Intelligenztheorien
Zusammenfassung und Schlußfolgerungen zu Forschungsergebnissen zum Anlage-Umweltproblem
Der Schlüssel zum Verständnis zweckmäßigen (intelligenten)
Verhaltens des Menschen liegt weder allein in seiner biologischen Natur (Vererbung)
noch allein in seinen äußeren Lebensbedingungen. Sein Verhalten unterliegt
sowohl biologischen Bestimmungen als auch Einflüssen der materiellen und sozialen
Umwelt. Jeder Versuch, den Menschen und sein Verhalten allein aus einer biologischen
Natur heraus oder als reines Produkt der Erfahrung zu beschreiben, mündet in
eine Sackgasse.
Die Vererbungsgesetze spielen allerdings im menschlichen Bereich eine ganz andere
Rolle als im tierischen. Sie legen weder die Richtung noch die Inhalte der Verhaltensentwicklung
fest, sondern bilden lediglich spezifische dafür erforderliche organische Voraussetzungen.
Inhalt und Richtung der psychischen und damit auch im besonderen der intellektuellen
Entwicklung werden im wesentlichen durch aktive Auseinandersetzung mit der Lebenswelt
realisiert.
Dies zeigt sich sehr deutlich am Beispiel der Sprache, eines zentralen Prozeßaspektes
intellektueller Abläufe und Entwicklung. Der Mensch ist dazu in der Lage, die
menschliche Sprache zu erwerben - aufgrund bestimmter, im Laufe seiner Evolutionsgeschichte
erworbener Hirnstrukturen und bestimmter unbedingt-reflektorischer Mechanismen des
Zentralnervensystems. Diese Strukturen und Mechanismen enthalten jedoch noch keineswegs
die Inhalte, die Regeln der je gruppenspezifischen Sprache, ebensowenig die mit
der Sprache verbundenen Gedanken. Sie alle werden erst im Laufe eines individuellen
"Aneignungsprozesses" erworben. Die konkrete Sprache ist nicht im Erbgut
verankert, sondern Produkt von jahrtausendelanger menschlicher Überlieferung,
Erfahrung und Sprachdifferenzierung. Sprache ist demnach zugleich das Produkt eines
bestimmten hirnorganischen Entwicklungsstandes wie der historisch-gesellschaftlichen
Entwicklung.
Die biologische Natur des Menschen und Umwelterfahrung bzw. gesellschaftliche Grundlage
der menschlichen Existenz bilden keine Gegensätze, ebensowenig nebeneinanderstehende
Einflußbereiche, sondern verschiedene Entwicklungslinien eines einheitlichen
Prozesses, die im Laufe der individuellen Entwicklung ineinandergreifen. Die soziale
Entwicklung baut auf den biologischen Grundlagen auf und ist erst durch die biologische
Natur des Menschen möglich.
Die Wurzeln des menschlichen Verhaltens reichen sowohl in biologischer als auch
in sozialer Hinsicht sehr weit in die Vergangenheit der Menschheit zurück,
gehen über die Grenzen des individuellen Lebens und Organismus weit hinaus.
Eine Analyse des Intelligenzproblems erfordert daher zwangsläufig eine historisch
und sozial orientierte Betrachtungsweise.
Vor allem im Hinblick auf seine historisch-gesellschaftliche Situation unterscheidet
sich der Mensch fundamental vom Tier. Zwar müssen auch die meisten Tiere, um
lebensfähig zu sein, eine Menge Lernprozesse durchmachen; tierisches Lernen
beschränkt sich im wesentlichen aber auf eine Optimierung der Strategien der
Anpassung an die vorgegebene Umwelt. Die individuell gespeicherten Erfahrungen und
Anpassungsmuster gehen der Art mit dem Tod des Individuums weitgehend verloren.
Denn Tiere schaffen keine Kultur, besitzen keine Kommunikationsmöglichkeiten
im Sinne der menschlichen Sprache, objektivieren ihre Erfahrungen nicht oder nur
in sehr begrenztem Maße. Auf diese Weise gibt es bei Tieren auch so gut wie
keine von Generation zu Generation kumulierende Erfahrung. Dafür verfügen
Tiere aber über ein ausgeprägtes und "sicheres" Instinktsystem,
das ihnen allerdings enge Grenzen der Verhaltensänderung setzt.
Die biologische Ausstattung spielt dementsprechend bei Tieren eine verhältnismäßig
größere Rolle als beim Menschen. Seine Verhaltensstruktur unterscheidet
sich von der des Tieres durch seine "offenen " Verhaltensprogramme, durch
seine enormen Lernmöglichkeiten und vor allem durch seine aktive Veränderung
und Gestaltung der Lebenswelt. Indem der Mensch Kultur hervorbringt, objektiviert
er seine Erkenntnisse, Erfahrungen in Gegenständen, in der Sprache, in bleibenden
Kulturwerten, deren Bedeutungen sich für die Verbesserung der menschlichen
Lebenspraxis über die Generationen addieren. Der heranwachsende Mensch lernt
auf diese Weise weniger durch Versuch und Irrtum individualisierter Erfahrungen,
sondern im wesentlichen durch Aneignung des historisch-gesellschaftlichen Erfahrungsgutes
und durch dessen aktive Weiterentwicklung.Entsprechend hängt die individuelle
menschliche Entwicklung im Unterschied zum Tier weniger von den ererbten Programmen
ab als vom Stand der gesellschaftlich- historischen Entwicklungsstufe. Zur biologischen
Vererbung ist somit beim Menschen eine weitere Form der "Vererbung" hinzugetreten:
die soziale oder gesellschaftliche Vererbung.
In den letzten zehntausend Jahren hat sich der Mensch in genetischer Hinsicht allem
Anschein nach so gut wie nicht mehr verändert. Der Mensch der Steinzeit könnte
ebensogut in der Gegenwart leben und würde sich im Prinzip nicht von den Menschen
unserer Zeit unterscheiden. Umgekehrt könnte sich der moderne Mensch, hätte
er die Gegenwart nicht kennengelernt, reibungslos in die Steinzeitkultur eingliedern.
Derselbe Mensch würde in dem einen Fall sich das moderne nüchterne und
naturwissenschaftlich geprägte Denken aneignen, im anderen Fall der Magie und
dem Okkultismus der Steinzeitkultur erlegen sein.
Verschiedene Kulturstufen bringen ganz unterschiedliche Denk- und Bewußtseinsstrukturen
hervor - bei unveränderter genetischer Natur des Menschen. Die Besonderheiten
der menschlichen psychischen Entwicklung, die ihn vom Tier unterscheiden, sind somit
weniger das Produkt seiner Anlagen als seines eigenen Handelns, seiner aktiven Umgestaltung
der materiellen Lebenswelt. Indem die Menschen Kultur schaffen, Erfahrungen austauschen
und vergegenständlichen, Ziele gemeinsam planen und durchfuhren, eröffnen
sich ihnen immer neue Entwicklungsperspektiven. Indem der Mensch Kultur hervorbringt,
besteht sein Verhalten nicht mehr nur wie beim Tier aus individuellen Anpassungsleistungen,
sondern zunehmend auch aus konstruktiven, schöpferischen Aktivitäten,
auf deren Grundlagen sein Denken und seine Fähigkeiten immer differenziertere
und höhere Stufen erreichen.
Die Fähigkeiten, die der moderne Mensch zur Aufrechterhaltung und Fortentwicklung
des gegebenen Kulturniveaus benötigt, sind das Produkt jahrtausendelanger Kulturgeschichte
und menschlicher Arbeit.
Allgemein verbreitete Fähigkeiten (wie Lesen und Schreiben), die heute selbstverständlich
sind, waren vor wenigen tausend Jahren das Privileg einer kleinen Elite. Dieser
Sprung der Fähigkeitsentwicklung ist nur auf der Grundlage der gesellschaftlichen
Produktion und der dadurch ermöglichten und notwendig gewordenen Verbesserung
der menschlichen Bildung verstehbar.
Jedes neugeborene menschliche Wesen beginnt nicht bei einem Zustand Null, sondern
macht stets die Erfahrungen, die für eine bestimmte Kulturstufe kennzeichnend
sind. Der Schlüssel zum Verständnis menschlicher Fähigkeiten liegt
somit weniger im einzelnen Menschen selbst als in den grundlegenden Strukturen gesellschaftlicher
Lebenserhaltung, in der im Laufe der Geschichte vorangetriebenen Naturbeherrschung,
in den Prinzipien und Formen kooperativen und arbeitsteiligen Schaffens. Um zum
Mechanismus individueller Verhaltensbestimmung vorzudringen, muß man über
die Grenzen des einzelnenindividuums hinausgehen, seine Bezüge zur sozialen
Umwelt, zur gesellschaftlichen Produktion auf arbeiten, seine reale Aktivität
und deren Einbettung in bestehende Produktions- und soziale Handlungszusammenhänge
nachvollziehen und analysieren. Ohne diesen Rückbezug individuellen Verhaltens
auf überindividuelle Gegebenheiten besteht die Gefahr, die tatsächliche
Determination des Verhaltens zu verfehlen, sie fälschlicherweise "im"
einzelnen Menschen selbst zu suchen: was de facto Produkt eines gesellschaftlichen
arbeitsteiligen Prozesses ist (z.B. der Gegensatz von praktischer und theoretischer
Begabung), als nicht weiter rückführbare individuelle Faktoren zu mißdeuten.
Der Aufstieg des Menschen aus dem Tierreich und die Entwicklung der heute zu findenden
menschlichen Fähigkeiten sind der Prozeß der Ansammlung von Erfahrungen
im Umgang mit der Natur, von Erfahrungen im Umgang mit anderen Menschen, die arbeitsteilig
auf die Umwelt einwirken. Den entscheidenden Impuls erfuhr die kulturelle Entwicklung
durch das Aufkommen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Sie schuf die Grundlage
dafür, daß sich Menschen bestimmten Teilbereichen der Wirklichkeit, der
menschlichen Lebenserhaltung und -verbesserung intensiver als sonst widmen konnten.
Sie ermöglicht die Herausbildung eines hohen Perfektionsgrades im Umgang mit
ganz bestimmten Aspekten und Ausschnitten der menschlichen Arbeit und damit die
Formung spezieller Fähigkeiten und Fertigkeiten, die im biologischen Programm
nur als Möglichkeit und nicht als konkrete Bestimmung bereits enthalten sind.
Gesellschaftliche Arbeitsteilung ging in der Geschichte fast immer mit einer fortschreitenden
Hierarchisierung der Teilfunktionen und damit einer Differenzierung in leitende
und ausführende Funktionen einher. Erst die Zusammenfassung vieler zerstreuter
Teilkräfte unter einem gemeinsamen Ziel (zentralisierte Macht) ermöglichte
rasche kulturelle Hochleistungen, führte zur Herauskristallisierung einer "geistigen
Elite". Die Aufteilung der Arbeitsfunktionen und die damit einhergehende soziale
Differenzierung bilden die - höchst widersprüchliche - Grundsituation
menschlichen Fortschritts und der Herausbildung höherer menschlicher Fähigkeiten.
Hierarchisierung der Arbeit führt allemal zu einem Gegensatz von Überordnung
und Unterordnung, von Macht und Machtlosigkeit, von Überlegenheit und Hilflosigkeit.
Dieser Gegensatz prägt alle Phasen menschlicher und gesellschaftlich-historischer
Entwicklung seit den Sklavenhaltergesellschaften. Kulturelle Hochleistungen kamen
in der Geschichte fast immer dadurch zustande, daß eine Mehrheit sich den
Plänen einer leitenden und "wissenden", von der Mehrheit miternährten
Elite mehr oder minder unfreiwillig unterordnete.
In einer hierarchisch gegliederten sozialen Ordnung haben insbesondere die Vertreter
der oberen Ränge die Möglichkeit, sich "höheren" Aufgaben
zu widmen, "höhere" Fähigkeiten zu entwickeln. Die Mitglieder
an der Gesellschaftsbasis sind dagegen je nach Stand der gesellschaftlichen Entwicklung
an mehr oder minder gleichförmiges entfremdete, kräfteraubende, unperspektivische
Tätigkeiten gekettet, die ihnen wenig intellektuellen und schöpferischen
Spielraum bieten. Im Laufe der historischen Entwicklung scheint der Gegensatz zwischen
dem Maß an intellektuellen Anforderungen zwischen den oberen und unteren Rängen
in der Produktionshierarchie nicht kleiner, sondern sogar größer geworden
zu sein.
In dem Maße beispielsweise, wie die Wissenschaft sich in den Arbeitsprozeß
einschaltete, sich besondere Planungs- und Entwicklungsabteilungen in der Industrie
herausbildeten, wurde auf der untersten Basis die Arbeit immer weiter vereinfacht
(s. Fließband), um die Anlernzeiten fiir eine bestimmte Arbeit minimal zu
halten, um in einem speziellen Tätigkeitsbereich eine extrem hohe Perfektion
zu realisieren - auf Kosten der Beteiligung an der Gesamtplanung der Produktion
und des Gesamtüberblicks.
Unter diesen Bedingungen von "Produktionsökonomie " vollzieht sich
die Fähigkeitsentwicklung sehr widersprüchlich. Eine "allseitige"
Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten für alle Gesellschaftsmitglieder
ist in diesem Fall kaum möglich. Die extrem arbeitsteilige Produktion begünstigt
vielmehr die Entwicklung von Teilfertigkeiten, die um so weniger "intellektuellen"
und schöpferischen Inhalt haben, je niedriger jemand in der Produktionshierarchie
steht. Je ausgeprägter die Zentralisierung der Produktion, desto krasser ist
der Gegensatz zwischen Leitenden und Führenden, zwischen den auf "höherer"
Produktionsebene erforderlichen Fähigkeiten und den an der Produktionsbasis
abverlangten Funktionen.
Die Ökonomie der Arbeitsteilung ging in der Geschichte und geht noch heute
so weit, daß die fortschreitende Fähigkeitsentwicklung zumindest eines
Teils der Gesellschaft blockiert wird. Unter den Evolutionsbedingungen, die erst
die organischen Voraussetzungen der Menschwerdung schufen, brauchte der Mensch ein
hohes Maß an Erkundungsverhalten, wurden seine Sinne in vielfältiger
und ständig wechselnder Weise beansprucht. Der Mensch ist bereits von seiner
biologischen Natur her darauf ausgerichtet, seine Umwelt zu erkunden, Gleichförmigkeiten
aus dem Wege zu gehen. Dieses Bedürfnis liefert auch in der Gegenwart eine
wichtige Prozeßbedingung der fortschreitenden Entwicklung seiner Intelligenz.
Viele Arbeitsbedingungen in der Geschichte wie in der Gegenwart widersprechen diesem
Bedürfnis jedoch und hemmen auf diese Weise die Denkentwicklung und die Motivation
des Menschen. Motivation und Erkenntnisentwicklung bilden ursprünglich eine
Einheit: Die Erkundung der Umwelt und die schöpferische Betätigung bilden
ein wesentliches Bedürfnis des Menschen, das nicht unmittelbar an primäre
biologische Notwendigkeiten gebunden, aber dennoch von hohem biologischem und sozialem
Wert ist. Die Bedeutung des Erkundungsmotivs erschöpft sich nicht in der Tätigkeit
selbst, sondern hat perspektivischen Charakter: Es ermöglicht und fördert
die Erkenntnis von der Welt. Indem der Mensch mit den Gegenständen der Umwelt
umgeht, auf sie einwirkt, sie umgestaltet, sie seinen Bedürfnissen anpaßt,
vollzieht sich die Erkenntnis der Wirklichkeit, bekommt er Einblick in die Gesetze
der Natur, entfalten sich seine Fähigkeiten.
Wird der Tätigkeitsbereich jedoch auf einen sehr eingeengten Rahmen beschränkt,
geht dem Menschen unweigerlich die "Breitenerkenntnis" verloren, erstirbt
sein Interesse an der übrigen Umwelt, wird seine Motivation fortschreitend
von Apathie überlagert. Die dominierende Tätigkeitsstruktur prägt
somit seine Persönlichkeitsentwicklung und sein intellektuelles Verhalten sowie
seine gesamten Bezüge zur Umwelt.
Die Effekte der Arbeit auf die Persönlichkeits- und Fähigkeitsentwicklung
haben somit widersprüchlichen Charakter. Je höher jemand in der sozialen
bzw. Produktionshierarchie steht, desto eher kann er das gesamte gesellschaftlich
erarbeitete Wissen und Können, das gesellschaftlich-historische Kulturgut für
sich selbst, für seine Erkenntnisentwicklung zunutze machen. Die Menschen an
der Produktionsbasis haben an den "höheren" Erkenntnissen entweder
gar nicht teil, oder sie benutzen lediglich die massenhaft produzierten Kulturgüter,
ohne ihre Funktionsweise zu verstehen oder Einfluß auf die Planung der Produktion
nehmen zu können.
Die spezifischen Effekte der menschlichen Arbeit haben über die Generationen
kumulierende Bedeutung. Sie wirken sich auf Denken, Verhalten aus, prägen die
Erziehungstechniken, die Lebensperspektive. Für jede "soziale Schicht"
entstehen so im Laufe der historischen Entwicklung charakteristische Denkweisen,
Lebensvorstellungen, Fähigkeiten, motivationale Orientierungen. Für die
einen werden so Ziele wie Gehorsam und Unterordnung wichtig, für die anderen
kommt es dagegen auf Selbstkontrolle und Selbstbestimmung an. Diese verschiedenen
Orientierungsmuster, die Anpassungsstrategien an die jeweiligen Anforderungen am
Arbeitsplatz sind, werden auch den Kindern abverlangt. So begünstigt beispielsweise
das Orientierungsmuster G@horsam ein eher restriktives Erziehungsverhalten, wodurch
die perspektivische Ausrichtung und die Zielorientierung schwer in Mitleidenschaft
gezogen werden. Dies bedeutet Verschüttung der intellektuellen Neugier, des
Experimentierwillens, der Selbstbestimmung, Unterbindung der Spontaneität und
schließlich Apathie. Dort, wo Initiativen gebrochen werden, Aktivitäten
keine Ermutigung, keine Verstärkung und kein Material zur Erprobung finden,
kommt es auch nicht zu Lernprozessen, kann es keine intellektuelle Weiterentwicklunggeben.
Denn Intelligenz im weitesten Sinne ist die Fähigkeit, mit der Umwelt wirksam
umzugehen; und dies erfordert ihre genaue Kenntnis, die fortschreitende Gewißheit,
auf die Umwelt in wirksamer Weise einwirken zu können. Jemand, der nicht gelernt
hat, wie die Welt beschaffen ist, welche Seiten sie aufweist, wie sie auf eigenes
Verhalten reagiert, der nie erfahren hat, daß eigenes Verhalten wirksame Effekte
hervorruft, dessen Intelligenzentwicklung stagiüert unweigerlich.
Umgekehrt fördern Eltern gehobener Schichten in stärkerem Maße die
aktive, erkundende und schöpferische Seite des Verhaltens. Ihr relativ feinfühliges
Eingehen auf die Erkenntnisbedürfnisse des heranwachsenden Menschen, ihre systematische
Ermutigung der Initiativen des Kindes und ihre umsichtige Gestaltung einer "Erkundungswelt"
liefern die Basis einer optimistischen und zielorientierten Umweltzuwendung, die
sich in hoher intellektueller Kompetenz niederschlägt.
Erziehung und Erfahrungen am Arbeitsplatz verstärken sich wechselseitig über
die Generationen, führen zur Herausbildung typischer Sozialcharaktere. Sie
tragen ihrerseits zur Verfestigung der bestehenden sozialen Hierarchie bei, verstärken
die Existenz sozialer Barrieren. Unter diesen Bedingun- gen verinnerlichen die Menschen
ihre eigene Lage innerhalb des gesellschaftlichen Systems und die damit verbundenen
Erwartungen und Privilegierunuster. Die einen sehen sich so mehr oder minder unabänderlich
als Untertanen, die anderen als Elite.
Eine so über Generationen verfestigte gesellschaftliche Ordnung spiegelt sich
im Bewußtsein der Menschen als quasi "naturhafte" Ordnung wider,
erscheint als "natürlicher" Zustand. Sie wird als dem Wesen des Menschen
entsprechende Organisationsform und als unabänderlich angesehen.
Vor allem die Gruppe der Privilegierten besitzt ein vitales Interesse daran, daß
dieses Bewußtsein fest verankert bleibt, daß die Verhältnisse so
bestehenbleiben, wie sie sind. Die privilegierte Gruppe trägt auf ihre Weise
zur Stärkung dieses Bewußtseins bei, wertet jeden Veränderungsversuch
als Sakrileg gegen überkommene, "heilige" Werte. Ihre Ideologie:
Die Schichtung der Gesellschaft spiegelte die natürlichen bzw. gottgegebenen
Fähigkeitsunterschiede wider. Je fähiger der Mensch sei, desto mehr leiste
er für die Gesellschaft, desto höher rangiere er auf der sozialen Prestigeskala,
desto mehr Privilegien stünden ihm zu.
Die Geschichte lehrt jedoch: Hierarchisierung der gesellschaftlichen Arbeit enthält
allemal die Möglichkeit des Mißbrauchs der Macht, die Möglichkeit
eines Versuchs, die Produkte der gesellschaftlichen Arbeit im Sinne der Machtverhältnisse
zu verteilen und die bestehenden Verhältnisse um der Erhaltung der Macht und
der privilegierten Position willen mit allen Nütteln zu verteidigen. Eine unterschiedliche
Position innerhalb der Produktionshierarchie bedeutet in der Tat in der Geschichte
immer auch unterschiedliche Teilhabe an den gesellschaftlich erarbeiteten Gütern.
Je höher jemand in der gesellschaftlichen Hierarchie steht, desto mehr Privilegien
beansprucht er, desto mehr Privilegien werden ihm zugestanden.
Wer zur Elite, zur Gruppe der "Führenden" zählt, darüber
entscheidet nach der Ideologie der traditionalen Gesellschaft die gottgegebene Vorsehung.
Die Machthaber der vorindustriellen Gesellschaft beriefen sich auf "göttliches
Recht", sie erklärten sich als Stellvertreter des obersten Weltenherrschers.
Sie, so sagten sie, seien die Auserwählten, die dem gemeinen Volk den Weg zeigen
müßten.
Solange die führenden Gruppen wirksame soziale Neuerungsfunktionen erfüllen,
gibt es für die Mitglieder einer Gesellschaf t keinen Anlaß, an dieser
Ideologie zu zweifeln, vor allem so lange nicht, wie die bestehende Gesellschaftsordnung
über lange Zeiträume ausreichend Stabilität beweist.
Unter den Bedingungen des hochentwickelten Industriekapitalismus vollziehen sich
die historischen Veränderungen jedoch ungleich stürmischer als in der
vorindustriellen Zeit, wird der Wechsel von Stagnations- und Konjukturphasen zu
einer ständig sich wiederholenden Erscheinungsform. Auf Phasen relativ rascher
und weitgreifender Umwälzungen im Bereich der Produktion, des Konsums und damit
auch des Denkens und des Bewußtseins folgen Phasen der Konsolidierung, der
inneren Erstarrung, der Verkrustung, der tendenziellen Wiederbelebung traditioneller
Denk- und Lebensformen.
Die kapitalistische Organisation lebt dennoch insgesamt gesehen von Expansion, von
zeitweiligen "Neuerungsschüben" sozialer und technologischer Art,
von ständiger innerer Erneuerung, von Zerstörung bzw. Entwertung auf der
einen Seite und schöpferischer Gestaltung auf der anderen. Werden die historisch
"fälligen" Neuerungsschübe von konservativen Kräften allzu
sehr aufgehalten, so treten die Entwertungsprozesse überholter sozialer und
produktiver Strukturen schließlich in einem bestimmten Abschnitt konzentriert
auf: in der "Krise". Die Krise ist somit der Ausdruck relativ plötzlicher
Entwertung von Strukturen, die man über eine bestimmte Zeit hinaus entgegen
den historischen Erforderriissen aufrechtzuerhalten versucht hat. Auf diese Weise
wird der Übergang in die neue historische Epoche um so deutlicher.
Die kapitalistische Gesellschaft enthält somit eine Vielzahl dynamischer Kräfte,
die alle einen spezifischen Beitrag zur Aufrechterhaltung bzw. zur historisch notwendigen
Weiterentwicklung beisteuern. Auf der einen Seite gibt es dynamische, auf Weiterentwicklung,
z. T. sogar auf "Umwälzung" drängende Kräfte. Sie betonen
den historischen und produktiven Charakter der menschlichen Existenz. Auf der anderen
Seite finden sich traditionelle Strömungen, die um Konsolidierung der gegebenen
Kräfte bemüht sind. Sie werden vor allem von den etablierten Gruppen repräsentiert,
die überdurchschnittlich an den Privilegien der Gesellschaft teilhaben. Sie
möchten das Rad der Geschichte nach Möglichkeit stillhalten, denn historische
Veränderungen bergen die Gefahr des Statusverlustes, einer Verschärfung
der Konkurrenzlage in sich. Konservative und etablierte Vertreter berufen sich entsprechend
auch bevorzugt auf den Gedanken der natürlichen Ordnung der Dinge, auf das
unabänderliche Oben und Unten innerhalb einer Gesellschaftsordnung, auf die
traditionellen Werte. Sie gewinnen gegenüber den auf Veränderung und Weiterentwicklung
drängenden Kräften in dem Maße an Einfluß, wie die Zeichen
der Zeit auf Konsolidierung gestellt sind.
Die Vertreter der um Weiterentwicklung und dynamische Veränderung bemühten
Kräfte sehen den Menschen dagegen in seinen Veränderungsmöglichkeiten,
in seinen realen Entwicklungsperspektiven. Sie verfolgen demgemäß einen
optimistischen Ansatz vom Menschen, verstehen ihn weniger von seinen biologischen
Beschränkungen her als von seinen potentiellen Handlungen, die weder vorprogrammiert
noch rein individuell bestimmt, sondern in einen sozialen Zusammenhang eingebettet
sind, der historischen Veränderungen unterliegt.
Beide Strömungen - traditionelle konservative Ideologie auf der einen Seite
und dynamische, auf Weiterentwicklung des Systems drängende Impulse auf der
anderen Seite - sind keineswegs unvereinbare Gegensätze, sondern notwendige
Komponenten des ideologischen Überbaus des dynamischen kapitalistischen Systems.
Beide tragen in spezifischer Weise zum Funktionieren des gesamten Apparates bei.
Die eine Position spiegelt die dynamische Weiterentwicklung des Systems wider, ohne
die das System nicht existieren kann. Die andere Position sichert die historische
Kontinuität, die Stabilisierung der historisch kumulierten Erfahrungen und
Strukturen. Beide bringen allerdings nur Teilaspekte der gesellschaftlichen Strömungen
zum Tragen und bergen bei einseitiger Betonung und Akzentuierung die Gefahr der
Wirklichkeitsverzerrung in sich.
Die ideologischen Strömungen machen mit der historischen Entwicklung Veränderungen
durch. Sie müssen sich den jeweils vorliegenden historischen Gegebenheiten
anpassen, um integrative Funktionen auszuüben. So kann sich die konservative
Ideologie heute nicht mehr wie in der vorindustriellen Zeit auf "göttliche
Vorsehung" berufen. Das "aufgeklärte" technologische Zeitalter
erfordert andere, rationalere Legitimationsmuster. Dazu gehört u. a. der Intelligenzbegriff.
Intelligenz, so lautet die traditionelle Auffassung, bilde die Grundlage des individuellen
Erfolgs, den Maßstab der Leistungsfähigkeit des einzelnen, die Basis
seiner Anerkennung in der Gesellschaft. Wem der "Zufall" (genetische Kombination)
besondere intellektuelle Begabungen beschert habe, der könne auch der Gesellschaft
Kulturprodukte bescheren und den allgemeinen Wohlstand der Gesellschaft vermehren
helfen, die menschliche Lebenspraxis bereichern, verschönern und erleichtern.
Daher stünden ihm auch besondere Belohnungen zu. Wer intelligent sei, darüber
entscheide in erster Linie die Natur selbst. Intelligenz sei vor allem eine Sache
der Vererbung, der biologischen Bedingungen. Es stehe von Geburt an so gut wie fest,
was aus dem Menschen einmal werde. Der von Natur her Begabte setze sich allemal
durch, werde auch bei widrigen Lebensumständen seinen Weg gehen. Aus den wenig
Begabten sei dagegen auch bei günstigen Bedingungen wenig Beeindruckendes herauszulocken.
Das Bildungssystem habe deshalb vornehmlich die Aufgabe, die Begabten von den Unbegabten
zu trennen, den Begabten alle erdenklichen Förderungen zukommen zu lassen,
da sie bei ihnen auf "fruchtbaren" Boden fallen würden. Für
die Unbegabten, bei denen sich die Investitionen nur wenig lohnen würden, sei
dagegen die Elementarbildung ausreichend.
Zur Unterstützung dieser Ideologie konstruierte man die Begabung bzw. die Intelligenz
derart, daß man ihre Abhängigkeit von den realen Lebensbedingungen nicht
mehr erkennen kann: als statische Eigenschaft und abgespalten von den sozialen und
motivationalen Bezügen des Menschen. Die herkömmlichen Intelligenzmodelle
beschreiben die Intelligenz als eine "intellektualistische" Wirkeröße,
losgelöst von der Tätigkeit des Menschen, seinen BedÜrfnissen und
ErfahrungsmÖglichkeiten, und münden deshalb langfristig in eine Sackgasse.
Die frühe Intelligenzforschung unternahm keine Anstalten, eine Verbindung von
Intelligenz und Erkenntiüsmotivation herzustellen, die Rolle der (schichtenspezifischen)
Erziehung für die intellektuelle Kompetenz aufzuarbeiten. Soweit man von der
"Umwelt" der Intelligenzentwicklung redete, faßte man die Raster
der Umwelt derart grob, daß sie als Entwicklungsfaktor nicht mehr erkennbar
war.
Die herkömmliche Zwillingsmethode, die als Königsweg zur Erforschung der
Bedeutung der Anlagen gilt, bleibt an der Oberfläche der Phänomene haften,
d.h., sie ist nicht in der Lage, den real ablaufenden Entwicklungsprozeß aufzuschlüsseln.
Die Zwillingsforschung verfolgt darüber hinaus einen mechanistischen und pessimistischen
Ansatz. Sie versucht, die intellektuellen Unterschiede in mechanischer Form zu zerlegen:
in einen Umweltanteil und in einen genetischen. Sowenig, wie es einen reinen genetischen
Beitrag gibt, gibt es einen reinen Umweltbeitrag. Beide Entwicklungsfaktoren wirken
allemal zusammen, lassen sich im Prinzip nicht voneinander abgrenzen. Der "Befund",
wonach Intelligenzunterschiede zu 80 % "erblich" sein sollen, ist im Hinblick
auf das Verständnis der Entwicklung der Intelligenz ein methodisches Kunstprodukt
und dient den Erbtheoretikern dazu, Assoziationen der Unveränderlichkeit der
Intelligenz zu wecken.
Die Ergebnisse der traditionellen, höchst unzulänglichen und fehlerbehafteten
Zwillingsforschung werden von Erbtheoretikern in doppelter Weise mißbraucht.
Zum einen wird von der Erblichkeit der Intelligenz auf ihre Veränderlichkeit
geschlossen. Dies ist jedoch nicht möglich. Merkmalsunterschiede können
eine Erblichkeit von 100 % haben, dennoch kann das individuelle Merkmal unbegrenzt
veränderlich sein. Dieser nur scheinbare Widerspruch hängt damit zusammen,
daß der Erblichkeitsbegriff der genetischen Forschung eine ganz andere Bedeutung
hat als der der Alltagssprache. Dieser Unterschied dürfte den wenigsten Laien
klar sein und wird auch von konservativen Bildungspolitikern im eigenen Interesse
so gut wie immer unterschlagen. Bildungspolitiker, die sich auf die Ergebnisse der
Zwillingsforschung berufen, sitzen einem Irrtum auf und operieren mit einem objektiv
falschen Argument.
Mit dem Hinweis auf Prozentanteile ist für die pädagogische Praxis nichts
geleistet. Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie psychische Entwicklung abläuft,
auf welche Weise sich die Erkenntnis von der Außenwelt vollzieht. Diese Frage
wurde lange Zeiterstgar nichtgestellt. Manging von vornherein von einer "konstanten"
Intelligenz aus, die einem als angeblich unabänderliches Gut in die Wiege gelegt
wird. Tests "belegen" dann auch das, was der herrschenden Ideologie entspricht:
die Uberlegenheit der einen und die Unterlegenheit der anderen.
Die traditionelle Begabungs- und Intelligenzideologie ist der Versuch, eine gegebene
Sozialschichtung und die damit verbundenen Privilegienmuster mit Hilfe der Biologie
zu legitimieren, die Unabänderlichkeit des Gegensatzes von arm und reich zu
propagieren; zu behaupten, den Armen sei nicht zu helfen, da sie von Natur unfähig
und unbegabt seien; die Reichen seien reich, weil sie besondere ererbte Fähigkeiten
besitzen würden. So haben Tests noch heute nicht zuletzt die Funktion, einen
Ist-Zustand als Beleg dieser These anzufahren, das Produkt einer historisch herausgebildeten
Arbeitsteilung als Ursache der Armut auszugeben.
Intelligenztests haben noch eine weitere, mehr technologische Funktion: die Zuordnung
von sozialen Positionen im Rahmen einer Partiellen Durchlässigkeit der sozialen
Strukturen. Die kapitalistische Gesellschaft braucht zur Aufrechterhaltung ihrer
inneren Dynamik, ihres "Wachstumsimpulses" und zur Prävention von
Klassenkampf ein Minimum an Mobilität. Intelligenztests dienen der systemgerechten
Kanalisierung der begrenzten Mobilität, der systemgerechten Verwendung von
Leistungspotential. Intelligenztests sollen beispielsweise den "angepaßten"
Befähigten der unteren Schichten aufsparen und ihm den Aufstieg erleichtern
bzw. die Mangelbefähigung objektiv belegen, um den Abbruch besonderer sozialer
oder pädagogischer Maßnahmen zu begründen.
Intelligenztests implizieren demgemäß ein reduziertes Verständnis
der Fähigkeit, sich in wirksamer Form mit der Umwelt auseinanderzusetzen. In
die Intelligenztests ist von vornherein ein Maß für die soziale Integrationsbereitschaft
"hineingebaut". Intelligenztests stellen in doppelter Weise die bestehende
gesellschaftliche Schichtung nicht in Frage. Zum einen messen sie weniger schöpferische,
kreative Leistungen, sondern das Maß an "konvergentem Denken", d.
h. desjenigen Denkens, das ein vorgegebenes Ziel exakt im Auge behält und mit
einem Minimum an Aufwand erreicht. Intelligenztests sollen nicht den Grad an Selbstbestimmungswillen
messen, sondern die Bereitschaft, sich in einem begrenzten Tätigkeitsbereich
einzufügen, eine bestehende Hierarchie und ein abgestuftes Privilegienmuster
zu akzeptieren: ein für überwiegend "mittlere" Qualifikationen
und Arbeitsbereiche erforderliches Wissen und Anpassungsverhalten zu entwickeln.
Intelligenztests stellen die soziale Hierarchie noch aus einem weiteren Grund nicht
in Frage: Der Faktor Intelligenz leistet nur einen sehr geringen Beitrag zur sozialen
Statuszuweisung. Die Intergenerationen-Mobilität erfolgt weniger auf der Grundlage
intellektueller Befähigung als der "sozialen Vererbung": der Berufsvererbung,
der schichtenspezifischen Erziehung, der juristischen Vererbung usw. Der enge Zusammenhang
von sozialer Herkunft und späterem sozio-ökonomischem Status bleibt auch
bei Konstanthaltung der Intelligenz fast uneingeschränkt bestehen. D.h., Personen
mit gleicher Intelligenz, aber sehr unterschiedlicher sozialer Herkunft, haben ganz
unterschiedliche Statuserwartungen. Die soziale Herkunft fällt ungleich stärker
ins Gewicht als die Intelligenz.
Was der einzelne für seinen Lebensweg braucht, wird nur zu einem Bruchteil
vom traditionellen Intelligenzbegriff erfaßt. Intelligenz sagt zwar bis zu
einem gewissen Grad Schulerfolg und auch teilweise den späteren sozio-ökonomischen
Status voraus. Aber dieser Zusammenhang beruht nicht auf einem Verursachungszusammerihang.
Der erreichte sozio-ökonomische Status eines Erwachsenen und der Schulerfolg
sind vielmehr im wesentlichen gleichgerichtet von der sozialen Herkunft abhängig,
von den elterlichen Ressourcen, diefür die Lebenskarriere der Nachkommen mobilisiert
werden können. Gute Ressourcen vermögen relativ ungünstige Intelligenzvoraussetzungen
weitgehend zu kompensieren, umgekehrt hilft eine relativ gute Intelligenz bei schlechten
Ressourcen wenig, garantiert keineswegs einen hohen Sozialstatus. Eine Person aus
der Oberschicht mit denselben intellektuellen Fähigkeiten wie eine VergIeichsperson
aus der Unterschicht vermag ihre Fähigkeiten aufgrund ihres angestammten sozialen
"Hintergrundes" ungleich besser zu nutzen (zu multiplizieren).
Die Bedeutung, die dem Phänomen Intelligenz in seiner vermeintlichen Anlagebestimmtheit
in Literatur und öffentlicher Meinung zugebilligt wird, steht somit in keinem
Verhältnis zur realen Bedeutung der Intelligenz als Faktor von Lebenserfolg
und sozialem Status. Die Bewertung nach intellektueller Leistung unabhängig
von sozialer Herkunft ist in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft die tragende
Ideologie, da in der Tat nur außerordentliche Leistungen (z.B. in Schule und
Universität) für Unterschichtangehörige den "Weg nach oben"
öffnen. Dabei ist allerdings die Tatsache ausgeblendet, daß Leistung
keine sozial indifferente Größe ist, sondern bereits allemal ein sozial
geprägtes Produkt. Leisten kann nur der etwas, der von Anfang an die richtige
Anleitung bekommen hat und die richtigen sozialen und materiellen Anknüpfungspunkte
findet.
Auf diese Weise ist die Aufstiegsmöglichkeit für Unterschichtangehörige
faktisch gering. Diese minimale MobilitätswahrscheinIichkeit scheint jedoch
zu genügen, um die Ideologie der Chancengleichheit und die Rolle der individuellen
Befähigung für die Statuszuweisung außerordentlich hoch einzuschätzen.
In Konsolidierungsphasen wird die Ideologie der Chancengleichheit nicht weiter in
Frage gestellt. Sie steuert in wirksamer Weise die Erwartungen der verschiedenen
Sozialschichten an das Leben, an ihre Lebenskarriere. Sie trägt dazu bei, daß
man den Faktor Intelligenz als Erfolgsbedingung und quasi individuelles Gut wahrnimmt.
In "ruhigen" Phasen der historischen Entwicklung wird nicht nach den Ursachen,
den Entwicklungsbedingungen der Intelligenz gefragt. So blendet der traditionelle
Intefligenzbegriff die Entwicklungsbedingungen dieses psychischen Merkmals weitgehend
aus. Der traditionellen Intelligenzforschung geht es nicht darum, die Bedingungen
maximaler Lebensbewältigung für alle zu erforschen und die Störf
akto- ren der Denkentwicklung (z.B. Fließband) zu thematisieren. Dies wäre
im Hinblick auf die Erhaltung des Systems ein dysf unktionaler Ansatz. Es geht lediglich
darum, ein gegebenes Produkt (Intelligenz) zu registrieren, zu messen und partielle
Disproportionalitäten zwischen individueller Befähigung auf der einen
Seite und sozialer Position auf der anderen Seite im Sinne einer Harmonisierung
auszugleichen, d. h., besonders Tüchtige der Arbeiterschicht, soweit dafür
Nachfrage ist, in eine etwas höhere soziale Position zu lancieren; nicht aber
darum, mögliche Hemmnisse der intellektuellen Entwicklung aufzudecken. Die
traditionelle Intelligenzforschung orientiert sich demnach am Status quo, an den
Entwicklungsprodukten, die die vorgegebene Gesellschaftsordnung hervorbringt. Dem
Gedanken einer stabilen Gesellschaftsordnung, einer nicht in Frage zu stellenden
sozialen leerarchie entspricht eine konstante Zuordnung von Intelligenz und sozialer
Zugehö- rigkeit.
Die traditionelle Intelligenzideologie und die statische Bewertungsstrategie des
Menschen erweisen sich allerdings in Boom-Zeiten, in Phasen rascher Expansion und
sozialer Veränderungen als unzulänglich. D. h., die These von der Festgelegtheit
des Menschen und der "natürlichen" Ordnung der Gesellschaft kann
von Zeit zu Zeit zu einem Hemmfaktor der historisch notwendigen Weiterentwicklung
des Systems werden.
So braucht die technologisch hochentwickelte Gesellschaft beispielsweise relativ
mehr "Kopfarbeiter" als die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Dies erfordert
ein Umdenken im Hinblick auf die Einschätzung der intellektuellen Entwicklungsmöglichkeiten
der Menschen, insbesondere der unteren Schichten. Unter diesen Bedingungen muß
die Ideologie, die Armen seien unabänderlich "unbegabt", zeitweilig
aufgeweicht werden, müssen die reaIen Entwicklungshemmnisse dieser sozialen
Gruppe zumindest teilweise thematisiert und in ihrer materiell-existentiellen Bestimmung
präzisiert werden. Unter diesen Bedingungen sieht man sich gezwungen, das,
was man zur ideologischen Festigung der bestehenden Gesellschaftsordnung traditionell
als "biologisch verankert" und unveränderlich, als natürliche
Ordnung ausgegeben hat, seines biologischen Schleiers zu entkleiden.
Was in ruhigen Phasen schlechthin als "Mangelbegabung" der Unterschichten
bezeichnet wird, erfährt in Phasen stürmischer Personalnachfrage für
qualifizierte Berufe ein dynamisches Etikett: "Bildungsdistanz" und "kumulatives
Lerndefizit". D.h., stürmische Entwicklungsphasen haben es an sich, tendenziell
"kritisches" Gedankengut zu fördern, die Fähigkeiten der Menschen
eher als in Konsolidierungsphasen in ihren Entwicklungszusammenhängen zu sehen.
In solchen Zeiten gesteht man teilweise auch ein, daß die Lebensbedingungen
der Armen für die geistige Entwicklung eine destruktive Bedeutung haben, daß
unzureichende Ernährung die hirnorganische Entwicklung beeinträchtigt
und die Motivation drückt; daß die bestimmten Gruppen traditionell anerzogene
Autoritätsgläubigkeit, Machtlosigkeit und Fremdbestimmung der kapitalistischen
Expansion Grenzen setzen können und teilweise überwunden werden müssen.
Dies ist der Nährboden der schichtspezifischen Forschung, der Aufarbeitung
der erzieherischen und Umweltbedingungen der Lernfähigkeit wie der Lerrunotivation.
Diese historischen Bedingungen machen es notwendig, die Begabung "dynamisch"
zu konzipieren, die Tbeorie von der Begabungsverteilung in der Bevölkerung
"großzügiger" zu formulieren.
Mit dem öffentlich ausgerufenen "technologischen Wettlauf" zwischen
Ost und West wurde ein entscheidender Impuls für die entwicklungspsychologische
Forschung gegeben, fragte man mehr denn je nach den Prozeßbedingungen der
intellektuellen Entwicklung. Zu diesen Prozeßbedingungen gehören insbesondere
die Bedürfnisse nach Erkenntnis und nach aktiver Gestaltung der Lebenswelt.
Die frühe Phase dieses Jahrhunderts hatte es nicht nötig, diese Bedingungen
auszuformulieren. Die von der traditionellen Intelligenzforschung vorgenommene Abspaltung
der Motivation und der sozialen Dimension von der Intelligenzentwicklung mußte
in den sechziger Jahren tendenziell wiederrückgängiggemachtwerden. Unter
den Bedingungen des hochentwickelten Kapitalismus und der zunehmenden Verwissenschaftlichung
und Intensivierung der gesellschaftlichen Produktion muß ein gewisser Teil
auch der bisher in untergeordneten Positionen gehaltenen sozialen Gruppen zu gehobenen
intellektuellen und eigenmotivierten Leistungen befähigt werden. Um diese Persönlichkeitsmerkmale
bei einem Teil der unteren Schichten herauszubilden und bei den Nfittelschichten
verstärkter denn je zu fördern, bedarf es einer genauen Analyse der realen
Determination dieser Persönlichkeitsmerkmale, insbesondere der traditionellen
Barrieren, die die Menschen an ihre historisch angestammte soziale Position gebunden
haben.
Das biologistische Verständnis der Verhaltensentwicklung kann dieser Phase
der Umorientierung nicht dienen. In dieser Zeit fragt man sich verstärkt danach,
wie der Mensch den neuen historischen Bedingungen gerecht zu werden vermag, welche
Bedingungen seinen Entwicklungsprozeß entscheidend beeinflussen. Dies ist
die Zeit des umwelttheoretischen Standpunktes, des erzieherischen und pädagogischen
Optimismus.
Die Umwelttheorie ist eine durch das Prisma der gesellschaftlichen Machtverteilung
und -interessen wahrgenommene Veränderlichkeit der Menschen. D. h., die Umwelttheorie
ist keine rigorose Theorie der gesamten Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen,
der perspektivischen Entwicklungstendenzen aller, sondern eine vom Stand der Entwicklung
und der historischen Erfordernisse abhängige und damit wandelbare Zusammenstellung
von Thesen zur Veränderlichkeit von Verhaltensweisen bestimmter Menschengruppen.
Sie tritt zwar häufig mit idealistisch verbrämten Zielsetzungen ("Chancengleichheit")
auf, deren objektive Begrenzungen jedoch von den führenden Gruppen von vornherein
"stillschweigend" eingeplant ist. Diese idealistischen Zielsetzungen werden
allemal durch "historische Realitäten" (sprich gesellschaftliche
Machtfaktoren) in ihre Grenzen verwiesen. Stürmische Entwicklungsphasen wie
die sechziger Jahre führen demnach zu einer fortschreitenden Aufarbeitung eines
Teils des Determinationsfeldes geistiger Entwicklung, das bisher weitgehend durch
biologistische Erklärungsmodelle beherrscht war: wie die Mutter-Kind-Beziehung
und die Dreigliedrigkeit des Schulsystems. Die traditionelle Mutter-Ideologie betont
den biologistisch-emotionalen Aspekt, den Aspekt der Sicherheit und Geborgenheit,
weniger den perspektivischen Charakter der Mutter-Kind-Interaktionen: die darin
enthaltenen Lernprozesse und Erkenntnisanteile für das Kind. Solange die Leistungen
der Familie den historischen Erfordernissen der Reproduktion des Gesellschaftssystems
entsprechen, besteht kein Anlaß, die biologistische Version aufzugeben. Was
die Familien aufgrund ihrer angestammten Position innerhalb der sozialen Hierarchie
quasi wie von selbst hervorbringen, bedarf keiner wissenschaftlichen Analyse, erfordert
keine materialistische Hinterfragung, erscheint in den Augen der Gesellschaft vielmehr
als ein "natürlicher" Prozeß. Nur so versteht sich die Ausblendung
des perspektivischen Entwicklungsprozesses aus der Mutter-Kind- Beziehung, die Betonung
der Bindung des Kindes an die Mutter. Die traditionelle Bindungsideologie verstellt
den Blick für die perspektivische Dimension des Umgangs des Kindes mit der
Mutter, für die durch die Interaktionen mit der Mutter ermöglichten fortschreitenden
Kompetenzerweiterungen und die im Laufe der Interaktionen stattfindenden schichtspezifischen
Prägungen der Denk- und motivationalen Orientierungen. Erst mit dem Übergang
von der extensiven zur intensiven Entwicklung der kapitalistischen Produktion macht
der Zwang zu wachsender Intensivierung auch vor der wichtigen Bastion der bürgerlichen
Gesellschaft nicht halt: vor der Familie, wird die Mutter-Kind-Beziehung ihrer biologistischen
Ideologie entkleidet und auf ihre reale Funktion für die Reproduktion sozialer
Persönlichkeitsstrukturen hin analysiert - mit dem Ziel, die Erziehungstechniken
gemäß den neuen Herausforderungen zu optimieren, bewußter und gezielter
zu gestalten. Das Reizwort dieser Zeit ist "Stimulation".
Eine entsprechende tendenzielle Entbiologisierung vollzieht sich in solchen Phasen
im Bereich der Bildungspolitik. Nach traditioneller Ideologie entspricht die Dreigliedrigkeit
des Schulsystems der biologischen Begabungsschichtung. Erst zu dem Zeitpunkt, da
dieses System die historischen Erfordernisse nicht mehr erfüllt und eine begrenzte
Bildungsmobilität auch zugunsten der unteren Schichten notwendig wird, spricht
man von "sozialer Selektivität" der Schule und fordert mehr "Chancengleichheit"
sowie eine bessere "Ausschöpfung der Begabungsreserven", anerkennt
man, daß das traditionelle Schulsystem keineswegs eine unmittelbare Ableitung
der vorhandenen Begabungen ist.
Der "aufgeklärte" Begabungsbegriff bezieht sich nicht auf biologische
Überlegungen, sondern auf "bildungsökonomische". Begabung versteht
sich im Sinne der technologischen Gesellschaft als Investitionsgut, in das zu investieren
je nach sozialer und wirtschaftlicher Lage sich lohnt oder nicht lohnt. In die Definition
von Begabung geht demnach eine gewisse Gewinnerwartung ein. Was in Konjunkturphasen
möglicherweise als vielversprechende Begabungsreserve gilt, wird in flauen
Zeiten schlechthin zum Begabungsmangel abqualifiziert, als Potential bezeichnet,
in das zu investieren nicht lohnt, wonach keine Nachfrage besteht, dessen Entfaltung
möglicherweise eine "Fehlinvestition" oder gar Ursache von sozialen
Unruhen werden kann. Begabung heißt im Rahmen einer Gesellschaft, in der soziale
Herkunft noch immer weitgehend die Weichen des Lebenslaufes stellt, zunächst
einmal: ein Minimum an Investition des Sozialstaates in die Entwicklung bestimmter
Anpassungsmuster und Qualifikationen. Schulen fungieren nicht als Korrektor, sondern
als Multiplikator von familiär vorstrukturierten Lernprozessen.
Das, was die Familien für die Herausbildung von berufsspezifischen oder im
weitesten Sinne von Fertigkeiten, Qualifikationen und Persönlichkeitsmerkmalen
leisten, braucht nicht dem Sozialstaat aufgebürdet zu werden, hat die Schule
als vergesellschaftete Form von Ausbildung nicht nachzuholen. Der Beitrag der Familien
ist je nach ihrer sozialen Lage sehr unterschiedlich. Die unteren Schichten können
ihren Kindern nur sehr wenig für eine fortschreitende Entfaltung ihrer intellektuellen
Kompetenz mitgeben. Sie sozialisieren ihre Kinder sogar gezielt für untergeordnete
Funktionen innerhalb des hierarchischen Produktionssystems: für Unselbständigkeit,
Fremdbestimmtheit, für mehr oder minder unschöpferische Tätigkeiten,
für die Anerkennung von Autorität. Alle diese Zielsetzungen beeinträchtigen
die Entwicklung der intellektuellen Kompetenz und der schulischen Leistungsfähigkeit
und damit die Möglichkeit, aus dem Teufelskreis von Entmotivierung, Gefühl
der Schwäche und Machtlosigkeit auszubrechen. Sie tragen dazu bei, daß
die Angehörigen der Unterschichten von schulischen Angeboten nicht ausreichend
profitieren können oder doch zumindest weit weniger als Kinder gehobener Schichten.
Letztere können die schulischen Lernangebote weit effektiver für sich
nutzen, da die in der Schule geltenden Wertmaßstäbe, die dort behandelten
Inhalte und die dort übliche Sprache usw. eher eine Anknüpfung an das
Herkunftsmilieu ermöglichen. D. h., Schüler verschiedener sozialer Schichten
verarbeiten die schulischen Herausforderungen auf Grund bestimmter Vororientierungen,
Wertmuster und unterschiedlicher Handlungsstrategien ganz anders. Der Mensch reagiert
auf die äußeren Herausforderungen nicht mechanisch, sondern gemäß
seinen dominierenden Erfahrungen, seinen verfestigten kognitiven und motivationalen
Bezugssystemen. Die verschiedenen sozialen Vorerfahrungen und Wertmaßstäbe
wirken im Rahmen des schulischen Lernens im Sinne von Multiplikatoren. Für
die einen ist dieser Multiplikator sehr hoch, für die anderen sehr niedrig,
für noch andere möglicherweise sogar negativ. Diese letzte Gruppe erfährt
Schule gar als ein Feld der Demütigung, der Entfremdung von den Bezügen,
die durch ihre Herkunft fundamentiert sind. Wie viele davon betroffen sind, kann
an dem Ausmaß der Schulangst und der von Schuljahr zu Schuljahr sich verstärkenden
Entmotivierung der Schüler abgelesen werden.
Die individuell verschiedenen Lernmultiplikatoren drücken die unterschiedliche
Vorbereitung der Schüler verschiedener Sozialschichten für die schulischen
Herausforderungen aus bzw. die Tatsache, daß die Schule den Kindern um so
weniger gerecht wird, je niedriger ihre soziale Herkunft ist. D. h., die individuell
verschiedenen Multiplikatoren bilden im wesentlichen das Produkt sozial determinierter
Erfahrungen, das Produkt der über Generationen verfestigten Lebensperspektiven,
die durch schichtspezifische Erziehungstechniken und berufliche Anforderungen sowie
durch in die sozialen Institutionen hineingebauten sozial differenzierenden Maßnahmen
vermittelt und stabilisiert werden.
Diese Multiplikatoren sind individualspezifische verf estigte Verhaltenssysteme
und werden vom Lehrer als Persönlichkeitskonstanten wahrgenommen, über
die man sich in der Tat nicht hinwegsetzen kann. Schule sieht nämlich nicht
vor, daß diesen Besonderheiten "ausgleichend" Rechnung getragen
wird. Lehrer haben im Prinzip keine Möglichkeit, diese Multiplikatoren zu ändern,
korrigierend tätig zu werden. Lehrer machen tagtäglich die Erfahrung,
daß Schüler (entsprechend ihrer unterschiedlichen UnterstÜtzung
im Elternhaus) auf Schule verschieden reagieren und verschiedene Leistungen erbringen.
Was liegt in diesem Fall näher als anzunehmen, daß Schüler mit verschiedenen
"Begabungen" (Lernmultiplikatoren) ausgestattet sind.
Der Begabungsbegriff hat überdies den Vorteil, sozial neutral zu sein und damit
nicht ständig den Widerspruch zwischen der Ideologie der Chancengleichheit
und der faktisch bestehenden Chancenungleichheit den Menschen vor Augen zu führen.
"Schulische Begabung" verteilt sich weitgehend im Sinne der sozialen Herkunft.
Wer in der Schule zurechtkommt, ist nicht unbedingt der intellektuell Befähigte,
sondern in erster Linie der sozial Privilegierte. Schulerfolg wird eindeutig stärker
durch soziale Herkunft als durch Intelligenz beeinflußt. D. h., intellektuelle
Befähigung reicht für schulischen Erfolg nicht aus. Man muß in erster
Linie aus dem richtigen Elternhaus kommen.
Dabei gibt es keinen Hinweis dafür, daß das intellektuelle Potential
über die Sozialschichten unterschiedlich verteilt ist. Man könnte die
Kinder der Oberschicht urunittelbar nach der Geburt in die Familien der Arbeiterschichten
versetzen und umgekehrt die Kinder der Arbeiterschichten und der sozialen Randgruppen
in die Mittel- und Oberschichten. Die Arbeiterkinder würden in den gehobenen
Familien die typischen Merkmale der Mittel- und Oberschichtkinder erwerben; die
Mittel- und Oberschichtkinder würden den Sozialcharakter einschließlich
der typischen Intelligenz der Arbeiterschicht sich aneignen und die für diese
Schicht charakteristischen Le- bensläufe zeigen.
Damit ist nicht gesagt, daß es überhaupt keine genetischen Einflüsse
für schulisches Lernen gibt. Man muß vielmehr unterscheiden zwischen
Anlage-Unterschieden zwischen sozialen Schichten und innerhalb der Schichten bzw.
innerhalb der Gesamtbevölkerung. Man kann nun sagen: Die Kinder verschiedener
Schichten sind im wesentlichen für schulisches Lernen gleich veranlagt. Die
empirischen Daten deuten in der Tat darauf hin. Innerhalb der Schichten bzw. der
GesamtbevöIkerung kann es dennoch genetische Effekte geben. Diese erklären
allerdings nur einen sehr begrenzten Teil der Schulleistungsunterschiede, denn der
überwiegende Teil der Schulleistungsunterschiede geht auf intelligenzunabhängige
soziale Unterschiede zurück.
Die angesprochenen individuellen Lernmultiplikatoren sind demnach in erster Linie
ein soziales Produkt. Solange diese Multiplikatoren existieren, gibt es auch abgestuftes
Lernverhalten, zumal das Schulsystem selbst durch bestimmte Vorkehrungen (Notensystem,
Leistungskurse, verschiedene Schularten, mittelschichtorientierte Lehrpläne,
soziale Stereotype der Lehrer usw.) unterschiedlichen Schulerfolg institutionalisiert
hat und damit den Schülern regelrecht aufzwingt. Solange die Multiplikatoren
in den Schülern existieren und die Schulen im wesentlichen die Funktion der
Reproduktion des Gesellschaftssystems ausüben, bleibt Pädagogen nichts
anderes übrig, als Begabung als Erklärung für unterschiedliche Schulleistungen
zu verwenden, solange muß der Hinweis, daß im Prinzip alle für
gute Schulleistungen befähigt sind, als "unrealistisch" und "utopisch"
erscheinen.
Was traditionellerweise unter Begabungsmangel verstanden wird, ist weitgehend identisch
mit Verhaltensstrukturen, die man nur mit relativ hohen Kosten für den Sozialstaat
in Richtung eines gehobenen Bildungsniveaus verändern kann. Was die f amiiiale
Sozialisation vorbereitet, durch den täglichen Umgang verstärkt, an Hilfen
anbietet, durch angebotene Anregungen bereits in die Wege leitet, braucht vom Schulsystem,
d. h. von der vergesellschafteten Form der Ausbildung nicht mehr geleistet zu werden,
verläuft relativ wenig kostenreich für den Staat. Begabt ist im Sinne
der bildungsökonomischen Definition der, der den Staat oder die privatwirtschaftlichen
Unternehmen im Hinblick auf die Entwicklung bestimmter Anpassungsmuster, Qualifikationen
und Fähigkeiten wenigkostet, den die familiale Sozialisation bereits mit adäquaten
Strategien ausgestattet hat, die eine rasche Aneignung wichtiger Anpassungsmuster
ermöglichen. Der Hinweis auf die Anlagen versteht sich im Sinne des bildungs-ökonomischen
Modells von Begabung als die biologistische Bestimmung der Grenze, bis zu der man
vorhandenes Entwicklungspotential zu entwickeln bereit ist.
Nachdem heute der Nachholbedarf gedeckt ist und es keineswegs als gesicherte Lehrmeinung
gilt, daß das kapitalistische Produktionssystem generell Höherqualifizierung
notwendig macht, stagniert die Bildungsreform, werden traditionelle Leitbilder und
ideologische Schemata wiederbelebt, kommt der in den sechziger Jahren schon als
überholt angenommene Nativismus zu neuen Ehren. Nachdem Frauen im Produktionsprozeß
nicht mehr so dringend gebraucht werden, erfährt die Mutter-Ideologie eine
Wiederbelebung, besinnen sich Bildungspolitiker wieder auf die "Daten"
von eingeschworenen Anhängern der Erbtheorie, die ihre Thesen mit Hilfe verzerrter
Datenausdeutung und unzulänglicher Methoden zu unterstützen versuchen.
Die starke politisch-ideologische Vororientierung geht dabei zum Teil bis zur bewußten
oder unbewußten Manipulierung der Daten. Das Ziel steht dabei von vornherein
fest: zu "belegen", woran man schon immer geglaubt hat, daß die
Kinder der Armen, der Arbeiterschicht, es niemals so weit bringen werden wie die
Kinder gehobener Schichten.
Die ideologische Funktion des traditionellen Intelligenzbegriffs und der Anlage-Umwelt-Problematik
ist heute offenkundig. Sie blockiert die uneingeschränkte Klärung des
Zusammenhangs von Lebensbedingungen und psychischen Strukturen und der auf der Grundlage
dieses Zusammenhangs geschaffenen subjektiven Hemmnisse fortschreitender Demokratisierung
der Gesellschaft.
Eine entscheidende Anregung durch den dialektisch-materialistischen Ansatz für
die bürgerliche Intelligenzforschung ist gegenwärtig nicht zu erwarten,
da er systemsprengende Kraft hat. Genauer: die bürgerliche Psychologie öffnet
sich dem dialektisch-materialistischen Konzept nur scheibchenweise, und zwar in
dem Maße, wie die historischen Bedingungen dies notwendig machen. Diese Öffnung
verläuft entsprechend den Konjunkturwellen bzw. den Bewegungen der Produktivkraftentwicklung
in ungleichmäßigem Rhythmus. Insgesamt kann man jedoch seit Beginn dieses
Jahrhunderts eine tendenzielle Annäherung der geltenden Lehrmeinung an die
dialektisch-materialistische Position erkennen - wenngleich man von ihr noch sehr
weit entfernt ist. Bisher war das kapitalistische System, wollte es im Weltsystem
bestehen, noch immer dazu gezwungen, das Entwicklungspotential Stufe für Stufe,
wenn auch mit zeitweiligen Rückschlägen, zunehmend zu entfalten, die biologischen
Deutungen mehr und mehr über Bord zu werfen, die psychische Entwicklung auf
ihre tatsächlichen Bedingungen hin zu untersuchen: Was lange Zeit als biologisch
verankert und als unabänderlich angenommen wurde, als unantastbar galt, mußte
im Laufe der Zeit als Produkt der Entwicklung und der Wechselwirkung zahlreicher
Prozesse angesehen werden. Inwieweit dieser Trend forgesetzt wird, entscheidet sich
offenkundig weniger im Bereich der Wissenschaft selbst als dort, woher die Wissenschaft
ihre ideologischen und theoretischen Impulse erhält: von den jeweiligen Machtströmungen
der Gesellschaft.
aus: Hermann Rosemann, Intelligenztheorien. Forschungsergebnisse zum Anlage-Umwelt-Problem
im kritischen Überblick
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt