Mord und Totschlag
Konsequenzen der deutschen Einheit
Nichts verbindet mehr als gemeinsam begangenes Unrecht. Das Abitur des Mafiosi ist
der Mord, der ihn auf Gedeih und Verderb an die kriminelle Gemeinschaft kettet.
Blut ist allemal dicker als Wasser, sagt der Volksmund, und nicht nur das organisierte
Verbrechen beruht auf Blutsbanden. Auch die organisierte Gesellschaft, die Nation,
muß die Erinnerung an ihr Gründungsverbrechen am Leben halten. Fahnen
und Hymnen bezeugen ihr souveränes Recht auf das Leben und den Tod ihrer Angehörigen.
Sie mahnen an die bedingungslose Verpflichtung auf die politische Einheit und an
den kollektiven Mord, der im Namen des Volkes begangen werden mußte. Das politische
Ritual vergegenwärtigt das Opfer, auf dem die Gemeinschaft gründet. Die
Friedhofsschändungen von Ihringen und das Pogrom von Hoyerswerda dermonstrierten,
daß die Erinnerung an die Opfer langsam verblaßt, daß die "nationale
Identität" allmählich schlapp macht und der Erneuerung bedarf. Die
Totschläger und die Mörder sind im Westen wie im Osten die Avantgarde
der inneren Wiedervereinigung, die den Staatsvertrag mit wirklichem Leben erfüllen
wird.
Auschwitz, das Gründungsverbrechen der bürgerlichen Gesellschaft der Deutschen,
hat fünfzig Jahre nach der Wannsee-Konferenz seine vergemeinschaftende Kraft
eingebüßt. Die "Kollektivschuld", die die Westdeutschen erfanden,
um allen Widrigkeiten zum Trotz das nationale Wir-Gefühl zu retten, verliert
im genauen Maße ihre Bindewirkung, in der die durch die Wiedervereinigung
provozierte Krise der sozialen Integration voranschreitet. Als Ideologie war sie
wahr und Lüge zugleich - nichts als die blanke Wahrheit, weil sie das historische
Endergebnis des Nationalsozialismus aussprach, und schamlos gelogen, weil sie dies
als veritablen Pluspunkt verbuchte und um die Erkenntnis der gesellschaftlichen
Gründe sich drückte. Die Anerkennung der Schuld mit den Mitteln ihrer
systematischen Verleugnung führte zur "kalten Amnestierung" der Bürokraten
und danach zur Justizposse der 60er Jahre, als die Hüfsarbeiter der Vernichtung
vor Gericht gestellt wurden; eine politische Farce hob an, deren letzter Akt nur
die allseits ersehnte "biologische Endlösung der Nazi-Frage" sein
konnte. Ein kollektives Unrecht von der Statur des Massenmordes juristisch, d.h.
in Kategorien von Moral, Schuld und Vergeltung beheben zu wollen, konnte nur bedeuten,
es staatstragend zu bewältigen, d.h. seine gesellschaftlichen Ursachen prinzipiell
auszuklammern. Ausgerechnet der Staat, der 1933 als Nothelfer der aus allen Fugen
geratenen kapitalistischen Gesellschaft sich bewährte, sollte nach 1945 als
probates Hilfsmittel gegen rotbraunen Totalitarismus taugen. Aus dieser abgründigen
Zweideutigkeit bezog der "hilflose Antifaschismus" sein besonderes Gepräge:
Die demokratische Abneigung gegen den Führer hatte den "wehrhaften Staat"
der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und seine Wirtschaft zu rechtfertigen.
Darin bestand der objektive Zynismus der postfaschistischen Gesellschaft im Westen.
Die NS-Diktatur hatte den Bund zwischen Volk und Staat unwiderruflich besiegelt,
aber die Niederlage von 1945, die nicht zur Befreiung werden durfte, machte es unmöglich,
den Ursprung dieser Einheit offen zu bekennen. Daß der Führer den Krieg
gegen die Alliierten verloren hatte, war sein allgemein beklagter Fehler; daß
er den Vernichtungsfeldzug gegen die Juden jedoch im wesentlichen gewann, das konnte
unmöglich gefeiert werden. Die Volksgemeinschaft war zum klassenübergreifenden,
gar klassenvernichtenden Fundament des Staates geworden, aber das, was alle wußten,
mußte doch, dem Ultrakonservativen Hermann Lübbe zufolge, "kollektiv
beschwiegen" werden. Nur selten kam die Sache so drastisch zur Sprache wie
in der "Volks- und Schulausgabe" des Grundgesetzes, die Ende der fünfziger
Jahre ein Doktor R.W. Füsslein, Ministerialdirektor im Bundesministerium des
Innern, besorgte. Das Kapitel "Die Volksgemeinschaft in der Demokratie"
kommentiert: "In der Verfassung sucht man vergeblich Vorschriften über
die Volksgemeinschaft, ihre Förderung und ihr Wirken. Diese - vielleicht wichtigste
- Seite des Staatslebens entzieht sich jeder Rechtssetzung." Das macht: Sie
ist Sache der Staats-Gewalt. Was der Ministerialdirigent raunte, macht sich der
jugendliche Neonazi heute zu eigen. So wenig macht ihn dies zum "Ewiggestrigen"
wie den Staat, dem er brachial zu Hilfe eilt. Er spricht nur den Zynismus aus, daß
es eines neuerlichen Opfers bedarf, um die soziale Integration zu reparieren. Indem
er selbst Hand anlegt, macht er dem Staat etwas vor.
Das kapitalistische Deutschland bewältigte den Nationalsozialismus, indem es
seiner Lebenslüge, die Demokratie hätte mit dem Führer nicht das
Geringste gemein, bis zur vollendeten Selbsthypnose verfiel. Die konsequenzlose
Rede von der "Kollektivschuld" log mit der Wahrheit und lobte die Bundesrepublik
als die gesunde Mitte der Extreme. Das "Sozialistische" am Nationalsozialismus
wurde generös der Sozialistischen Einheitspartei übereignet, während
der Westen von Europa her am "Nationalistischen" sich therapieren ließ.
Wo alle schuld waren, da konnte, nach den Geboten deutscher Logik, kein einziger
mehr verantwortlich gemacht werden, und das Kapitalverhältnis gleich gar nicht.
Das sozialistische Deutschland konnte diesen strategischen Kniff des Westens im
ideologischen Wettstreit der Systeme unmöglich wettmachen. Denn gegen die "Kollektivschuld"
konnte es nur die Klassenschuld der Bourgeoisie aufbieten, die mit der Gründung
der besseren, der proletarischen Nation verheilt sein sollte. Während der Westen
das volksgemeinschaftliche Resultat ohne dessen Geschichte haben wollte, bemängelte
dies der Osten, aber nur, um die urplötzlich proletarisch auferstandene Staatsräson
zu rechtfertigen. Nicht Staatlichkeit als solche und also das herrschaftliche Verhältnis
von Befehl und Gehorsam, das den Ausbeutungscharakter der Ökonomie getreu anzeigt,
sollte für Hitler verantwortlich gewesen sein, sondern allein der arbeiterfeindliche,
gar "volksfeindliche" Gebrauch des Staates durch die besitzenden Klassen.
Das war ebenfalls nichts als die Wahrheit, aber gleichwohl gelogen. Denn selbstverständlich
hatten die Bürger dem Führer den Steigbügel gehalten, aber als bloße
Vertreter und Nutznießer der kapitalen Vergesellschaftung hatten sie es in
einer Weise tun müssen, die im Ergebnis auch ihre politische Herrschaft vernichtete.
Nur so konnte die Herrschaft des Kapitals als Produktionsverhältnis behauptet
werden. Denn in dieser bonapartistischen Verkehrung war der Nationalsozialismus
nicht nur genötigt, die Interessen des Kapitals gegen die Bürger zu verwirklichen,
sondern überdies dazu, das Interesse der Arbeiterklasse gegen die Arbeiterparteien
durchzusetzen.
Aus dieser doppelten Frontstellung gegen Bürger und Arbeiter zugleich im Interesse
von Kapital und Arbeit erwuchs der Mythos des "Nationalsozialismus", der
bis heute nachhallt. Die Nazis verstaatlichten die gesellschaftliche Arbeitskraft
und erfüllten so den statistischen Traum, den die deutsche Arbeiterbewegung
seit Ferdinand Lassalle und später, je nach Fraktion, mit Karl Kautsky oder
Wladimir Iljitsch Lenin hegte; Karl Marx und Michail Bakunin zum Spott. Durch die
Vorbereitung der allseitigen Vernichtung enthob der Nazismus die Arbeiter der Sorge
um den Verkauf ihrer einzigen Ware, der Arbeitskraft. Der "antifaschistische
Staat", die DDR, durfte diese proletarische Kollaboration umso weniger wahrhaben,
als er das "Recht auf Arbeit" so unermüdlich zum Staatsziel erhob
wie nur sein westlicher Zwilling die "Vollbeschäftigung". Kein Wunder
daher, daß im Osten der "Staat des ganzen Volkes" den Antisemitismus
in Gestalt des Antizionismus ebenso am Leben hielt, wie es der Westen in der faschistoiden
Hochachtung der Springer-Presse für die "Blitzkriege" Israels tat.
Was dem demokratisierten Nazi im Westen zur Widerlegung des Urteils über die
Juden taugte und zum perversen Beweis, daß die Opfer sich mittlerweile gebessert
hätten, das diente seinem sozialisierten Pendant zur Befestigung der Arbeitsmoral
gegen "Parasitismus" und zur Hebung des Nationalgefühls gegen ein
"wurzelloses Weltbürgertum", das, wie Otto Grothewohl 1950 meinte,
"den Völkern rät, ihre nationale Selbstständigkeit im Interesse
eines imaginären allgemeinen Wohls über Bord zu werfen", dabei aber
nur "das Wohl der amerikanischen Finanzmagnaten" im Auge habe. Und so
drückt sich heute in der rassistischen Wut östlich der Elbe nichts anderes
aus als die Enttäuschung darüber, daß es der Staat noch nicht eimmal
mit bolschewistischen und staatskapitalistischen Methoden vermochte, die Arbeitskraft
auf Dauer sich einzuverleiben und die Arbeiter in pensionsberechtigte Staatsdiener
zu verwandeln, die sich nur noch die Mühe machen müssen, die Prämie
ihrer politischen Loyalität zu kassieren.
So waren, jedes nach seiner Facon, die beiden Hälften des gespaltenen Deutschland
auf ihre Wiedervereinigung prächtig vorbereitet, und die politische Einheit
konnte nur in der solidarischen Tilgung der Kollektivschuld münden, zu der
der Westen das Knowhow und die Finanzen beisteuerte und der Osten die definitive
Rehabilitation der Totschlagparole vom "Volk", das einzig und allein "wir"
sind. Die Ironie dieser Geschichte mag, wer für Makabres empfänglich ist,
darin erblicken, daß der "sozialistische Staat" ausgerechnet an
dem Versuch zugrunde ging, der Wiederkehr des Nationalsozialismus ein für alle
Mal vorzubeugen. Indem er im Zuge seiner gegen alle Kapitalrationalität rücksichtslosen
Arbeitsbeschaffung sich ökonomisch übernahm und kurz vor der Zwangsvollstreckung
jämmerlich einging, schuf er im Zusammenbruch eine Situation, die der Ende
der zwanziger Jahre schon jetzt so ähnlich sieht, daß nur noch der Kladderadatsch
auf dem Weltmarkt fehlt. Jedenfalls besteht die Rache der Geschichte in dem Tatbestand,
daß die "wehrhafte Demokratie" in ihrem nationalen Wahn sich nötigen
lassen mußte, eine nach Maßgabe der Kapitalrationalität unproduktive
und also überflüssige Menschenmasse nur deshalb sich einzuverleiben, weil
sie zweifellos überaus deutsch ist.
"Aus der Geschichte lernen" zu wollen, ist vergebliche Liebesmüh,
wie schon das Scheitern aller Versuche, den Deutschen endlich Hitlers Autobahnen
aus dem Kopf zu schlagen, zur Genüge beweist. Nicht eine blöde Reprise
der Geschichte bahnt sich an, sondern der Wiederholungszwang macht sich Luft, dem
die kapitalistische Vergesellschaftung in ihren Katakomben beständig Futter
gibt. Während die Feuilletons den Rassismus, wie unter Pädagogen üblich,
zum psychologisch verständlichen "Vorurteil" über den "Fremden"
und "Anderen" stilisieren, und während sie ihn, wie unter Soziologen
beliebt, als Ausdruck "relativer Unterprivilegierung" sich zurechtbiegen,
ignorieren sie konsequent seinen zutiefst politischen Charakter. Es scheint, als
hätten die Soziologen, Psychologen und Politologen klammheimlich darauf sich
verständigt, ihren geballten Sachverstand ganz allein zum Beweis des Wunsches
zu verausgaben, daß alles verstehen alles vergeben heißt. Als Aufstand
für die Ordnung, als konformistische Rebellion gegen die Regierung und für
den Staat findet der Rassismus für Demokraten nicht statt. Hitler, der, nach
einem Wort Theodor W. Adornos, "wie kein anderer Bürger das Unwahre am
Liberalismus durchschaute", ist der immer noch verleugnete Doppelgänger
des demokratischen Staates.
Der in Verruf geratene Satz, daß, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle,
vom Faschismus gefälligst zu schweigen habe, meinte die tödliche Konsequenz
jener Subjektivität, die die Verwertung des Kapitals als Zwangsjacke ihrer
Selbsterhaltung den Menschen aufherrscht. Deren Krise ist die begriffslose Selbstkritik
des politischen Systems der Freiheit und Gleichheit als einer unmöglichen Gesellschaftsform.
Denn frei und gleich sind die Menschen nicht, wie der Liberalismus verspricht, wie
sie gehen und stehen, sondern als Subjekte, d.h. als Privateigentümer und Marketing-Direktoren
ihrer Arbeitskraft, der einzigen Ware, mit der sie auf eigenes Risiko zu wuchern
haben. Das Menschenrecht ist alles andere als ihr Recht und vielmehr der juristische
Inbegriff aller Zumutungen, die die Verwertung gegen die Individuen geltend macht.
Genau hier setzte der hämische Egalitarismus der Nazis den Hebel an. "Menschenrecht
bricht Staatsrecht", heißt es in Hitlers "Mein Kampf": Das
verwirklichte den Liberalismus mit den Mitteln seiner Vernichtung. Weil der Einzelne
nur als kapitalproduktives und staatsloyales Subjekt von Belang ist, weil seine
Existenz für den Fortgang des Betriebs herzlich egal ist, weil seine allseits
gelobte "Identität" nicht die seine ist und ganz im Gegenteil davon
abhängt, ob überhaupt und wozu er taugt, weil daraus summa summarum folgt,
daß seine "Anthropologie" nur in der jedem Einzelnen vertrauten,
allgemein bekannten und genau darum kollektiv verdrängten Angst davor wurzelt,
seiner insgeheim längst geahnten sozialen Überflüssigkeit auch noch
öffentlich überführt zu werden - eben darum fühlt er sich genötigt,
"ein Deutscher" zu sein, vorauseilenden Gehorsam zu beweisen und die Flucht
nach vorn anzutreten. Die sozialen Schichten im deutschen Westen, die ihre Tauglichkeit
für die mutmaßlichen zukünftigen Zwecke ihres Staates heute schon
unter Beweis stellen wollen - die rechtsextremistischen "Protestwähler"
also, denen die liberale Öffentlichkeit alles andere unterstellen mag als ausgerechnet
bewußten Neofaschismus -, rekrutieren sich aus den sensibelsten Teilen des
deutschen Volkes: aus der auf dem Arbeitsmarkt unverkäuflichen Jugend, aus
den Eigenheimbesitzern des Stuttgarter "Speckgürtels", die befürchten,
das die Inflation das mühsam Zusammengeraffte schmelzen läßt wie
Eis in der Sonne, aus den Polizisten und Militärs, die als Spezialisten für
körperliche Gewalt schon immer den siebten Sinn für die Bedürfnisse
des Staates besaßen, dazu aus den Proleten und der neuen Massenarmut, in deren
"Neue Heimat" die Flüchtlinge absichtlich hineingepreßt werden,
um dem Asylrecht sodann mit Volkes Stimme den Garaus zu machen. So entsteht der
Pöbel, der vom Staat als Schwungmasse in Richtung Diktatur benötigt werden
wird. Im Osten dagegen liegen die Dinge einfacher: Wer kein anderes Argument dafür
beibringen konnte, am demokratischen Wohlstand zu partizipieren als ausgerechnet
das, "deutsch" zu sein, wird nie vergessen, wer "das Volk" in
Wahrheit ist. Mord und Totschlag sind daher das gebotene Mittel, sich um einen Posten
beim Staat zu bewerben, die integrative Kraft des Gründungsverbrechens zu erneuern
und sich zum Dank für unabkömmlich erklären zu lassen.
"Es ist offenbar", schrieb der Anarchokommunist Michail Bakunin vor über
einem Jahrhundert, "daß alle sogenannten allgemeinen Interessen der Gesellschaft,
die der Staat angeblich vertritt, eine Abstraktion, eine Fiktion, eine Lüge
bilden und daß der Staat gleichsam eine große Schlächterei und
ein ungeheuerer Friedhof ist". Keine kapitalistische Gesellschaft hat leidenschaftlicher
und unnachgiebiger daran gearbeitet, diese Lüge wahrzumorden, als die der Deutschen.
Und es sieht ganz und gar nicht danach aus, als würde sie jemals von ihrem
Wahn ablassen können.
aus: J.Bruhn, Was deutsch ist
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Most recent revision: April 07, 1998
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