SELBSTBESTIMMUNG UND SEZESSION
Herausforderung für die Staatengemeinschaft
Von Bruno Schoch
"The dilemma of self-determination is not the whole problem of
world peace, but it is a very important part of it." Alfred Cobban 1951 (1)
1. Die überraschende Aktualität von 1919
Mit dem großen Aufatmen war es schnell vorbei. Schon erheben sich Stimmen,
die der Blockkonfrontation nachtrauern. Deren Jahrzehnte lang schwer druckende Lasten,
sei es das Damoklesschwert nuklearer Abschreckung mit all seinen Risiken, seien
es die im Realsozialismus notfalls manu militari exekutierten "allgemeinen
Gesetzmäßigkeiten" des Marxismus-Leninismus, werden flugs verdrängt.
Post festum erscheint dann der globale Bipolarismus ins rosige Licht einer Machtkonstellation
getaucht, die zumal in Europa politische Stabilität verbürgte. Seit es
damit zu Ende ist, zerfiel nicht nur das, was früher das "sozialistische
Lager" hieß, sondern setzte auch ein staatlicher Zerbröckelungsprozeß
der Sowjetunion ein, der möglicherweise noch nicht an sein Ende gelangt ist.
Und anstelle des raschen Übergangs zu einer stabilen europäischen Friedensordnung
- vielen Politikern, Publizisten und manchen Politikwissenschaftlern zufolge eine
Sache lediglich von ein paar Jahren sind alte und neue Formen von Gewalt, aggressivem
Nationalismus, Kriegen und Bürgerkriegen freigesetzt worden, die beängstigend
zunehmen. Hals über Kopf erklären Zeitgeist-Diagnostiker wie Hans-Magnus
Enzensberger die "Aussichten auf den Bürgerkrieg" zum Signum unseres
Zeitalters, wenn nicht gar zur Wiederkehr der angeblichen Normalität von Geschichte.
Manche der seit dem großen Umbruch von 1989/90 in Europa aufgebrochenen Konflikte
und Kriege erinnern unwillkürlich an die Zwischenkriegszeit und an jenen Raum,
den man einst, nicht ohne imperialen Zungenschlag, "Zwischeneuropa" nannte.
Nach dem Zusammenbruch der großen dynastischen Reiche Europas im Ersten Weltkrieg
wurde in den Pariser Vorortverträgen von 1919 ein Gürtel neuer Nationalstaaten
geschaffen - auf der Grundlage der nationalen Selbstbestimmung. Dieses Prinzip hatte
in den letzten Monaten des Krieges stürnüsche Triumphe erlebt: Revolutionäre
Nationalismen vereinigten das Verlangen nach Demokratisierung und den Ruf nach nationaler
Befreiung aus den als "Völkerkerker" geschmähten multinationalen
Staaten. Diesen nationalen Bewegungen suchte die von den Alliierten errichtete Nachkriegsordnung
Rechnung zu tragen, was insofern der Quadratur des Kreises glich, als sich nationale
Ansprüche in Ostmittelund Südosteuropa vielfach diametral entgegenstanden
und wechselseitig ausschlossen. Hinzu kam, daß die staatliche Neuordnung Europas
zugleich dem doppelten strategischen Interesse zu gehorchen hatte, den revolutionären
Einfluß der Oktoberrevolution und zugleich die Macht Deutschlands, der man
die Alleinschuld am Kriegsausbruch zuschrieb, einzudämmen (2).
Eine ganze Reihe der im postkommunistischen Raum entflammten Nationalitätenkonflikte,
Gebietsansprüche, Grenzrevisionismen und Minderheitenprobleme haben ihre Wurzeln
in den territorialen Regelungen der seinerzeit geschaffenen Zwischenkriegsordnung.
Daß diese unzählige Widersprüche und Inkohärenzen barg, ist
kein Geheimnis. Etwas anderes ist ihre generelle Ablehnung und Verdächtigung
als, "Diktat", "Heuchelei" und "Sieger-Ordnung", in
Deutschland nicht nur von der politischen Rechten betrieben und tradiert (3). Ein kritisch-realistischer und problembewußter Blick auf
die damalige Neuordnung, der sich von manchen bis heute untergründig wirksamen
Ressentiments nicht vernebeln läßt, könnte außerdem belehren
über die gegenwärtigen Schwierigkeiten der internationalen Staatengemeinschaft,
weit eskalierte nationalistische Konflikte und Kriege zu lösen oder doch zumindest
einzuhegen. Immerhin hat der Völkerbund erstmals versucht, Rechte und Schutz
nationaler Minderheiten in internationalen Verfahren zu institutionalisieren. Das
ist hierzulande keineswegs Gemeingut. Zu der mehr oder weniger bewußt national
geprägten Optik gehört auch, daß sich der Völkerbund in Deutschland
bis heute keiner großen Aufmerksamkeit erfreut. Als Symptom dafür mag,
jedenfalls wenn man einem verbreiteten Handbuch über die UNO aus dem Jahre
1992 glauben darf, der folgende unglaubliche Sachverhalt gelten: "Die letzte
umfassende Monographie über den Völkerbund in deutscher Sprache ist 1938
(!) erschienen." (4)
Ein zentraler, doch nach wie vor schwammig-unpräziser Begriff, von sämtlichen
nationalen und nationalistischen Bewegungen in Anspruch genommen, ist das Recht
auf nationale Selbstbestimmung. Seine Interpretation enthält offenbar, wie
zuletzt die Kontroversen über Zeitpunkt und Geschwindigkeit der Anerkennung
Sloweniens und Kroatiens gezeigt haben (5), bis heute
beträchtliche Unterschiede, die tief in Geschichte und national-kulturell geprägten
Ideologien und Mentalitäten wurzeln. Allen Deklarationen zum Trotz besaß
es indes niemals absolute Gültigkeit. Insbesondere haben alle internationalen
Organisationen aus ureigenen Interessen der Staaten noch nie ein Recht auf Sezession
abgeleitet. Ihr Dilemma besteht seit jeher darin, daß von erfolgreicher nationaler
Sezession ein Dominoeffekt auszugehen droht (6). Wenn
sich manche Sezessionen schon nicht verhindern lassen, so möchte die Staatengemeinschaft
wenigstens unterbinden, daß sie Schule machen.
2. Der Nationalstaat zwischen Interdependenz und Fragmentierung
Nicht mehr vom Bipolarismus paralysiert, kommen nun internationale Organisationen
und Institutionen - vorab die UNO, aber nicht nur sie - mit ihren Mechanismen und
Instrumentarien zur Friedenswahrung aufs neue zum Tragen. Doch treten zugleich jetzt
auch ihre praktischen Defizite in aller Schärfe hervor. Die bisherige Bilanz
der Eindämmung ethnonationaler Konflikte ist ernüchternd: Die Entwicklung
von Normen und Prinzipien steckt in den Anfängen, die Sanktionsinstrumente
greifen schlecht, und die Möglichkeiten zur Konfliktbeendigung sind wenig entwickelt. (7) Schon jetzt ist die Kluft zwischen den enorm gewachsenen
Erwartungen an die UNO und ihrer beschränkten Leistungsfähigkeit gefährlich
tief.
Die UNO basiert auf der Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten, deren Sicherheit
und territoriale Unversehrtheit sie gewährleisten will; einzig im Fall des
Genozids ist Einmischung geboten. Doch sind wir mit Entwicklungen konfrontiert,
die diese Basis der internationalen Politikin Fraae stellen: Für eine Reihe
der herausragenden Probleme unserer Epoche sind die Nationalstaaten, selbst die
großen, zu klein geworden. So können sie militärische und ökologische
Sicherheit nicht mehr garantieren; und die weltweiten ökonomischen Verflechtungen
und Interdependenzen verringern die nationalökonomische Steuerungskapazität.
Daraus folgt die Relativierung staatlicher Souveränität, die Notwendigkeit
der Kooperation und der Verlagerung von Kompetenzen von den Nationalstaaten "nach
oben", auf internationale und transnationale Organisationen.
Diese Tendenz scheint indes mit einer gegenläufigen einherzugehen: Der Nationalstaat,
nach wie vor der einzig wirklich relevante Ort demokratischer Partizipation und
politischer Willens- und Identitätsbildung, an dem die Menschenrechte einklagbare
Bürgerrechte sind, wird in mancher Hinsicht als zu groß empfunden. Bisher
vorab auf ihn fixierte Loyalitäten, Autoritäten, Bindungen und Identifikationen
und außenpolitische Akteure verschieben sich gleichsam von der Staatenwelt
weg "nach unten", entweder - wie in den hochgradig vernetzten OECD-Ländem
- auf die "Gesellschaftswelt" (Ernst-Otto Czempiel), oder aber auf ethnische,
religiöse oder andere soziale Einheiten. Beides relativen die Rolle der Staaten
als exklusive Akteure auf der internationalen Bühne, manche Staaten werden
vom Ethnonationalismus gar zerstört und zerfallen in neue - Nationalstaaten,
ob bloß prätendiert oder international anerkannt.
Thomas G. Masaryk hat diese widersprüchliche Tendenz schon während des
Ersten Weltkrieges konstatiert: Die politische Selbständigkeit wird allerdings
immer mehr zu etwas Relativem, dies ist aber kein Argument gegen das Streben der
unterdrückten Nation nach Selbständigkeit." (8)
Den durch wachsende Globalisierung erzeugten Integrationstendenzen stehen mithin
Fragmentierung, Dissoziation und Sezession gegenüber. Die überwältigende
Mehrheit der heutigen Kriege sind innerstaatliche Konflikte. Doch charakterisiert
es geradezu ethnonational ausgetragene Auseinandersetzungen und Revisionismen, daß
sie die im Völkerrecht geläufige und für die UNO konstitutive Unterscheidung
von zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Konflikten unterlaufen. Die Differenz
zwischen Krieg und Bürgerkrieg zerfließt, wie das anhaltende Schlachten
im ehemaligen Jugoslawien exemplarisch verdeutlicht. Diese Entwicklung, die aller
Voraussicht nach anhalten wird, hat dazu geführt, das traditionelle Interventionsverbot
der UN-Charta aufzuweichen. Damit zieht die internationale Staatengeineinschaft
einerseits die Konsequenz aus dem realen Macht- und Souveränitätsverlust
der nationalstaatlichen Akteure. Andererseits kann der Rekurs auf Menschenrechte
und Humanität nicht ausreichen, staatliche Souveränität und Einmischungsverbot
auszuhebeln. Interventionen benötigen zwingend eindeutige und verallgemeinerbare
Kriterien, andernfalls, mögen sie auch noch so gut gemeint sein, verstricken
sie die UNO in Widersprüche, was a la longue deren Autorität und Legitimität
zerrüttet.
3. Die Verengung der nationalen Selbstbestimmung
Es gehört zu den vorrangigen Zielen der UNO, "freundschaftliche, auf der
Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker
beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln." (Art. 1) Genauer
besehen erweist sich der Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung als ebenso dynamisch
wie elastisch. Da er auf die seit je schillernden und umstrittenen Begriffe Nation
und Volk verweist, war es bisher nicht möglich, allgemeine, trennscharfe Kriterien
zu definieren, wem sie zusteht und wem nicht.
Die Idee der Selbstbestimmung ist wie der Nationalismus modernen Ursprungs, also
historisch erst spät entstanden. Hand in Hand mit der demokratischen Emanzipation
im späten 18. Jahrhundert, vor allem in der Amerikanischen und in der Französischen
Revolution, hat sich die Idee der Selbstbestimmung im Kampf gegen die Souveränität
des Fürsten herausgebildet. Die Crux besteht nun darin, daß die Forderung
nach Selbstbestimmung auf ein Doppeltes verweist, auf die Gestaltung der innenpolitischen
Geschicke sowie auf das Verhältnis zu anderen Nationen und Staaten. Die revolutionär
beanspruchte Souveränität des politisch verfaßten Volkes meinte
zunächst den demos, nicht den ethnos (9). In den
westlichen Staaten erwuchs Selbstbestimmung aus der Freiheit des Staatsbürgers,
seine eigene Regierung zu wählen; sie war die Folge der Volkssouveränität
und unauflösbar mit dieser verknüpft. Das erklärt, warum self-government
im angelsächsischen Sprachgebrauch lange ein Synonym für self-determination
blieb (10).
Demgegenüber wurde in der italienischen und deutschen Nationalbewegung ein
"objektives" Verständnis von Nation geschichtsmächtig, das sich
dann in ganz Mittel- und Osteuropa ausbreitete. Parallel dazu erfuhr die Forderung
nach Selbstbestimmung hier eine Wendung nach außen: Sie mobilisierte primär
gegen fremde Herrschaft, während der konstitutionelle Aspekt zweitrangig
war. Freiheit erschien in erster Linie als nationale Freiheit. Besonders drastisch
fielen die nationale und die konstitutionelle Komponente der Selbstbestimmung auseinander,
als Deutschland 1870/71 das Elsaß annektierte. Dessen Abgeordnete protestierten
in der Pariser Nationalversammlung im Namen des Rechts eines freien Volkes, über
sein Schicksal selbst zu entscheiden, gegen die Annexion - im Deutschen Reich ernteten
sie nur Hohn. Hier legitimierten die einen die Annexion mit der Zugehörigkeit
zur angeblich "objektiven" Nation, während andere - wie etwa Bismarck
- schlicht auf das Recht des Siegers pochten und sich über die "Professorenidee"
mokierten, das Elsaß im Namen des Volkstums zurückzuholen.
Nach 1870 spielte die nationale Selbstbestimmung in der internationalen Politik
lange kaum mehr eine Rolle. Sie wurde überschattet von anderen machtpolitischen
und ideellen Triebkräften, sei es vom aggressiven, expansionistischen Nationalismus,
sei es vom sozialistischen Internationalismus. Noch bei Kriegsausbruch 1914 sprach
wenig für die Aktualität der Idee der Selbstbestimmung. Zu Beginn des
Krieges waren die Nationalitäten kaum mehr als Spielbälle im militärischen
und diplomatischen Ringen der Großmächte. Diese hüteten sich aus
unterschiedlichen Gründen, die Selbstbestimmung zu verabsolutieren: Deutschland
aus Rücksicht auf das verbündete Habsburger Reich, den europäischen
Nationalitätenstaat par excellence, sowie aus Scheu vor ihren demokratischen
Implikationen; Frankreich und England fürchteten, die Idee könnte ihre
Kolonien anstecken; in den USA erinnerte man sich an den Bürgerkrieg und empfand
die akuten Nationalitäten- und Sprachkonflikte in der alten Welt als etwas
ziemlich Befremdendes.
Erst nachdem die Oktoberrevolution das Selbstbestimmungsrecht und sogar ein freilich,
wie sich bald erweisen sollte, von den Bolschewiki lediglich taktisch verstandenes
- Recht auf Sezession propagiert und damit die Nationalitäten aus Objekten
der Kabinettspolitik in politische Akteure verwandelt hatte, entfesselte sich allenthalben
der Kampf für nationale Selbstbestimmung. Woodrow Wilson "schwebte ursprünglich
bei dem Wort Selbstbestimmung der Völker kaum das ethnisch-nationale Prinzip
vor, sondern einfach der demokratische Grundsatz 'keine Regierung ohne Zustimmung
der Regierten', keine Verschiebung von Grenzen ohne Billigung durch die betroffene
Bevölkerung." (11) Doch 1918 drängte
sich der nationalstaatliche Akzent des Begriffs in den Vordergrund. Jetzt, als die
Autorität der letzten in Europa noch dynastisch, vordemokratisch und mehr vor-
als übernational verfaßten Staaten erlosch und Wilson seine lange aufrechterhaltene
Intention, die Donaumonarchie zu erhalten, fallengelassen hatte, verstand man unter
nationaler Selbstbestimmung in zunehmendem Maß die Übereinstimmung von
Nation und Staat. In dieser spezifisch verengten Gestalt ist das Selbstbestimmungsrecht
zum Gestaltungsprinzip der politischen Neuordnung Europas - und seither zu einer
weltweiten Leitidee - geworden.
Am Ende des Ersten Weltkrieges veränderte sich mithin der Inhalt der Selbstbestimmung
tiefgreifend. Unter den spezifischen Bedingungen Osteuropas, wo Nationen anders
als im Westen als kulturelle und sprachliche Zugehörigkeiten verstanden wurden,
reduzierte sich nationale Selbstbestimmung auf die nationale Komponente und drängte
die demokratisch-konstitutionelle weitgehend zurück: ethnos rangierte vor demos.
An warnenden Stimmen hat es schon damals nicht gefehlt. Robert Lansing, Wilsons
Secret of State, hielt das proklamierte Recht auf nationale Selbstbestimmung für
eine Katastrophe, da es unter bestimmten historischen Umständen eben nicht
als Synonym für den Grundsatz "Zustimmung der Regierten" aufgefaßt
werde: "An welche Einheit denkt Wilson eigentlich, wenn er von der Selbstbestimmung
spricht? Meint er eine Rasse, einen Gebietsteil oder ein Gemeinwesen? Ohne die Festsetzung
einer ganz bestimmten, für die Praxis brauchbaren Einheit bedeutete die Anwendung
dieses Prinzips eine Gefahr für den Frieden und die Stabilität. (...)
Dieses Prinzip wird der Ausgangspunkt unmöglicher Ansprüche an die Friedenskonferenz
werden und viel Unruhe in vielen Ländern stiften. (...) Das ganze Wort 'Selbstbestimmung'
ist mit Dynamit bis zum Rande geladen. Es wird Hoffnungen erwecken, die sich nimmer
erfüllen lassen. Ich fürchte, daß es tausende und abertausende von
Leben kosten wird. (...) Welch ein Verhängnis, daß dies Wort je geprägt
wurde! Welch Elend wird es über die Menschen bringen!"
(12)
4. Unaufhebbare Widersprüche im Recht auf nationale Selbstbestimmung
Die in den Pariser Vorortverträgen gestaltete Neuordnung Europas legte Haken
und Ösen des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung exemplarisch bloß.
Dabei muß man zweierlei unterscheiden. Das eine sind die Ressentiments, die
den Westmächten und namentlich Woodrow Wilson von Seiten der besiegten Mittelmächte
entgegenschlugen: Sie verhöhnten das idealistische Pathos und den demokratischen
Messianismus des amerikanischen Präsidenten und schmiedeten das Selbstbestinimungsrecht,
wie Lansing befürchtet hatte, schnurstracks um zu einer scharfen Waffe gegen
die als ungerecht und schmachvoll empfundene Nachkriegsordnung. Die Diskrepanz zwischen
der verheißenen Selbstbestimmung und den Realitäten diente ihnen dazu,
die idealistischen Prinzipien und "Phrasen" der Sieger als Kaschierung
handfester Interessen zu entlarven. Das andere ist das prinzipielle Problem, daß
sich die Idee der nationalen Selbstbestimmung in den Niederungen der praktischen
Politik unausweichlich in Unbestimmtheiten und Widersprüchen verstricken muß,
wofür die Geschichte von den Pariser Friedensverhandlungen bis heute reiches
Anschauungsmaterial liefert. Im Kern bestehen diese Widersprüche in folgendem:
a) Schwierigkeiten, das Substrat des Selbstbestimmungsrechts zu definieren:
Was ist eine Nation? Die Geschichte der Nationenbildung und die inhaltliche Definition
der Nationen weist ein hohes Maß an Kontingenz auf, das sich gegen verallgemeinerbare
Systematisierungen sperrt. Wo sich die Nation aus historischen Gründen nicht
"subjektiv" als politisch verfaßtes Staatsvolk konstituiert und
definiert, werden in der Regel "objektive" Gegebenheiten wie Abstammung,
Kultur, Sprache, Geschichte usw. herangezogen. Doch entgegen der prätendierten
Objektivität birgt die Bestimmung einer Nation nach kulturellem Verständnis
seit je erhebliche praktische Schwierigkeiten und Ungereiintheiten.
- Kriterien der Sprache und solche der Geschichte decken sich oft nicht.
In der Regel beruft sich jede Nation auf Sprache oder Ethnie, wo es ihr nutzt, lehnt
dagegen dasselbe Kriterium ab, wo es ihrem nationalen Interesse zuwiderläuft.
Wer im Deutschen Reich mit Blick auf Elsaß-Lothringen ethnisch argumentierte,
ließ keineswegs dasselbe für die Polen im Osten gelten. Und wenn das
nach dem Ersten Weltkrieg auf erstandene Polen unter Berufung auf Ethnizität
Territorien von Deutschland forderte, so dachte es selbstredend nicht daran, auf
Ostgalizien zu verzichten, wie wenig Polen dort auch wohnen mochten. Die Beispiele
lassen sich fast beliebig vermehren. - Nationalität ist in der Regel nichts
Statisches, sondern wandelt sich im Lauf der Geschichte vielfach. Verschiedenheit
ethnischer Herkunft scheint in fast allen Staaten die Regel zu sein. Die Abstammungsgemeinschaft
ist in der Regel weniger historische Realität denn nachträglich konstruiert,
schon der durchaus national gesinnte Max Weber wußte, daß es entscheidend
auf den Glauben an die Gemeinsamkeit ankam (13).
Selbst auf vermeintlich objektive Zahlen von Volkszählungen und Nationalitätenstatistiken
ist oft wenig Verlaß, da ihre Ergebnisse in hohem Maße von politisch
vorgegebenen Kriterien und Definitionen abhängen. Exemplarisch sei hier daran
erinnert, daß die Anerkennung einer mazedonischen Nation in Titos Jugoslawien
nie unumstritten war, ebenso wie die der bosriischen Muslime als eigene Nationalität,
die nur schrittweise durchzusetzen war: Konnte man sich bei der Volkszählung
von 1948 als "national unbestimmter Muslim" bekennen, so wurde 1961 die
Sparte "Muslim im ethnischen Sinne" eingeführt, doch erst seit der
Volkszählung von 1971 ist von "Muslimen im Sinne einer Nation" die
Rede - und das wiederum nur für Bosnien-Herzegovina, nicht jedoch für
die slawischen Muslime in Mazedonien, wo es den Bemühungen um ein mazedonisches
Nationalbewußtsein zuwidergelaufen wäre (14).
Die Existenz einer mazedonischen oder bosnischen Nationalität wird bekanntlich
bis heute buchstäblich angefochten. Das Beispiel ist weitaus weniger singulär,
als der hierzulande tief wurzelnde Aberglaube an die Objektivität nationaler
Zugehörigkeiten meint. Es ist kein Zufall, daß die verfügbaren Zahlen
über nationale Minderheiten häufig extreme Schwankungen aufweisen, ganz
zu schweigen von den unlösbaren Schwierigkeiten der Millionen, die aus gemischten
Ehen stammen und im Fall auseinanderbrechender Staaten plötzlich damit konfrontiert
sind, sich ethnisch eindeutig zuordnen zu müssen (15).
- Das sogenannte "nationale Erwachen" war 1919 unterschiedlich weit entwickelt.
In manchen Fällen, etwa in dem der Slowaken, lag der politische Wille zu einem
eigenen Nationalstaat weit hinter dem "objektiven" Kriterium der Nationalität
zurück, das sich mit der Herausbüdung einer slowakischen Literatursprache
seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts gefestigt hatte. Die Abgrenzung von Ungarn
führte die Slowaken an die Seite der Tschechen - ähnlich wie bekanntlich
die südslawische Idee sich gegen Ende der Habsburger Monarchie bei Slowenen
und Kroaten größerer Popularität erfreute als in Serbien. Die historische
Rückständigkeit des slowakischen Nationalismus war die Grundlage für
die Schaffung der Tschechoslowakei: "Die Tschechen haben ein historisches Recht
auf die Selbständigkeit der böhmischen Länder (Böhmen, Mähren,
Schlesien), auf die Selbständigkeit ihres Staates. Außerdem haben sie
ein Recht auf die Angliederung der von den Magyaren brutal unterdrückten Slowakei,
(...) die einst den Kern des Großmährischen Reiches gebildet hatte."
(16) Wie es sich mit diesen Rechten auch immer verhielt,
diese Lösung besaß vor allem den Vorteil einer deutlichen slawischen
Mehrheit im neugeschaffenen Nationalstaat.
b) Das "Schwellenprinzip". Der allgemeinen Vorstellung
nach gehört zum Recht auf einen eigenen Staat eine gewisse Minimalgröße.
"A minority, even a big minority, is not a nation", sagte Masaryk (17), - doch wo liegen die Grenzen? Die Rede von der "Balkanisierung"
als einer endlosen staatlichen Zersplitterung hat bis heute einen pejorativen Unterton,
bis hin zu Boutros-Ghalis Warnung vor der wachsenden Zahl von "Mikronationalismen".
Aus der Differenz zwischen den heute 183 UNO-Staaten und der um ein Vielfaches höheren
Zahl von Völkern, Ethnien oder Sprachen - Schätzungen schwanken zwischen
2500 und 8000 - erwächst ein gewisses Fragmentierungs- und Destabilisierungspotential,
obgleich deren überwältigende Mehrzahl keinen eigenen Staat anstrebt.
Die Mindestgröße einer sich als Nation definierenden Gruppe, die der
Staatengemeinschaft zufolge für einen eigenen Staat notwendig ist, ist biegsam
und offenbar im Sinken begriffen. Paradoxerweise trägt der Bedeutungsverlust
des Nationalstaates dazu bei. Denn da er ohnehin nicht mehr imstande ist, die Sicherheit
seiner Bürger zu gewährleisten, schwindet der Anreiz für kleine Völker
und Volksgruppen, in größeren Staatsverbänden zu bleiben.
c) Schwierige Grenzziehungen in ethnisch gemischten Siedlungsräumen.
Gerade in diesen, weniger die Ausnahme als vielmehr die Regel, stößt
eine Lieblingsvorstellung sei es im wenig reflektierten deutschen Alltagsbewußtsein,
sei es im expliziten Nationalismus (18), an eine Schranke:
Die Idee, nationale und staatliche Grenzen sollten sich nahtlos decken, ist hier
ein Ding der Unmöglichkeit. In diesem Sinne ist die weit verbreitete Vorstellung
gerechter Grenzen ein Irrglaube. Man mag es drehen und wenden wie man will, mit
jeder Grenzziehung entstehen, den beliebten russischen Puppen gleich, neue Minderheiten.
Daraus erwuchs 1919 die überaus aktuelle Idee eines international garantierten
Minderheitenschutzes (19). Die Alternative dazu waren
und sind mehr oder weniger zwanghaft betriebene nationale Assimilation und ungeachtet
ihrer nicht immer so blutrünstig wie derzeit im ehemaligen Jugoslawien ausgetragenen
Formen insgesamt doch barbarische Praktiken "ethnischer Säuberung".
d) Das Selbstbestimmungsrecht war seit jeher mit anderen, konkurrierenden Prinzipien
verknüpft. Das gilt jedenfalls dann, wenn man nicht nur sieht, wo es überall
in Anspruch genommen wird, sondern sich überlegt, für wen, wann und warum
es von anderen Staaten, namentlich den Großmächten, anerkannt worden
ist. Schon die aus dem Jahre 1865 stammende Passage in einem Dokument der I. Internationale,
in welchemder Begriff des Selbstbestimmungsrechts erstmals nachweisbar auftaucht,
lautet: "Es ist dringend erforderlich, den wachsenden Einfluß Rußlands
in Europa zu vernichten, indem für Polen das Selbstbestimmungsrecht gesichert
wird, das jeder Nation gehört. (20) Dieses Recht
hängt mithin nicht als reines Prinzip im luftleeren Raum, es ist wie alles
in der Sphäre der Politik in der Regel zugleich Mittel zum Zweck. Die deutsche
Rechte, die nach dem Ersten Weltkrieg am lautesten gegen "Verrat" und
"Heuchelei" Wilsons mobilisierte, verdrängte den Diktatfrieden von
Brest-Litowsk. Auch Wilsons berühmte 14 Punkte enthielten konkurrierende Prinzipien,
die man für die Lebensfähigkeit der neuen Nationalstaaten für unabdingbar
hielt, neben einer angenommenen staatlichen destgröße beispielsweise
einen Zugang zum Meer für Polen oder Serbien oder die Brennergrenze für
Italien.
e) Zu den Widersprüchen der 1919 im Signum der Selbstbestimmung gestalteten
Ordnung gehörte auch der Konsens unter den erten, daß weder ihre eigenen
Minderheiten noch ihre Kolonien daraus ein Recht auf Sezession ableiten können
sollten. Die Kolonien haben später, wie die seitherige Geschichte bezeugt,
das Selbstbestimmungsrecht mit Erfolg für ihre antikoloniale Befreiung zu nutzen
gewußt.
f) Die endgültige Auflösung der Spannung zwischen self-government und
nationaler Selbstbestimmung hatte fatale Konsequenzen. Namentlich für Deutschland,
das sich nach Versailles erst recht zum Volkstumsgedanken bekannte, war das von
den Garantiemächten aus machtpolitischen Erwägungen verhängte Anschlußverbot
für das deutschsprachige Restösterreich ein gefundenes Fressen, um die
gesamte Nachkriegsordnung als ungerecht zu brandmarken, als sprechendes Exempel
für den "heuchlerischen" Charakter der westlichen Werte, die letztlich
doch nur die eigenen machtpolitischen Interessen verbrämten. Zugleich griffen
revisionistische Bestrebungen die Lage der deutschen Minderheiten, die sich in den
jungen Nationalstaaten gegenüber früher in mancher Hinsicht verschlechtert
hatte, für ihre Zwecke auf. Besonders lauthals forderten nun jene Kreise das
nationale Selbstbestimmungsrecht für alle Volksdeutschen, die Weimar als angeblich
oktroyierte, deutschem Wesen fremde Staatsform bekämpften. Doch sich auf das
Selbstbestimmungsrecht zu berufen und zugleich den Völkerbund zu verspotten,
der es doch garantieren sollte, das bereitete eine explosive tur vor: Ohne Demokratie
und Menschenrechte läuft Selbstbestimmung auf den gnadenlosen Kampf der Volksgruppen
hinaus.
5. Suche nach Auswegen
Aufgrund all dieser Schwierigkeiten, die keineswegs nur von historischer Bedeutung
sind, wird es kaum gelingen, allgemeine Kriterien dafür zu finden, wann und
unter welchen Bedingungen das von vielen in Anspruch genommene Recht auf Selbstbestimmung,
gar auf nationale Sezession, unbestreitbare Legitimität besitzt und ihre politische
Realisierung von der internationalen Staatengemeinschaft Unterstützung und
Anerkennung findet. Historisch gehörten militärische Macht zur Selbstbehauptung,
politische Cleverneß, schiere Größe eines Volkes oder von den Großmächten
im Interesse des Gleichgewichts geförderte und garantierte Eigenstaatlichkeit
von lüeinstaaten zu den Faktoren, die diese Anerkennung bewirkt haben. Wenn
demokratische Mächte, die ihre politische Legitimität einzig dem Konsens
der Regierten verdanken, lange innere Unruhen befürchten, sind sie irgendwann
bereit, Sezessionen zu akzeptieren, wie die Entkolonialisierungsgeschichte zeigt.
Die Schwierigkeiten der Staatenwelt im Umgang mit dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawien,
aber auch der Sowjetunion, haben zu entgegengesetzten Vorstellungen darüber
geführt, wie derartige Konflikte künftig zu steuern seien. Verteidigern
des staatlichen Status quo stehen Anhänger von nationaler Selbstbestimmung,
Sezession und Grenzrevisionen gegenüber, die der Bush-Administration vorwerfen,
sie habe allzu lang konservativ-ängstlich auf die Existenz der Sowjetunion
oder Jugoslawiens gesetzt (21). Riskieren jene, im
Namen der Stabilität jede staatliche Unterdrückung nationaler Minderheiten
zu billigen, so laufen diese umgekehrt Gefahr, nationalistischen Revisionen und
Sezessionen sowie einer im Namen nationaler Homogenität betriebenen Destabilisierung
Tür und Tor zu öffnen. Studiert man die Dilemmata der europäischen
Neuordnung von 1919 und die Erfahrungen der Zwischenkriegszeit, so spricht vieles
dafür, daß sich die Alternative nicht prinzipialistisch lösen läßt.
Deshalb möchte ich abschließend wenigstens thesenhaft einige Überlegungen
und Anregungen formulieren, praxisorientiert zum einen, als Richtlinien für
Lösungswege, die von der Forschung weiterentwickelt und ausgearbeitet werden
müssen, zum anderen.
a) Gegenüber der weitverbreiteten ethno-nationalistischen Verkürzung ist
auf dem ursprünglichen Bedeutungsgehalt demokratischer Selbstregierung zu insistieren,
ohne die Selbstbestimmung im Grunde keine raison d'etre hat. Überhaupt ist
sie anders, als der nationalistische Wahn glaubt, kein absoluter Wert - im Gegensatz
zu den unveräußerlichen Rechten des Menschen. Auch für die Kontroverse
zwischen "stabilitarians" und Sezessionsbefürwortern gilt, daß
in erster Linie die Chancen für Menschenrechte und Freiheit einen verläßlichen
Maßstab zur politischen Bewertung abgeben.
b) Selbstbestimmung im demokratischen Sinn impliziert entgegen der vorherrschenden
Meinung nicht notwendigerweise einen eigenen Nationalstaat. Umgekehrt haben das
hohe Maß an Gemeindeautononomie, kantonaler Selbstverwaltung und demokratischer
Partizipation im Fall der viel bemühten Schweiz zur staatlichen Integration
und zur Konsolidierung einer politischen Willensnation beigetragen. Die Priorität
demokratischer Selbstbestimmung vor dem Nationalitätsprinzip, wie man deren
ethnische Komponente seinerzeit noch nannte, führte die Schweizer Liberalen
schon in der Mitte des 19. Jahrhundert dazu, von ihrer enthusiastischen Unterstützung
für die italienische und deutsche Einigungsbewegungen wieder abzurücken,
als diese die Forderung republikanischer Freiheitsrechte hinter dem Nationalitätsprinzip
zurücktreten ließen und es gar gegen die Existenzberechtigung der Schweiz
richtete (22). Das Beispiel Schweiz steht für
die Möglichkeit, Selbstbestimmung innerstaatlich zu realisieren, in
Gestalt hoher kommunaler und regionaler Autonomie und föderativer Partizipationsstrukturen.
Es läßt sich gewiß nicht beliebig als Modell auf ganz andere historische
Situationen anwenden. Doch daß Selbstbestimmung, in Übereinstimmung mit
ihrem ursprünglichen Bedeutungsgehalt, prinzipiell realisierbar ist, ohne daß
Nationalität und Staat, ethnos und demos sich decken, ist um so mehr zu betonen,
als die neue Welle des Nationalismus wieder einmal leicht den gegenteiligen Eindruck
erwecken könnte.
c) Wenn die internationale Staatengemeinschaft ein Recht auf Sezession nach wie
vor mit guten Gründen ablehnt, muß sie freilich zugleich - mit weitaus
mehr Energie als bisher - auf Minderheitenrechten und -schutz insistieren, deren
Einhaltung prämieren und ihre Mißachtung ahnden, um der Eskalationsdynamik
nationalistischer Konflikte frühzeitig entgegenzuwirken. Dazu muß nicht
nur die Prävention verbessert werden. Vielmehr sind kollektive Mechanismen
zur "therapeutischen Konfliktintervention" (23)
zu entwickeln und auszubauen. Nach den Erfahrungen des Völkerbundes, aber auch
nach der bitteren Elendsgeschichte von Vermittlungsversuchen und Friedensplänen
im ehemaligen Jugoslawien spricht alles dafür, daß man dabei nicht a
tout prix um militärische Komponenten herumkommen wird. Entscheidend wird sein,
sie im Sinne der Idee kollektiver Sicherheit als im Interesse aller stehende Bestrafung
des Aggressors zu legitimieren und zu ermöglichen.
d) Selbst wenn das Interesse der internationalen Stabilität gebietet, die Priorität
auf innerstaatliche Veränderungen zu legen, d.h. Menschenrechte, Minderheitenschutz
und den Verzicht auf gewaltsame Grenzrevisionen einzuklagen, wird internationaler
Druck mit Sicherheit nicht in allen Fällen imstande sein, den Zerfall von Staaten
a la longue gegen den Willen ihrer Bürger aufzuhalten, zumal wenn nationalistische
Sezessionsbewegungen ihre moralische Unterstützung aus dem Kampf gegen Unterdrückung
und für demokratische Partizipation beziehen. Manches spricht dafür, daß
über Erfolg oder Mißerfolg einer sich als Nation verstehenden Gruppe,
unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht einen eigenen Staat zu errichten,
zumindest unter nicht-totalitären Bedingungen analog zum berühmten Herr-Knecht-Kapitel
in Hegels "Phänomenologie des Geistes" letztlich ihre Bereitschaft
den Ausschlag gibt, für dieses Ziel auch die eigene Existenz aufs Spiel zu
setzen. Entschlossenen, demokratisch legitimierten und geeint auftretenden nationalrevolutionären
Bewegungen gegenüber ist die internationale Staatengemeinschaft ein Stück
weit ohnmächtig. Die Sezessionen von Slowenien und Kroatien werden somit nicht
die letzten sein. Freilich spricht gerade diese Erfahrung für das dringende
Erfordernis, künftige Sezessionsprozesse, wenn sie schon nicht zu verhindern
sind, wenigstens so weit als irgend möglich zu internationalisieren - mit dem
doppelten Ziel, sowohl ihre naturwüchsige Gewalt als auch die international
destabilisierende Präzedenzwirkung möglichst in Schranken zu halten. Das
setzt voraus, in Zukunft einige Verhaltensregeln zu ändern:
- Ebenso wie sich das demokratische Mehrheitsprinzip nicht eo ipso zur
Klärung von Nationalitätenkonflikten eignet, vielmehr diese nicht selten
erst produziert, sind auch Volksabstimmungen kein Allheilmittel. In ethnisch gemischten
Gebieten nehmen sie mit ihrer Forderung an den einzelnen, sich ohne Wenn und Aber
einer Volksgruppe zuzuordnen, die nationalistische Reduktion von Politik auf Freund
und Feind vorweg und enthalten deshalb ein nicht unbeträchtliches, konfliktverschärfendes
"Selbsterhitzungspotential" (24). - Sofern
sich abzeichnet, daß sich die staatliche Auflösung nicht mehr verhindern
läßt, sind künftig striktere internationale Einbindungen, Verfahren
und Kontrollen erforderlich, um den Sezessionsprozeß in allen Stufen seiner
Abfolge international zu steuern und das Sicherheitsdilemma der Nachbarstaaten
gering zu halten. Möglicherweise läßt sich aus der über Mächte-Diplomatie,
NATO- und EG-Einbindung sowie KSZE- Zustimmung hinausgehenden internationalen Einbettung
der deutschen Vereinigung im sogenannten "zwei plus vier"-Prozeß
auch für den Umgang mit Sezessionsprozessen manches verallgemeinern: Die Anerkennung
bestehender Grenzen als conditio sine qua non, der vertraglich garantierte Verzicht
auf Revisionismus, international verbindliche und kontrollierbare Rüstungsbegrenzungen
und Abrüstung, die Festschreibung und der Ausbau der internationalen Einbindung
haben zumindest die Wahrscheinlichkeit der Wiederkehr alter nationaler Spannungen
mindern können, wenn sie auch keine absoluten Garantien sind. - Von ganz entscheidendem
Gewicht ist, daß die mit dem Krisenmanagement betrauten Staaten künftig
ein Höchstmaß an politisch-diplomatischer Einstimmigkeit in Zielen und
Mitteln erreichen. Es war fatal, daß es im Falle Jugoslawiens trotz der historisch
optimalen Konstellation, in der keine der Großmächte von ihrer Vetoposition
in der UNO Gebrauch machen wollte, zu höchst unterschiedlichen, ja konträren
Positionen im Westen und in der EG kam, die wie von unsichtbarer Hand gezogen dem
roten Faden der jeweiligen Nationalgeschichte folgten. Wenn die einen auf Stabilität
und das Prinzip der Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten setzen,
die anderen dagegen das Selbstbestimmungsrecht auch binnenstaatlichen Volksgruppen
zugestehen und sich unter dem Stichwort "Internationalisierung des Konfliktes"
von der frühen Anerkennung einer Sezession eine gewaltmindernde Wirkung versprechen,
trägt das dazu bei, die Konfliktparteien zu verwirren und entschlossenen Aggressoren
unnötige Handlungsspielräume zu eröffnen. - Die internationale Anerkennung
neuer, aus Sezession hervorgehender Staaten ist strikt an die Einhaltung von essentiellen
Bedingungen zu knüpfen: an die verbindliche Verpflichtung, Grenzen nicht mit
Gewalt zu verschieben, sowie an den Verzicht auf nationale Homogenisierung der Staatsbürger
und an die Gewährung von Minderheitenschutz. Sollten sich Grenzkorrekturen
und sogar - entgegen aller Vernunft und trotz allem gebotenen Widerstand - Bevölkerungsaustausch
letztlich als unvermeidlich herausstellend, so ist auch dabei ein Höchstmaß
an internationaler Kontrolle anzustreben. Die Anerkennung, im Falle Sloweniens und
Kroatiens zum Zweck der "Internationalisierung" und vermeintlichen Beendigung
des Bürgerkrieges vorangetrieben, hatte zwei substantielle Fehler. Zum einen
war kein internationaler Akteur willens, vorbereitet und bereit, dieser Internationalisierung
wirklich Nachdruck zu verleihen und den Aggressoren in den Arm zu fallen - insofern
war sie illusionär. Zum anderen hat die staatliche Trennung wahrscheinlich
die Konflikte in den diffizilsten politischen Gebüden des ehemaligen Jugoslawien,
in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in Mazedonien, verschärft. Am schlimmsten
indes dürfte sich auswirken, daß dieser Krieg das Vertrauen in die internationalen
Organisationen und ihre Krisenmechanismen durch den wiederholten Nachweis ihrer
Wirkungslosigkeit schweren Schaden zugefügt hat. Doch gehören, um es abschließend
noch einmal pointiert zu sagen, all diese zuletzt genannten Versuche, Sezessionen
zu internationalisieren, schon in den Bereich des anagements und der Schadenbegrenzung.
Sie sind dann gefragt, wenn die Eskalation nationalistischer Gewalt bereits fortgeschritten
ist. Deshalb muß eine auf Prävention zielende internationale Politik,
die verhindern will, daß es zur nationalistischen Gewaltspirale überhaupt
kommt, sowohl aus prinzipiellen Erwägungen als auch im Interesse der Stabilität
auf dem Primat des demos vor dem ethnos geradezu kategorisch bestehen. Zugleich
müssen wir dringend Strategien entwickeln, um internationale Garantien für
Recht und Schutz nationaler Minderheiten auch wirklich durchsetzen zu können.
Gerade weil die "Rückkehr zu den Stämmen" und binnennationalistische
Bewegungen das internationale Staatensystem gefährden, können staatliche
Souveränität und das Prinzip der Nichteinmischung keine absolute Schranke
mehr darstellen gegen die Bemühungen um die Verwirklichung der Selbstbestimmung
innerhalb der bestehenden Staaten. Nach dem hier Ausgeführten versteht sich,
daß Ideologien entgegenzutreten ist, die glauben machen wollen, die Unverletzlichkeit
des territorialen Status quo - immerhin das Fundament der KSZE - sei mit dem Ende
des Ost-West-Konfliktes obsolet geworden sei, oder die das alte nationalistische
Lied neu intonieren, nur Grenzen, die mit nationalen übereinstimmten, seien
"gerecht" und deshalb auf die Länge stabil, oder die gar, durch historische
Erfahrung wenig gewitzigt, von einem "Recht auf Sezession" schwadronieren.
Sie spielen mit einem gefährlichen Feuer, nicht zuletzt im Blick auf den Prozeß
des nation-building in anderen Kontinenten (25).
Überarbeitete Fassung eines Beitrags für die VII. Internationale
Amaldi-Konferenz, von der Accademia dei lincei in Kooperation mit der Polnischen
Akademie der Wissenschaften im September 1994 in Jablonna bei Warschau durchgeführt.
1) Alfred Cobban, National Self-determination, Chicago
2 1951 (zuerst 1944), S. XII.
2) Vgl. Arno J. Mayer, Politics and Diplomacy of Peacemaking.
Containment and Counterrevolution at Versailles, 1918-1919, London 1967.
3) "Wilson ist groß, und Kautsky ist sein
Prophet", lautet das entsprechende Kapitel in Dan Diners historischem Essay
verkehrte weiten: Antiamerikanismus, Frankfurt/M. 1993, S. 63-88. - Nur am Rande
sei angemerkt, daß auch manche gegenwärtige Denunziation und "Entlarvung"
der UNO mit ihren unzureichenden Funktionsmechanismen als angeblich bloß legitimatorisches
Instrument, Feigenblatt der USA oder des Westens - vom "Spiegel" bis weit
in die kritischen Milieus der ehemaligen Fiiedensbewegung und Linken hinein gang
und gäbe - oft stärker als bewußt in dieser nationalen ideologischen
Fluche stehen.
4) Günther Unser, Die UNO. Aufgaben und Strukturen
der Vereinten Nationen, München 11992, S. 15 f.
5) Vgl. dazu meinen Beitrag: Anerkennen als Ersatzhandlung.
Ein kritischer Rückblick auf die Bonner Jugoslawienpolitik, in: Peter Schlotter
u.a., Der Bosnienkrieg und das hilflose Europa. Plädoyer für eine militärische
UN-Intervention, "HSFK-Report", 5-6/1993, S. 37-54; John Newhouse, Berlin,
der Westen und die Auflösung Jugoslawiens. Das Versagen der Diplomatie - Chronik
eines Skandals, in: "Blätter", 10/1992, S. 1190-1205.
6) Vgl. dazu Peter Coulmas, Das Problem des Selbstbestimmungs-
rechts. Mikronationalismen, Anarchie und innere Schwäche der Staaten, in: "Europa-Archiv",
4/1993, S. 85-93; Amitai Etzioni, The Evils of Self-Determination, in: "Foreign
Policy", Summer 1994, S. 3-18. - Die bereits angeführte Studie von Alfred
Cobban gilt mit Recht noch immer als Standardwerk.
7) Werner Weidenfeld in seinem Vorwort zu: Georg Brunner,
Nationalitätenprobleme und Minderheitenkonfükte in Osteuropa. Strategien
und Optionen für die Zukunft Europas, Gütersloh 1993, S. 8.
8) Thomas G. Mask, Das neue Europa, 1915, Neudruck Berlin
1991, S. 76.
9) Vgl. dazu meinen Aufsatz: demos und ethnos. Nationalismus
zwischen Emanzipation und völkischer Reaktion, in: Lothar Brock und Ingomar
Hauchler (Hrsg.), Entwicklung in Mittel- und Osteuropa. Chancen und Grenzen der
Transformation, Bonn 1993, S. 117-163.
10) Instruktiv dazu neben Alfred Cobban auch Paul
Kluke, Selbst bestimmung. Vom Weg einer Idee durch die Geschichte, Göttingen
1963.
11) Theodor Schieder, Nationalismus und Nationalstaat.
Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, hrsg. von Otto Dann und Hans-Ulrich
Wehler, Göttingen 1991, S. 61.
12) Robert Lansing, Die Versailler Friedensverhandlungen.
Persönliche Erinnerungen, Berlin 1921, S. 73.
13) Emerich Francis, Ethnos und Demos. Soziologische
Beiträge zur Volkstheorie, Berlin 1965, S. 49 f. - Eine überaus instruktive
Aufsatzsamnilung, in der Fachliteratur über Nation und Nationalismus zu Unrecht
wenig berücksichtigt.
14) Ekkehard Kraft, Die bosnischen Musliine als Nation,
in: "Neue Zürcher Zeitung", 20.6.1992.
15) Vgl. dazu den kenntnisreichen Aufsatz von Andre
Liebich, Minorities in Eastern Europe: Obstacles to a Reliable Count, in: RFE/RL,
Research Report, 15.5.1992, S. 32-39.
16) Thomas G. Masaryk, a.a.O., S. 141
17) Hier zit. nach Alfred Cobban, a.a.O., S. 24.
18) Gute Gründe sprechen dafür, den Begriff
des Nationanalismus dieser Auffassung vorzubehalten, also dem "politischen
Prinzip, das besagt, politische und nationale Einheiten sollten deckungsgleich sein."
So Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991, S. 8. - In diesem Sinne
ist die Bemerkung von Isaiah Berlin zu verstehen: "Der moderne Nationalismus
ist in der Tat auf deutschem Boden entstanden." (Der Nationalismus. Seine frühere
Vemachlässigung und gegenwärtige Macht, Frankfurt/M. 1990, S. 69) - Im
Blick auf die ethnozentrische Auffassung von Nation und Nationalismus jedenfalls
ging Deutschland keinen Sonderweg, sondern machte Schule!
19) Vgl. dazu Erwin Viefhaus, Die Minderheitenfrage
und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskoriferenz
1919. Eine Studie zur Geschichte des Nationalitätenproblems im 19. und 20.
Jahrhundert, Marburger Ostforschungen, Bd. 11, Würzburg 1960.
20) Zit. nach Kurt Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht
der Völker. Geschichtliche Grundlagen, Umriß der gegenwärtigen Bedeutung
- ein Versuch, Köln 2 1973, S. 32
21) Beispielsweise Michael Lind, In Defense of Liberal
Nationalism, in: "Foreign Affairs", May/June 1994, S. 87-99, der die "stabilitarians"
verspottet und ziemlich unumwunden der Sezession und der Schaffung ethnisch homogener
Staaten das Wort redet.
22) Vgl. Guido Hunziker, Die Schweiz und das Nationalitätsprinzip
im 19. Jahrhundert. Die Einstellung der eidgenössischen Öffentlichkeit
zum Gedanken des Nationalstaates, Basel/Stuttgart 1970.
23) Vgl. dazu die Anregungen von Dieter Senghaas,
Friedensprojekt Europa, Frankfurt/M. 1992, S. 116-138, sowie von Peter Schlotter
u.a., Die neue KSZE. Zukunftsperspektiven einer regionalen Friedensstrategie, Opladen
1994, S. 54-94.
24) Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus.
Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt/M. 1991, S. 119.
25) Georg Brunner läßt sich in seiner bereits
zitierten Studie darauf meines Erachtens allzu umstandslos und bereitwillig ein.
Er wird noch überboten von dem Beitrag von Andrew Bell-Fialkoff, A Brief history
of Ethnic Cleansing, in: "Foreign Affairs", Summer 1993, S. 110-121, dessen
kaum zu überbietendem kontemplativen Zynismus zufolge "ethnische Säuberungen"
seit je zur Geschichte gehörten, weshalb auch, so die Schlußfolgerung,
der Balkan erst dann zur Ruhe komme, wenn sich dort ein Flickenteppich ethnisch
klar voneinander abgegrenzter Territorien gebildet haben wird, in jedem Staat keine
größeren Minderheiten mehr übrig und die sich bekämpfenden
Gruppen durch sichere 'nationale' Grenzen voneinander abgetrennt sein werden."
(S. 121)
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