. dazu Peter Coulmas, Das Problem des Selbstbestimmungs- rechts. Mikronationalismen, Anarchie und innere Schwäche der Staaten, in: "Europa-Archiv", 4/1993, S. 85-93; Amitai Etzioni, The Evils of Self-Determination, in: "Foreign Policy", Summer 1994, S. 3-18. - Die bereits angeführte Studie von Alfred Cobban gilt mit Recht noch immer als Standardwerk.
7) Werner Weidenfeld in seinem Vorwort zu: Georg Brunner, Nationalitätenprobleme und Minderheitenkonfükte in Osteuropa. Strategien und Optionen für die Zukunft Europas, Gütersloh 1993, S. 8.
8) Thomas G. Mask, Das neue Europa, 1915, Neudruck Berlin 1991, S. 76.
9) Vgl. dazu meinen Aufsatz: demos und ethnos. Nationalismus zwischen Emanzipation und völkischer Reaktion, in: Lothar Brock und Ingomar Hauchler (Hrsg.), Entwicklung in Mittel- und Osteuropa. Chancen und Grenzen der Transformation, Bonn 1993, S. 117-163.
10) Instruktiv dazu neben Alfred Cobban auch Paul Kluke, Selbst bestimmung. Vom Weg einer Idee durch die Geschichte, Göttingen 1963.
11) Theodor Schieder, Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, hrsg. von Otto Dann und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1991, S. 61.
12) Robert Lansing, Die Versailler Friedensverhandlungen. Persönliche Erinnerungen, Berlin 1921, S. 73.
13) Emerich Francis, Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie, Berlin 1965, S. 49 f. - Eine überaus instruktive Aufsatzsamnilung, in der Fachliteratur über Nation und Nationalismus zu Unrecht wenig berücksichtigt.
14) Ekkehard Kraft, Die bosnischen Musliine als Nation, in: "Neue Zürcher Zeitung", 20.6.1992.
15) Vgl. dazu den kenntnisreichen Aufsatz von Andre Liebich, Minorities in Eastern Europe: Obstacles to a Reliable Count, in: RFE/RL, Research Report, 15.5.1992, S. 32-39.
16) Thomas G. Masaryk, a.a.O., S. 141
17) Hier zit. nach Alfred Cobban, a.a.O., S. 24.
18) Gute Gründe sprechen dafür, den Begriff des Nationanalismus dieser Auffassung vorzubehalten, also dem "politischen Prinzip, das besagt, politische und nationale Einheiten sollten deckungsgleich sein." So Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991, S. 8. - In diesem Sinne ist die Bemerkung von Isaiah Berlin zu verstehen: "Der moderne Nationalismus ist in der Tat auf deutschem Boden entstanden." (Der Nationalismus. Seine frühere Vemachlässigung und gegenwärtige Macht, Frankfurt/M. 1990, S. 69) - Im Blick auf die ethnozentrische Auffassung von Nation und Nationalismus jedenfalls ging Deutschland keinen Sonderweg, sondern machte Schule!
19) Vgl. dazu Erwin Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskoriferenz 1919. Eine Studie zur Geschichte des Nationalitätenproblems im 19. und 20. Jahrhundert, Marburger Ostforschungen, Bd. 11, Würzburg 1960.
20) Zit. nach Kurt Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Geschichtliche Grundlagen, Umriß der gegenwärtigen Bedeutung - ein Versuch, Köln 2 1973, S. 32
21) Beispielsweise Michael Lind, In Defense of Liberal Nationalism, in: "Foreign Affairs", May/June 1994, S. 87-99, der die "stabilitarians" verspottet und ziemlich unumwunden der Sezession und der Schaffung ethnisch homogener Staaten das Wort redet.
22) Vgl. Guido Hunziker, Die Schweiz und das Nationalitätsprinzip im 19. Jahrhundert. Die Einstellung der eidgenössischen Öffentlichkeit zum Gedanken des Nationalstaates, Basel/Stuttgart 1970.
23) Vgl. dazu die Anregungen von Dieter Senghaas, Friedensprojekt Europa, Frankfurt/M. 1992, S. 116-138, sowie von Peter Schlotter u.a., Die neue KSZE. Zukunftsperspektiven einer regionalen Friedensstrategie, Opladen 1994, S. 54-94.
24) Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt/M. 1991, S. 119.
25) Georg Brunner läßt sich in seiner bereits zitierten Studie darauf meines Erachtens allzu umstandslos und bereitwillig ein. Er wird noch überboten von dem Beitrag von Andrew Bell-Fialkoff, A Brief history of Ethnic Cleansing, in: "Foreign Affairs", Summer 1993, S. 110-121, dessen kaum zu überbietendem kontemplativen Zynismus zufolge "ethnische Säuberungen" seit je zur Geschichte gehörten, weshalb auch, so die Schlußfolgerung, der Balkan erst dann zur Ruhe komme, wenn sich dort ein Flickenteppich ethnisch klar voneinander abgegrenzter Territorien gebildet haben wird, in jedem Staat keine größeren Minderheiten mehr übrig und die sich bekämpfenden Gruppen durch sichere 'nationale' Grenzen voneinander abgetrennt sein werden." (S. 121)
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Most recent revision: April 07, 1998

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