Rassismus in der Wissenschaft
Der typische Wissenschaftler im 20. Jahrhundert arbeitet in einem extrem arbeitsteiligen
Wssenschaftsbetrieb. Da er ohne philosophische Bildung ist und sich deshalb jede
Wissenschaft nur als empirische vorstellen kann, muß ihm der Zusammenhang
der arbeitstelligen Wissenschaft undurchschaubar bleiben, denn empirisch ist dieser
Zusammenhang in einem Menschenleben nicht zu durchschreiten. Wenn noch dazu für
Karrieren im Wissenschaftsbetrieb die Regel - publish or perish - gilt, dann wird
der moderne Wissenschaftler dazu angehalten die spärlichen Resultate seines
engbegrenzten Forschungsbereichs zu verabsolutieren und als Prinzip von Totalität
aufzuspreizen. Existiert nun ein zahlendes Interesse nach falschen Erklärungen,
weil historisch überflüssige Herrschaft nach Rechtfertigung sucht, dann
werden solche Ideologeme treibhausmäßig publiziert.
So erfand der Nobelpreisträger Pro£ Philipp Lenard die "deutsche
Physik" mit dem schwachsinnigen Argument, daß Wahrheit Resultat arischen
Blutes sei, weil viele Deutsche Nobelpreisträger waren.
"'Die Wissenschaft ist und bleibt international!' wird man mir
einwenden wollen. Dem liegt aber ein Irrtum zugrunde. In Wirklichkeit ist die Wissenschaft,
wie alles, was Menschen hervorbringen, rassisch, blutmäßig bedingt. Ein
Anschein von Internationalität kann entstehen, wenn aus der Allgemeingültigkeit
der Ergebnisse der Naturwissenschaft zu Unrecht auf allgemeinen Ursprung geschlossen
wird oder wenn übersehen wird, daß die Völker verschiedener Länder,
die Wissenschaft gleicher oder verwandter Art geliefert haben wie das deutsche Volk,
dies nur deshalb und insofern konnten, weil sie ebenfalls vorwiegend nordischer
Rassenmischung sind oder waren. Völker anderer Rassenmischung haben eine andere
Art, Wissenschaft zu treiben."(1)
Da Resultate der Wissenschaften immer auch der Spontaneität des
Wissenschaftlers, der sie herausfindet, zu verdanken sind, einer Spontaneität,
die im allgemeinen Resultat erloschen ist, so kann man sich jedes Beliebige an deren
Stelle einbilden. Der Zusammenhang von Blut und wissenschaftlichen Resultat, für
jeden rationalen Biologen bloßer Blödsinn, weil bloß behauptet,
läßt sich an Stelle prinzipiell unerklärbarer Spontaneität
einsetzen, wenn ein ideologisches Bedürfnis es erfordert.
Als in den Fünfziger Jahren die französischen Kolonialherren in Algerien
Schwierigkeiten mit ihren Kolonisierten bekamen, die Kriminalität in die Höhe
schnellte und schließlich ein Aufstand ausbrach, beeilte sich eine ganze Zunft
von Psychatern diese Algerier als Untermenschen zu erklären. Angefangen hatte
bereits 1935 ein Professor Porot, er behauptete, daß der "nordafrikanische
Eingeborene, dessen höhere Aktivitäten (Hirnrinde) wenig entwickelt sind,
ein primitives Wesen ist, dessen vorwiegend vegetatives und instinktives Leben vor
allem vom Zwischenhirn reguliert wird." Da das Zwischenhirn eher ein primitiver
Teil des Gehirns ist und beim Menschen vor allem die Hirnrinde dominiert, werden
die Algerier zu Tieren biologistisch herabgestuft.
"Der Algerier hat keine Hirnrinde oder, um genauer zu sein, das
beherrschende Element ist, wie bei den niederen Wirbeltieren, das Zwischenhirn.
Die kortikalen Funktionen sind, wenn sie Oberhaupt existieren, sehr brüchig,
praktisch nicht in die Dynamik der Existenz integriert. Wir stehen also weder vor
einem Geheimnis noch vor einem Paradox. Das Zögern des Kolonisators, dem Eingeborenen
eine Verantwortung zu übertragen, ist kein Rassismus oder Paternal'smus, sondern
beruht ganz einfach auf wissenschaftlicher Einschätzung der biologisch begrenzten
Möglichkeiten des Kolonisierten. "(2)
Solche Ansichten gingen in Lehrbücher ein, bestimmten eine ganze
Generation von Psychiatern und erfüllten ihre ideologische Funktion: sie rechtfertigten
die Folterungen und den Massenmord an Algeriern. Als diese Untermenschen dann aber
doch den französischen Herrenmenschen besiegten und als während ihres
Aufstandes die Kriminalität drastisch zurückging, versanken diese wissenschaftlichen
Arbeiten in den Archiven - bis zum nächsten Mal.
Das Kapital der Industrieländer wird heute weniger durch antikoloniale Kriege
oder ein alternatives Wirtschaftssystem bedroht als durch soziale Verelendung und
daraus resultierender Kriminalität in den Metropolen selbst. Und wächst
die Kriminalität auch nicht ständig, so wird es doch so hingestellt, um
ein innerstaatliches Feindbild zu haben. Nachdem Kommunisten mangels Masse ausgefallen
sind, muß die Mafia herhalten. Der wesentliche Reichtum in kapitalistischen
Gesellschaften besteht in Eigentumstiteln auf akkumulierbaren Mehrwert. Einen Konzern,
in dem dieser Mehrwert produziert wird, kann man aber nicht klauen, insofern ist
Diebstahl nicht mehr ökonomisch relevant. Ein Dieb kann nur Waren, im Überfluß
produzierte Gebrauchsgüter, stehlen. Indem der Staat das Eigentum schützt,
sichert er auch eine Ordnung, in der einige wenige relevantes Eigentum besitzen,
andere nur eine mehr oder weniger große Menge von notwendigen Gebrauchsgütern,
so daß sie gezwungen bleiben, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu
können. Gewalt, die früher zum direkten Abpressen eines Mehrprodukts verwandt
wurde, ist heute mediatisiert in den Waren, die der Arbeiter gezwungen ist zu produzieren.
Denn der Markt kann nur unter friedlichen Bedingungen funktionieren. Indem der Dieb
Waren stiehlt, setzt er das Gewaltmonopol des Staates in Gang und macht derart auf
das in den Waren inkorporierte Herrschaftsverhältnis, das nach wie vor nicht
ohne Gewalt existieren kann, symbolisch aufmerksam. Darin besteht die Gefährlichkeit
des Kriminellen für die kapitalistische Gesellschaft. Den Kriminellen zu bekämpfen
und zugleich seinen Zusammenhang mit den Herrschaftsverhältnissen zu verschleiern,
darin besteht die selbstgewählte Aufgabe des sich wissenschaftlich gebenden
Ideologen. Er stellt sich deshalb Pseudoalternativen:
"Sind es die Erbanlagen, oder ist es die Umwelt, die die menschlichen
Verhaltensweisen bestimmt?" (3)
Falsche Resultate der Wissenschaft, die sich auf die Erbanlagen konzentriert,
sind dann, um mit ihr selbst zu sprechen, "genetisch vorprogrammlert":
"Die Ursache für Homosexualität, Alkohollmus, Schlzophrenie
und sogar die Neigung zum Seitensprung wollen Humangenetiker in den menschlichen
Chromosomen ausgemacht haben. Die neueste Variante, die genetische Grundlage kriminellen
und antisozialen Verhaltens, stand vergangene Woche im Mittelpunkt eines Londoner
Symposiums, zu dem Humangenetiker, Neurologen, Juristen, Psychiater und Psychologen
geladen waren." (3)
Zwar wird entsprechend der obigen Pseudoalternative eingeräumt,
daß die Umweltfaktoren eine Rolle spielen, aber die genetischen Ursachen für
kriminelles Verhalten werden als weitaus wichtiger angesehen als "soziale Mißstände".
Der taz-Journalist berichtet:
"So war es eine niederländische Arbeitsgruppe, die als erste ein konkretes
"Verbrecher-Gen" benannt hat. Das Team von Professor Hart Brunner, der
auch auf der Rednerliste des Ciba-Symposiums steht, hatte bei einer angeblich besonders
aggressiven niederländischen Familie einen Gendefekt ausgemacht, der zu einer
Unterproduktion des Hirnbotenstoffs Serotonin führt. Der Mangel an dieser Substanz
ist, so Brunner, die Ursache dafür, daß zahlreiche Mitglieder der Familie
auffällig geworden sind. Wie auf der Londoner Tagung berichtet wurde, soll
demnächst erstmals ein entsprechender Gentest in einem Gerichtsverfahren angewandt
werden." (3)
Die geforderten Konsequenzen dieses genetischen Determinismus gehen von Vorschlägen
zur Intervention und Prävention, etwa die "Therapierung" von jugendlichen
mit Pharmaka oder den Schwangerschaftsabbruch, bis hin zur Umwandlung der genetischen
Grundlagen der ganzen Menschheit.
"Eine Verbesserung der 'genetischen Qualität des Menschen durch eugenische
Verfahren würde', so Huxley, 'eine große Last von den Schultern der Menschheit
nehmen und zur Steigerung der Lebensfreude und Tüchtigkeit beitragen'." (3)
Die Wirkung genetischer Strukturen ist nicht direkt erkennbar. Kein Wissenschaftler
kann sagen, warum dieser oder jener biologische Zusammenhang so und nicht anders
funktioniert. Die Dimension des inneren Wesens der Dinge ist dem Menschen prinzipiell
nicht zugänglich. Was der Biologe feststellen kann durch Zergliederung und
Versuche, sind einzelne funktionale Zusammenhänge. Vereinfacht gesprochen schneiden
die Genetiker ein Gen heraus, um zu sehen, was passiert. Danach bringen sie dieses
Gen mit einer bestimmten Wirkung zusammen. Da sie mit Menschen nicht (noch nicht
wieder ?) experimentieren dürfen, können sie nur defekte Gene diagnostizieren
und sich dann passende Eigenschaften , die nicht "normal" sind, heraus-
suchen. Dies gibt der Willkür großen Spielraum, so daß die gewünschten
sozialen Aussagen wie "Kriminalitätsgene" möglich werden, obwohl
doch nur eine Substanz mangelhaft produziert wird. Was dabei regelmäßig
vergessen wird, sind der freie Wille und die gesellschaftlichen Zwänge, die
ihn einschränken. Indem man mit den Genen konkrete Verhaltensweisen in Zusammenhang
bringt, unterschlägt man den freien Willen, ohne den doch kein Mensch, also
auch kein Genetiker, einen Satz formulieren könnte. Da man aber den 'freien
Willen' nicht empirisch nachweisen, sondern nur als notwendige Bedingung der Möglichkeit
artspezifischer Handlungen wie Sprechen und Arbeiten erschließen kann, lehnt
der verbildete moderne Intellektuelle, der sich Wissenschaft nur empiristisch vorstellen
kann, diesen Begriff des 'freien Willens' ab. Die Willkür der Interpretation
des Faschisten Lenard aufgrund der damaligen überdurchschnittlichen Anteile
deutscher Wissenschaftler an den Nobelpreisträgern, auf die Vorzüge des
deutschen Blutes zu schließen, ist die gleiche wie die der demokratischen
Wissenschaftler aus der Unterproduktion eines Hirnbotenstoffes auf kriminelle Aggressivität
einer Familie zu schließen. Beide sichern pseudowissenschaftlich die Menschensortierung
bürgerlicher Politiker ab. (Rassistische Polizisten nehmen dies wie in Hamburg
zum Anlaß, ihre Privatfolter auszutoben.) Nach der gleichen Methode könnte
man von der überdurchschnittlichen, wenn auch bloß formalen Intelligenz
solcher Genetiker, die mit mangelnden Interesse an der Wahrheit gepaart ist, auf
ein defektes Moral-Gen schließen. Derart könnten sie ihre eigenen moralischen
Verkrüppelungen nachspüren. Sie hätten zwar immer noch keinen vernünftigen
Zweck, aber sie wären auch nicht mehr gefährlich als Verdummer. Doch solange
es finanzstarke Interessen an ihren Ideologemen gibt, d.h. solange es Herrschaftsverhältnisse
gibt, so lange wird es korrupte Wissenschaftler geben, die alles Gewünschte
liefern.
(1) Zitiert nach: Hofer: Der Nationalsozialismus. Dokumente
1933-1945, Ffm. 1957, S. 98.
(2) Zitiert nach: Frantz Fanon: Die Verdammten dieser
Erde, Ffm. 1981, S. 251 f.
(3) Nach W.Löhr: Biologisches Make-up und Gewalt,
in: "die Tageszeitung" vom 20.2.1995, S. 13.
aus Erinnyen 9, Zeitschrift für materialistische Ethik
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Most recent revision: April 07, 1998
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