Der Nationalismus
Es gab wohl kaum eine Epoche In der Geschichte der Menschheit, in der ein einmütiges
und vorurteilstreies Zusammenwirken anderer Völkergruppen so dringend notwendig
jewesen wäre wie gerade heute, um den großen Problemen der Zeit zu begegnen,
von deren Lösung das Schicksal aller abhängig ist. Alle Probleme, die
sich heute vor uns auftürmen, haben sich zu Weltproblemen ausgewachsen, die
man weder umgehen noch durch politische Neutralität beseitigen kann. Jeder
Versuch einzelner Völker in dieser Richtung muß nur zu neuen Trugschlüssen
führen und die Gewalt vergrößern, die uns heute von allen Seiten
bedroht. Die meisten Menschen haben auch bereits eine dunkle Vorstellung von der
Unhaltbarkelt der heutigen Zustände, doch nur eine kleine Minderheit hat bis
jetzt klar erkannt, daß eine neue und vielleicht die größte Katastrophe,
von der die Menschheit je befallen wurde, nur durch eine entschlossene Abkehr von
den alten Wegen der Machtpolitik der Staaten und der nationalistischen Verblendung
der Völker abgewendet werden kann.
Was uns heute not tut, ist ein ungetrübter und breiterer Ausblick über
die gegellschäftlichen Notwendlikeiten der nächsten Zukunft und die klare
Erkenntnis, daß die Fragen, zu deren Lösung wir heute gezwungen sind,
weit über die politischen Abgrezungen der Staaten hinausgehen und nicht länger
im Sinne nationalistischer Begriffe zu, lösen sind. Vor dem deutsch-französischen
Kriege 1870/71 und der wachsenden Militarisierung Europas waren die nationalistischen
Bestrebungen des "Jungen Europa" und der Glaube an die Unantastbarkeit
der Souveränität kleiner Staaten noch immerhin verständlich; doch
das änderte sich gründlich, als die militärischen Bündnisse
der großen Staaten einsetzten, die den ganzen Kontinent in feidliche Lager
zerklüfteten und durch ständige Rüstungen die Kriegsgefahr zu einem
Dauerzustand machten, der nur zu einer sozialen Katastrophe führen konnte und
naturgemäß immer neue Katastrophen zum Gefolge haben muß. so lange
die Völker sich nicht selbst diesem Zustand widersetzen.
Sogar diejenigen Völker, die, bis zum Ende des ersten Weltkriege einem fremden
Joch unterworfen waren und seit vielen Jahren ihre nationale Unabhängigkeit
erstrebten, die sie nun endlich erreicht hatten, konnten damit nichts gewinnen und
gerieten fast alle in eine Lage, die sich für sie wirtschaftlich und politisch
noch drückender gestaltete als Ihre frühere. Von den neuen Staaten, die
sich nach dem ersten Weltkriege imn östlichen Teile Europas entwickelten, hatte
nur die Tschechoslowakei einen Erfolg zu verzeichnen, die sich aus den früheren
österreichischen Provinzen Böhmen, Mähren, Schlesien und einigen
kleineren Distrikten zusammensetzte. Die Tschechen waren zwar in diesem neuen Staatswesen
die stärkste Volksgruppe doch bildeten sie, noch nicht eine Hälfte der
fünfzehn Millionen seiner Bevölkerung, während acht MillJonen auf
Slowaken, Deutsche, Ungarn, Ruthenen und kleinere Volksgruppen entfielen.
Wenn das kleine Land sich trotzdern so rasch emporarbeiten konnte, so hatte es dies
hauptsächlich zwei Umständen zu verdanken: Es besaß eine Menge wertvoller
Bodenschätze und bildete schon vor einer errungenen Unabhängigkeit den
wichtigsten Industriebezirk Österreichs. Dazu kam noch, daß die Tschechen
auf alte demokratische Überlieferungen zurückblicken konnten und in Masaryk
einen geistigen Führer gefunden hatten, der nie von panslavistischen Ideengängen
noch von den Anschauungen der deutschen Philosophie beeinflußt wurde und seine
föderalistischen und liberalen Bestrebungen aus westlichen Quellen geschöpft
hatte. Er hatte. In der Tat. sehr viel von dem politischen Ideengut Jeffersons aufgenommen
und hatte manche Ähnlichkeit mit Ply Margall, dem großen Vorkämpfer
des Föderalismus in Spanien.
Alle anderen Länder aber, die sich damals ihre nationale Unabhängigkeit
errungen hatten, machten sowohl wirtschaftlich als politisch einen schlechten Tausch,
der ihre Lage wesentlich verschlimmerte, ohne ihnen die geringsten Vorteile zu bringen,
die sie so lange erträumt hatten. Jeder dieser neuen Staaten gehörte früher
einem bestimmten Wirtschaftsgebiet an und war nun gezwungen, seine eigene Wirtschaft
zu organisieren und den neuen politischen Verhältnissen anzupassen. Dies aber
war schwierig, da jene Länder Im Osten Europas bereits vor ihrer nationalen
Befreiung in einer sehr bedrängten wirtschaftlichen Lage zu leben gezwungen
waren und ihre allgemeinen Lebensbedingungen auf einer weit tieferen Stufe lagen
als in den meisten westlichen Ländern des Kontinents. Unter diesen Umständen,
die noch durch die allgemeine Wirtschaftskrise nach dem ersten Weltkriege wesentlich
verschärft wurden, waren sie einer Neugestaltung ihres wirtschaftlichen Lebens
in keiner Weise gewachsen und gerieten immer tiefer in den Zustand einer chronischen
Dauerkrise. die ihre ohnedies schon ärmlichen Lebensbedingungen noch mehr herabdrückte.
Aber auch die politischen und sozialen Rechte und Freiheiten, dte man von der nationalen
Befreiung erhofft hatte, erwiesen sich sehr bald als eine leere Illusion, die keinen
falschen Kreuzer wert war, denn in den meisten Fällen gestaltete sich das eigene
Joch, das sich jene Völker durch Ihre angebliche nationale Unabhängigkeit
selbst auferlegt hatten, noch viel drückender und unerträglicher als das
fremde, dem sie kaum entronnen waren. Kein Mensch mit etwas politischer Einsicht
wird heute zu behaupten wagen, daß Polen unter der Herrschaft Pilsudskis und
der Diktatur der Generäle sich größerer politischer Rechte erfreute
als früher unter dem russischen Zarismus und der preussischen und österrelchtschen
Monarchie. Ungarn, das sich infolge der numerischen Stärke seiner Bevölkerung
und der revolutionären Anlieferung von 1848/49 unter der Habsburger Dynastie
manche politischen Rechte und Vorteile errungen hatte. verlor unter der nationalen
Diktatur von Horthy auch die letzten Reste reiner früheren Freiheiten. Ähnlich
gestaltete sich die Lage In Jugoslavien und in den meisten kleineren Ländern.
die nach dem ersten Weitirriege In die Reihe geständiger Staaten aufgerückt
waren.
Heute aber sind fast alle jene jungen Staaten, zusammen mit den älteren im
Osten Europas bloß noch Sateliten der Diktatoren im Kreml und haben jede politische
Selbständigkeit, die sie frrüher besaßen, vollständig verloren,
so daß sie sich sogar nicht dagegen wehren können, daß periodisch
jetzt Tausende ihrer eigenen Einwohner nach Rußland verschleppt werden, um
in den Zwangslagern Sklavendienste für den russischen Staat zu verrichten.
Wenn es wirklich noch eines Beweises bedurft hätte, daß die vergebliche
nationale Unabhängikeit kleineren Völkern auch nicht den geringsten Schuutz
gewährt gegen die Machtpolitik aggres siver stärkerer Nachbarn, so hätte
der vergangene Weltkrieg den blinden Glauben an eine solche Möglichkeit gründlich
zerstören müssen, wenn die Völker nach den furchtbaren Ergebnissen
der großen Katastrophe überhaupt noch imstande gewesen wären, eine
Lehre zu beherzigen, die bis heute leider so wenig verstanden wurde.
Auch die Tschechoslowakei konnte ihrem Schicksall nicht entgehen, obgleich sie von
den Umständen mehr begünstigt wurde als alle anderen der neueren Staaten.
Nachdem sie von den Großmächten schmählich preisgegeben wurde und
Hitier dieselben nationalistischen' Bestrebungen, denen der tschechische Staat seine
Existenz zu verdanken hatte, nunmehr dazu benutzte, die deutschen, slowakischen
und an dere Minderheiten desselben Staates gegen Prag aufzuwiegeln, indem er ihnen
ihre nationale Befreiung in Aussicht stelle, um sie umso bessr für seine eigenen
machtpolitische Pläne mißbrauchen zu können, war das Schicksal der
Tschechen, besiegelt. Soiar die Niederlage Hitlers konnte ihnen später nicht
mehr helfen, da sie nur. einen Rollenwechsel herbeiführte und Stalin erlaubte,
nur gründlicher fortzüsetzen, was Hitler begonnen hatte.
Der indische Philosoph Rabindarath Tagore, sagte einst: Die Nation ist eines der
wirksamsten Betäubungsmittel, die der Menuh erfunden hat. Unter dem Einfluß
seiner Dünste kann ein ganzes Volk systematisch sein Programm unverhüllter
Selbstsucht ausführen, ohne sich im geringsten seiner moralischen Verderbtheit
bewußt zu werden. - Tagore nannte den Nationalismus eine Lehre des organisierten
Egoismusmus und trat damit den Nagel auf den Kopf; denn unter dem Deckmantel des
Nationalismus läßt sich alles verbergen. Die nationale Fahne deckt jedes
Unrecht, jede Umenschlichkeit, jede Lüge und, wenn es sein muß, jedes
Ver brechen. Die kollektive Verantwortlichkeit der Natin erstickt jedes Gerechtigkeitsgefühl
des Einzelwesens und bringt den Menschen so weit, daß er begangenes Unrecht
vollständig übersieht und sogar als patriotische Tugend preist, wenn im
Interesse der Nation begangen wird. Da die Anhänger nationalistischer Anschauhungen
- stets bestrebt sind, nur das zu sehen. was sie von anderen trennt, so vergessen
sie zwar nie ein Unrecht, das an Ihnen selbst begangen wurde, sind aber stets bereit,
dasselbe Unrecht anderen zuzufügen, wenn es ihren eigenen Bestrebungen Vorteil
bringt.
Es ist diese Engherzigkeit des Denkens, die allen nationalen Betrebungen eigen ist
und ihre Anhänger stets dazu verleitet, jede Erscheinung des Weltgeschehens
vom Standpunkt ihrer kleinen Interentengemeinschaft zu beurteilen, da sie sich selbst
jeden breiteren Ausblick verstellt haben. Diese beschränkte geistige Einstellung
macht sie nicht nur völlig unfähig große Fragen, die für alle
Völker die gleich Bedeutung haben, ohne Vorurteil zu bewerten; sie ist auch
die Ursache, weshalb gerade nationale Bewegungen kleinerer Völker so häufig
von den Machthabern großer Staaten mißbraucht werden konnten, um ihre
eigenen machtpolitischen Interessen durch Vorspieglung falscher Tatsachen zu fördern.
Schon Napoleon I. versuchte mit gutem Erfolg die nationalen Betrebungen unterdrückter
Völker selnen eigenen Machtplänen dienstbar zu machen. Die Aussenpolluk
Lord Palmerstons zur Aufrechterhaltung des politschen Gleichgewichts auf dem Kontinen
stützte sich wesentlich auf seine angebliche Sympathie für die Sache der
nationalen Minderheiten unter fremdem Joch, was ihn aber durchaus nicht verhinderte,
sie schnöde im Stich zu lassen, wenn sie seine Hilfe am nötigsten brauchten.
Napoleon III., der sich mit Vorliebe als Befürworter der nationalen Freiheit
Italiens aufspielte, blieb trotzdem ein guter Sachwalter seiner eigenen, Interessen
und zögerte keinen Augenblick, mit beiden Händen zuzugreifen, um Savoyen
und Nizza Frankreich einzuverleiben, als der günstige Moment dazu gekommen
war. Hitler folgte nur den Spuren seiner älteren Vorgänger, wenn er den
Nationalismus als Köder benutzte, um andere in die Falle zu locken, die dumm
genug waren, seinen Beteuerungen zu glauben. Nach seinem Sturz blieb Stalin der
lachende Erbe, der heute dasselbe Trugspiel fortsetzt, um blinde Massen auf den
Leim zu führen, die ebensowenig etwas gelernt haben wie so viele andere vor
ihnen.
Das Beschämenste ist, daß dieser Falschspielertrick berechneter Verlogenheit
und infamer Heuchelei noch immer zugkräftig ist, um aufgepeitschte Massen zu
betören, die da glauben, ihren eigenen Interessen zu dienen und keine Ahnung
haben, daß sie nur als Schachfiguren für ein anderen Spiel mißbraucht
werden. Wer, In der Tat, die außenpolitlächen Bestrebungen Stalins und
der Männer Im Kreml ledig- lich nach den Resolutionen künstlich organisierter
Friedenskongresse und den Beteuerungen der internationalen kommunistischen Presse
beurteilt, konnte wirklich glauben, daß es den russischen Machthabern um welter
nichts zu tun ist, als die Völker Asiens und Afrikas von den letzten Resten
des westlichen Imperialismus zu befreien und ihnen ihre nationale Unabklängigkeit
zu sichern. Gegen ein so lobenswertes Unterfangen wäre gewiß nichts einzuwenden,
denn die Epoche der Kolonialpolitik war gewiß kein Ruhmesblatt und gehört
zweifellos zu den dunkelsten Kapiteln zeitgenössischer Geschichte.
Doch nur wenige fragen sich, weshalb Stalin und seine Gefolgsmänner dasselbe
Rezept, daß sie so freigebig anderen verschreiben, nicht auf Rußland
selber anwenden oder, was von dem mächtigen russischen Staate, der über
ein Sechstel der ganzen Erdoberfläche einnimmt, noch übrig bliebe. wenn
man seine Expansionspolitik mit dem selben Maaßstab messen würde wie
die des westlichen Imperialismus. Das kleine Fürstentum Moskau, das sich im
13. Jahrhundert entwickelte und aus dem später der heutige russische Staat
hervorgegangen ist. war ein recht bescheidener Anfang. Allein dieser kleine Staat
hat im Laufe von vier Jahrhunderten nicht nur die ganzen baltischen Länder,
die Gebiete vom Nördlichen Eismeer bis zum Schwarzen Meer, Polen, das Fürstentum
Kiew und die Ukraine und die Regionen des Kaukasus unter seine Botmäßigkeit
gebracht: er hat auch nach und nach große Teile von Zentralasien und die ganze
ungeheuere Landfiäche vorn Ural bis zum Stillen Ozean annektiert: obgleich
die meisten der unterworfenen Völkerschaften sowohl ihrer Sprache als Ihrer
Abstammung nach mit dem eigentlichen russischen Volke ebensowenig Verwandtschaft
hatten wie die Völker Indiens, Burmas, Indochinas, Milanesiens und der ganzen
arabischen Welt in Asien und Nordafrika mit England, Frankreich, Italien oder Holland.
Wenn alle Völker, die heute dem russischen Staat zwangsläufig unterworfen
sind, die freie Wahl besaßen. sich von der UdSSR zu trennen, so würde
wohl von diesen mächtigen politischen Gebilde sehr wenig übrig bleiben.
Doch das ist nicht alles: Als noch dem Ausbruch der Russischen Revolution und besonders
nach dem Staatsstreich der Boschewiki Im Novernber 1917 unter den von Rußland
unterworfenen VÖlkerschaften sich starke Unabhängigkeitsbestrebungen bemerkbar
machten, war die damals noch schwache Regierung Lenins gezwungen, die nationale
Unabhängigkeiit verschiedener dieser Völker anzuerkennen und feierlich
zu bestätigen. So lesen wir in dem am 2. Februar 1920 abgeflossenen Vertrag
von Tartu zwischen Estland und der Sowjet-Union:
"Nach dem Grundsatz, daß jedes Volk das Recht besitzt. über sein
eigenes Schicksal zu bestimmen und sogar sich vollständig von dem Staate zu
trennen, dem es bisher verpflichtet war, erklärt die Föderalistische Sozialistische
Sowjet-Republik, daß Rußland, ohne Vorbehalt die Unabhängigkeit
und Autonomie des Staates Estland anerkennt und freiwillig und für immer alte
seine früheren Rechte der Souveränität über das estische Volk
und Territorium aufgibt; und daß alle solche Rechte, die auf Grund elner gewesenen
legalen Situation und auf Grund internationaler Verträge In Kraft waren, von
heute ab keine Gültigkeit mehr besitzen."
Auch die Verträge mit Lettland im November 1917 und mit Litauen 1918 waren
fast im selben Wortlaut abgefaßt. Heute wissen wir. daß alle diese Verträge
nicht das Papier wert waren, auf dem sie feierlich beschworen wurden. Estland, Lettland
und Litauen sind heute unter sowjetischer Herrschaft mehr versklavt, als sie es
je unter dem Zarismus gewesen sind. Die Sozialistlsche Kaukasische Republik wurde
bald Im Anfang mit Waffengewalt unterdrückt. Flnnland lebt heute im Schatten
russischer Bajonette; die größere Hälfte Polens wurde Rußland
wieder einverleibt und die kleinere Hälfte wird wie eine russische Provinz
regiert, wie alle Satellitenstaaten im Osten Europas. Alle Verträge, die in
dieser Hinsicht von der Sowjetunion geschlossen wurden, wurden der Reihe nach von
Stalin gebrochen. Rußland hat icht nur nach dem zwieten Weltkrieg einen beträchtlichen
Gebietszuwachs erhalten und ist heute größer als es unter dem Zarismus
je gewesen ist; es hat auch einen ggewaltien Vorstoß nach Westen gemacht,
wie er keinem russischen Zaren gelungen ist, nicht zu reden von dem gewattlgen Einfluß,
den es sich in Asien errungen hatte. Man sollte denken, daß ein Land,, das
sich im Laufe seiner Geschichte auf die Kosten fremder Völker zum größten
Staatswesen der Welt entwickeln konnte, am allerletzten dazu berufen wäre,
sich zum Anwalt für die nationale Befreiung unterdrückter Nationen aufzuspielen,
Doch die Männer im Kreml wissen ganz genau, was sie der heutigen chaotischen
Weit bieten dürfen, und ihre unermüdliche Propagandamaschine findet stets
treue Schlagworte. um unwissende Massen zu benebeln und ihnen ihre wahren Absichten
zu verschleiern. Der ganze Taumel, der heute die islamitische Welt von Iran bis
Marokko erfaßt hat, ist ein schlagendes Beispiel, wie solche Vorkommnisse
durch fremde Einflüsterungen künstlich erzeugt werden können. Wenn
es sich in diesem Falle wirklich um einen Aufstand unterdrückter Völker
handeln würde. die von einer günstigen Gelegenheit Gebrauch machen, wenn
schon nicht, um Ihre soziale Belreiung zu erkämpfen - dazu gehören ganz
andere geistige Voraussetzungen, die bis jetzt in der islamitischen Welt nicht zu
finden sind - so doch wenigstens, um eine bessere Lebenslage für sich selbst
zu gewinnen, so könnte man ihnen nur Glück dazu wünschen. Dach davon
Ist leider nicht die Rede.
Der ganze arabische Nationalismus war von Anfang an ein künstliches Gebilde,
dessen Entstehung viel mehr der auswärtigen Politik rivalisierender europäischer
Großmächte zu verdanken ist als den eigentlichen Bestrebungen der zahlreichen
arabischen Völkerschaften. Den Beduinenstämmen, die in manchen arabischen
Staaten einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung bilden, war der Begriff
des Nationalismus schon deshalb fremd, weil sie als Nomaden überhaupt keine
festen Wohnstätten besitzen. Die meisten arabischen Völker waren vor dem
ersten Weltkriege dem türkischen Staat unterworfen. Als die Türkei aber
beim Ausbruch des Krieges sich auf die Seite Deutschlands und Österreichs stellte,
trat im Oktober 1915 Sir Henry Macmahon im Auftrag der britischen Regierung mit
dem Emir Hussein, dem Scherif von Mekka in Verbindung und erklärte ihm, daß
seine Regierung bereit sei, sich für die nationale Unabbängigkeit aller
arabischen Völker von der Roten See bis zum mittelländischen Meer; d.
h. für Arabien, Syrien und Mesopotamien, mit der Ausnahme einiger kleineren
Landesteile, einzusetzen. Dies war der eigentliche Anfang der pan-arabischen Bewegung
und der Arabischen Liga. Bei all diesen Vorgängen wurden die Völker selbst
nicht zu Rat gezogen, deren große Mehrheit Oberhaupt kein Verständnis
für die inneren Zusammenhänge des Spieles hatte, in dem ihnen lediglich
die Rolle stummer Mitspieler zugedacht war wie den Statisten auf einer Theaterbühne.
Es waren Verhandlungen zwischen einer europäischen Großmacht und einer
handvoll kleiner orientalischer Potentaten, die Ihre Völkerschaften gewiß
nicht besser behandelten als irgendein Fremdherrscher.
Man darf überhaupt nie vergessen, daß der gesamte arabische Nationalimus
seine ganze Existenz nur einer kleinen Intellektuellen Schichte zu verdanken hatte
und von den kleinen arabischen Machthabern unterstützt wurde, weil sie glaubten,
ihre dynast@en Interessen damit fördern zu können, wobei die größeren
von ihren stets von dem Wunsch besessen waren, die neue Idee von der Arabischen
Bruderschaft früher oder später dazu benutzen zu können, um die Hegomonie
über die arabische Welt zu erringen. Die Völker spielten dabei überhaupt
keine Rolle. Tatsache ist, daß in allen neueren arabischen Staaten, trotz
ihrer angeblichen Unabhängigkeit sich die geistige und materielle Lage der
breiten Massen des Volkes in keiner Weist, geändert hat.
Nach dem ersten Weltkriege aber wurden von den englischen Verrprechungen nur wenige
eingehalten. Bei den Friedensverhandlungen wurde Großbritannien mit dem Mdandat
über Irak, Palästina und Transjordanien betraut, während das Mandat
über Syrien Frankreich zufiel. Die Folge war, daß die sogenannte pan-arabische
Bewegung, die zuerst ausgesprochen pro-britisch war, nunmehr immer offensichtlicher
ins anti-britische und anti-französische Lager umschwenkte. Das zeigte sich
besonders deutlich, als Mussolini in seiner bekannten Rede sich als Protektor der
lslamitischen Welt vorstellte und durch Rundfunkpropaganda aus Rom die Araber für
seine Interessen zu ködern versuchte. Er hatte auch Erfolg, denn die kleinen
arabischen Machthaber lieäugelten damals mit dem faschistischen Italien. wie
sie heute mit Stalin lieäugeln. Es ist dies eine der schwächsten und gefährlichsten
Seiten jedes Nationalismus, welchen Namen er immer tragen mag. In ihrer blinden
Verbohrtheit, die stets an die engsten Interessen einer bestimmten Menschengruppe
gebunden ist, sind seine Träger stets berelt, sich irgendeinem politischen
Abenteurer in die Arme zu werfen, der ihnen durch verlogene Versprechungen falsche
Hoffnungen vorgaukelt, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, daß
sie damit häufig die brutalste Reaktion fördern helfen, die nicht nur
der ganzen Menschheit. sondern auch ihren eigenen Bestrebungen zum Verderben auschlagen
muß.
Das zeigte sich gerade in diesem Falle mit unverhüllter Deutlichkeit. War die
Stellung der arabischen Kleinherrscher der Sache der Alliierten im zweiten Welt
kriege durchaus nicht günstig, so verwandelte sie sich später nach der
Gründung des Jüdischen Staates in Palästina in unversöhnliche
Feindschaft. die sich heute immer mehr zu einem ungezügelten, fanatischen Haß
gegen alte Fremden auswächst. Das ist aber gerade, was wir in der heutigen
gefährlichen Lage am wenigsteti brauchen können, denn blinder Fanatismus
unterbindet nicht nur jede Möglichkeit einer gegenseitigem Verständigung,
er kann bei den heutigen Zuständen auch selbst leicht eine neue Katastrophe
heraufbeschwören, deren Tragweite gar nicht zu ermessen ist. In der Tat Ist
heute im Nahen Orient ein Zustand entstanden wie früher im Balkan, der jahrzehntelang
ein offenes Pulverfaß gewesen ist, das jeden Augenblick durch innere und äußere
politische Intrigen explodieren könnte, was endlich auch wirklich geschehen
ist.
Wir sind heute in einer Grenzscheide unserer Geschichte angelangt. wo uns engstirniger
Nationalismus nicht mehr weiter helfen kann, weil er vollständig unfähig
ist, der heutigen Situation zu begegnen. Er kann nur durch seine fanatische Verblendung
der Machtpolitik neues Wasser auf die Mühlen Iiefern und das alte Spiel fortsetzen,
in dem es nur betrogene Betrüger und geprellte Völker gibt.
Aus: Rudolf Rocker Der Nationalismus in: Aufsätze 2
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt