Elend der Totalitarismustheorie
Rechts- und Links-Totalitarismus
"Der legitime Widerwille gegen eine industrielle Leistungsgesellschaft, die
den Menschen immer stärker zum bloßen Objekt ihres nüchternen Funktionsmechanismus
zu machen und ihn in seiner individuellen Freiheit und Spontaneität zunehmend
einzuengen droht, führt hier", so schreibt der stellvertretende SPD-Vorsitzende
und Bundesverteldigungsminister Helmut Schmidt Ende 1969 in der "Zeit"
unter Bezug auf die Forderung der "Neuen Linken", das Parlament durch
Räte zu ersetzen, "zur Flucht in die intellektuelle Geborgenheit einer
irrealen, ideologisch-utopischen Vorstellungswelt, deren Wurzeln bis ins 18. und
19. Jahrhundert zurückreichen". Helmut Schmidt ging auch auf die rechtsradikale
Variante des Anti-Parlamentarismus ein: "Auch hier finden wir als Reaktion
nur das alte Konglomerat aus antiliberalen Ressentiments, obrigkeitsstaatlichen
Vorstellungen und radikaldemokratisch- totalitären Elementen der Lehre von
Rousseau, die sich wiederum zu dem zerschlissenen Bild von der Volksgemeinschaft
unter plebiszitir legitimierter Führerschaft und einem zum bloßen Akklamationsforum
degradierten Parlament zusammenfügen".
In diese knappe Äußerung sind alle Elemente der lange fast unbestritten
herrschenden Totalitarismus-Theorie eingegangen. Für die Kritiker radikaler
Positionen auf der Rechten und der Linken gehen deren Ideologien "in wesentlichen
Punkten auf den französischen Philosophen Jean Jacques Rousseau und die seine
ideen teilweise aufgreifenden Jakobiner in der Französischen Revolution"
zurück. In einer methodisch nicht ganz einwandfreien Weise, indem nämlich
unkritisch die Rousseau-Interpretation von rechts übernommen und damit zustimmend
vorweggenommen wird, was ja eigentlich erst bewiesen werden muß, schließt
man: "Rousseaus Auffassung von Demokratie beruht, wie der in seiner Kritik
am modernen Parlamentarismus unmittelbar an ihn anknüpfende rechte Kritiker
der Weimarer Verfassung und spätere Staatsrechtslehrer des Nationalsozialismus
Carl Schmitt betont hat, auf der Identität von Regierenden und Regierten, die
ihrerseits auf der Auffassung von einem in der Interessenlage homogenen und sich
daher einmütig verhaltenden Volk beruht. Jede wirkliche Demokratie, die bei
Schmitt im Einklang mit den Vorstellungen der radikalen Linken im unüberbrückbaren
Gegensatz zum Liberalismus gesehen wird, basiere darauf "daß nicht nur
Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht
gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität
und zweitens - nötigenfalls - die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen".
Von diesem Demokratieverständnis aus, das den totalitären Regimen unserer
jüngsten Vergangenheit die Begründung für die Vernichtung großer
rassischer, sozialer und nationaler Minderheitsgruppen geliefert hat, ist es nur
konsequent, wenn Rousseau sind mit ihm die Anhänger der Konzeption der einheitlichen
Volksgemeinschaft auf der Rechten und der klassenlosen Gesellschaft auf der Linken
keine Parteien, keine Sonder- und Gruppeninteressen und keine Konkurrenz zu der
der Gesellschaft zugrunde liegenden herrschender Religion oder Ideologie zulassen.
Die Homogenität muß nach Rousseau, sogar so weit gehen, daß politische
Entscheidungen ohne "dornenvolle Diskussionen" zustandekommen und selbst
die Parteien in einem Rechtsstreit dasselbe wollen. Die totalitäre Praxis der
einstimmigen akklamatorischen Bestätigung nicht diskutierter Gesetze und der
Selbstanklage in Schauprozessen ist hier also vorweggenommen."
Autoren, die Rousseau bestreiten, "Ahnherr der westlichen Demokratie"
zu sein, und ihn vielmehr als "eigentlichen Stammvater des politischen Totalitarismus"
und einige seiner Arbeiten als "Urquell der totalitären Demokratie,"
verstehen, berufen sich dabei vorzugsweise auf die Arbeiten von J.L.Talmon. Doch
ist es notwendig, darauf hinzuweisen, daß Talmon die Parallele zwischen Rousseau
(sowie den Jakobinern und Babeuf) einerseits und dem modernen Totalitarismus andererseits
auf seinen "linken Typ", den Marxismus-Kommunismus, beschränkt:
"Der Ausgangspunkt des Totalitarismus der Linken war von jeher und ist letzten
Endes noch immer der Mensch, seine Vernunft, sein Hell; die totalitären Systeme
der Rechten hingegen nehmen als Ausgangspunkt ein Kollektiv: den Staat, die Nation
oder die Rasse". Talmon hält es daher für berechtigt, "den Begriff
der Demokratie in bezug auf die totalitäre Linke immerhin zu gebrauchen. Auf
den Totalitarismus der Rechten ist dieser Begriff nicht anwendbar". Talmon
vertritt also nicht einen totalen Totalitarismus-Begriff, und nur unter diesen einschränkenden
Bedingungen ist sein Verdikt zu verstehen und als Argument zu verwenden, daß
Rousseau "den Weg frei gemacht" hat "für die totalitäre
Demokratie".
Rousseau habe allerdings, so wird meist im Anschluß an Talmon argumentiert,
nicht verkannt, daß die Summe der Einzelwillen der Bürger, die volonté
de tous, nicht mit dem mit Gemeinwohl identifizierten Gemeinwillen, der volonté
générale, übereinstimme, so lange jedenfalls nicht, wie der entfremdete,
am Eigeninteresse ausgerichtete Zivilisationsmensch nicht durch Erziehung zur Erkenntnis
des in jedem Menschen angelegten Gemeinwillens gebracht sei. Aus diesem Grunde halte
es Rousseau für unerläßlich, daß ein von außen kommender
göttlich inspirierter Gesetzgeber, ein "législateur", ihm
den rechten Weg weise, ihn notfalls dazu zwinge, sich seinen Gesetzen "freiwillig
aus Einsicht" zu beugen: "In der Konzeption Rousseaus hat also der Staat
die Hellsaufgabe, den entfremdeten Zivilisationsmenschen wieder zu erlösen".
Als historisches Modell für ein Gemeinwesen, in dem bisher die volont@ g@n@rale
geherrscht habe, hat Rousseau der spartanische Staat gedient: ein Staat, in dem
eine Kriegerkaste mittels terroristischer Methoden eine unterworfene Helotenbevölkerung
beherrscht habe und die Bürger nur noch dem Gemeinwesen gehört hätten.
Doch übersieht diese Rousseau-Interpretation nicht, daß Rousseau sehr
skeptisch gewesen ist, ob es je gelingen werde, den Menschen zum Träger des
aufgeklärten Gemeinwillens zu erziehen. Aber Rousseau folgend habe Robespierre
sich in der Lage geglaubt, "aus den Maximen der Vernunft die Regeln eines allgemein
gültigen richtigen Zusammenlebens der Menschen ableiten zu können".
Der Weg zur Freiheit ging nach ihm über die Erziehungsdiktatur über alle
die, die sich der Forderung widersetzten, Staat,Wirtschaftund Gesellschaft nach
den Geboten des "wahren Volkswillens" zu regeln: "Aus dem Bestreben,
den realen durch den "wahren" Volkswillen zu ersetzen, entstand das Terrorregime
der Jakobiner". Die Jakobiner waren von dem fanatischen Glauben erfüllt,
daß es nur einen einzigen legitimen Volkswillen geben könne: Die Erfahrung
des Altertums war es gewesen, "daß extreme Demokratie geradewegs zur
persönlichen Tyrannei führt. Die Erfahrung der Neuzeit hat ein Glied in
der Kette hinzugefügt: die Rolle der totalitären Avantgarde, die sich
als das Volk ausgibt, in einer plebiszitären Regierungsform".
Aus dieser Perspektive ist die Jakobinerherrschaft folgerichtig die Urform der Diktatur
des Proletariats: Zum Robespierre'schen Gedanken einer "aufgeklärten Avantgarde,
die - auch unter Einsatz von Terror gegenüber dem vermutlichen Volksfeind -
den Willen des Volkes verkörpert und artikuliert", haben sich - im Gegensatz
zu anderen Sozialisten (Marx, Engels, Rosa Luxemburg) - ausdrücklich Lenin
und Stalin bekannt. Und unzweideutig lasse sich - so meinen die Kritiker der heutigen
Linken - von Rousseau über Robespierre, Lenin und Stalin der rote Faden in
der linken Argum"titation bis zu den Avantgardisten von heute verfolgen: Mit
den gleichen Ideen, Argumenten, Behauptungen begreift sich die Neue Linke als wahrheitsfähige
Elite, als Träger des fortgeschrittenen Bewußtseins; auch sie postullert
ein alle Menschen verbindendes Interesse, das durch empirische Befunde nicht widerlegt
werden kann; auch sie verspricht eine Herrschaft der Massen auf dem Umweg über
die Herrschaft der Aufgeklärten und rechtfertigt damit den unbegrenzten Machtanspruch
"einer sich selbst zum Interpreten des Gemeinwohls der angeblich blinden Massen
aufwerfenden elitären Minderheitsgruppe": "Die Ausblendung des subjektiven
Bewußtseins der Menschen, also ihrer eigenen Einschätzung der Vorzüge
und Nachteile in ihrem Leben und in ihrer Umwelt, ist der eigentliche totalitäre
Ansatz in der Argumentation der "Neuen Linken"."
Aus einer erweiterten Perspektive glaubt man - wie schon angedeutet - zu einem umfassenderen
Begriff des Totalitarismus zu gelangen, der Faschismus und Kommunismus wenn nicht
deckungsgleich werden läßt, so doch als weitgehend übereinstimmend
umgreift. Beide werden zu einer Erscheinungsform, stellen sich als völlig neuartiges
politisches Phänomen dar, das im Zusammenhang mit der Industriegesellschaft
aufgetreten ist. Rousseau und Robespierre sind nicht mehr nur die Vorläufer
der "totalitären Demokratie", der totalitäre Rousseauismus wird
nicht mehr nur auf seine linke Spielart begrenzt gesehen: Rousseau hat vielmehr
"das philosophische Fundament sowohl für den linken als auch für
den rechten Totalitarismus" gelegt. Als gemeinsame Wurzeln links- und rechtsradikaler
Bewegungen bei Rousseau werden genannt: die quasi religiöse Begründung
der Aufgabe politischer Gemeinschaften, die Abwertung der Aufgabe des empirisch
feststellbaren gegenüber dem "wahren" Volkswillen, die Rechtfertigung
der Erzichungsdiktatur zur Beseitigung des "falschen" Bewußtseins
und zur Schaffung des "neuen" Menschen sowie Anti-Parlamentarismus und
Anti-Pluralismus. Ein Bindeglied zwischen Marxismus und völkischer Weltanschauung
glaubt man historisch im Darwinismus zu finden; für aktuelle Zusammenhänge
verweist man auf die Nähe der Marcuseschen Forderung nach einem neuen Menschen
zur biologistischen Lebensphilosophie (wobei allerdings hervorgehoben wird, daß
Marcuse die Notwendigkeit einer rationalen Steuerung der Anlagen betont) oder auf
den quasi organizistischen Entwicklungs- und kollektivistischen Gesellschaftsbegriff
der rechten und der linken Kritiker des Spätkapitalismus. Rechts- und Linkstotalitarismus
verbindet weiterhin historisch und aktuell "der Voluntarismus; der Primat des
Willens vor dem Geist, des Handelns vor dem Denken".
Als besonderes Kennzeichen der Übereinstimmung zwischen rechten und linken
Totalitären wird wiederholt auf den gleichen Begriff des Politischen hingewiesen:
erbitterter, kompromißloser Kampf zwischen miteinander nicht zu vereinbarenden
Gegensätzen. Dieses Freund-Feind-Denken (im Sinne C. Schmitts) und ein Verständnis
der Gewalt als letztes Mittel der Politik beherrscht, so sagt man, beide Positionen
- doch damit sind die Gemeinsamkeiten, wie auch die Vertreter der Totalitarismus-These
anerkennen, erschöpft: Die Unterschiede zwischen rechts und links werden ihnen
an diesem Punkt besonders deutlich, wie Hans Mathias Kepplinger an einem Vergleich
zwischen C. Schmitt und Hans Magnus Enzensberger zeigt: "Während C. Schmitt
das Freund-Feind-Verhältnis propagiert, weil er damit die Möglichkeit
zu gewaltsamer Regelung gesellschaftlicher Konflikte offen halten will, fordert
E. den Bruch der befriedenden demokratischen Spielregeln und die offene Konfrontation,
weil er die Konflikte durch einen Zustand gesellschaftlicher Harmonie überwinden
will".Einfacher ausgedruckt: die Auffassung des Politischen als Freund-Feind-Verhältnis
hat für die Linken nur so lange und unter der Bedingung Gültigkeit, wie
noch eine Klassenherrschaft bzw. der Antagonismus der Klassen besteht.
So sehen es durchaus auch diejenigen, die ansonsten die totale Totalitarismus-These
zu vertreten geneigt sind. Damit wäre aber festgestellt - worauf Martin Greiffenhagen
in seiner Auseinandersetzung mit der Totalitarismus-These hingewiesen hat -, daß
von der Linken Gewalt, Terror oder gar Krieg nicht als solche verherrlicht werden,
nicht Selbstzweck sind, sondern Mittel zum Zweck, eine Welt ohne Gewalt, Terror
und Krieg zu ermöglichen. Revolutionärer Terror - so differenzierte einmal
Marcuse - "ist sehr verschieden von weißem Terror, weil der revolutionäre
Terror eben seine eigene Transzendierung zu einer freien Gesellschaft impliziert
... ". Doch auch für ihn stellt sich im Hinblick auf den Stalinismus die
Frage nach der Perversion der Revolution durch Ausartung des Terrors: "Dort,
wo es in einer Revolution eine solche Umwandlung des Terrors in Akte von Grausamkeit,
Brutalität und Folter gibt, haben wir es bereits mit der Perversion der Revolution
zu tun."
Die Einsicht in solche Zusammenhänge hat zu einer Modifizierung, resp. Reduzierung
der ursprünglich totalen Totalltarismus-These geführt: Zwar, so heißt
es sinngemäß, implizieren linke wie rechte Ideologien "eine totalitär
geführte Gesellschaft", aber während die eine mit dem Abbau von Hierarchie
und Abhängigkeit die herrschaftsfreie Gesellschaft von Gleichen zu erreichen
verspricht, will die andere genau das Gegenteil von alledem. Von hier aus stellt
sich freilich auch den Vertretern der Totalitarismus-These die Frage nach der möglichen
und notwendigen Unterscheidung der historischen Ursprünge beider Strömungen:
wenn beiden zwar historisch ursprünglich der Protest gegen die bürgerliche
Gesellschaft zugrundellegt, so muß doch - worauf besonders Gerhard A. Ritter
aufmerksam ge macht hat - im Blick bleiben, daß die Ideen der radikalen Rechten
nicht nur als Weiterführung gewisser totalitärer Ansätze der Französischen
Revolution zu verstehen sind."
Von den Vertretern der Totalitarismus-These selbst ist also die Frage nach den Differenzierungsmöglichkeiten
zwischen rechts und links aufgeworfen. Die Schwäche der bisherigen Argumentation,
der wir hier zunächst vornehmlich interpretierend gefolgt sind, besteht offensichtlich
darin, daß die Problematik des Totalitarismus abstrakt ideengeschichtlich
oder allenfalls noch aus der Perspektive der Herrschaftsformenlehre erörtert
wird - ohne daß der jeweilige sozialgeschichtliche Kontext berücksichtigt
würde. Oder anders gesagt: es erfolgt eine unzulässige Verkoppelung von
ideengeschichtlich möglicherweise recht vordergründigen Gemeinsamkeiten
- ohne daß dabei auf die jeweilige historisch-politisch-soziale Situation
eingegangen wird.
Martin Greiffenhagen hat auf die grotesken Konsequenzen eines solchen Vorgehens
aufmerksam gemacht: Hans Buchheim hat in seiner seinerzeit vielbeachteten Schrift
zum Thema "Totalitäre Herrschaft" behauptet, daß Kommunismus
sowie Nationalsozialismus der "Vorstellung" entsprangen, "daß
eine Klasse beziehungsweise ein Volk in seiner Existenz bedroht sei, und zwar nicht
durch irgendwelche Kräftekonstellationen, deren man nach Maßgabe der
sich bietenden politischen Möglichkeiten hätte Herr werden können,
sondern durch gewissermaßen welthistorische Gefahren: die Unterdrückung
des Proletariats durch den Kapitalismus, die Zersetzung der "blutlichen Kraft"
der nordischen Rasse durch das Judentum". Buchheim spricht dann weiter davon,
daß ein Teilgebiet der nationalsozialistischen Weltanschauung, die Rassenlehre,
und der Marxismus-Leninismus ihrer Funktion nach unmittelbar miteinander zu vergleichen
seien: beide wollten neue gesellschaftliche Verhältnisse schaffen.
Greiffenhagen fragt dagegen, ob denn die wirtschaftlich miserable Lage des Proletariats
in der Zeit des Hochkapitalismus nur eine "Vorstellung" war, ob diese
sozialgeschichtliche Tatsache wirklich dem Wahn vergleichbar ist, "deutsche
Tugenden" säßen im "nordischen Blut", und er stellt weiter
fest, daß das Klassenmodell noch nach wie vor "als diskutabler Begriff
zur Beschreibung der westeuropäischen Gesellschaft mindestens des 19. Jahrhunderts"
geeignet sei, "im Unterschied zum politischen Rassebegriff, den auch zur Zeit
des Dritten Reiches kein vernünftiger Mensch ernst nahm".
Doch ehe wir diese Problematik vertiefen, müssen wir uns erst noch einmal mit
der bisher vermittelten Rousseau-Interpretation auseinandersetzen: War Rousseau
wirklich der "Stammvater des politischen Totalitarismus"? Er war dies
ebensowenig wie er der "Theoretiker der modernen europäischen Demokratie
im Zeitalter des Kapitalismus" war."
Rousseau war weder totalitär noch liberal, eher ein Theoretiker der "konservativen
Demokratie". Reine Demokratie wäre nach Rousseau Regierung ohne Regierung,
denn wo man sie errichten könnte, bestünde die Möglichkeit, jede
Regierung abzuschaffen, aber streng genommen - so weiter Rousseau - hat es niemals
eine wahrhafte (echte) Demokratie gegeben und wird es sie nicht geben. Rousseau
will auch keine Gemeinschaft von Gleichen errichten, es kommt ihm vielmehr auf eine
Ausgeglichenheit der sozialen Verhältnisse an: Seine Vorstellungen vom Zusammenleben
der Menschen in Gesellschaft und Staat ähneln einer auf dem privaten Eigentum
beruhenden "bäuerlichen und kleinbürgerlichen Tugend-Republik".
Rousseau denkt an ein kleines Land (als Bestandteil einer Föderation von kleinen
autarken Republiken), jeder müßte jeden kennen, einfache Sitten herrschen,
Luxus ist unbekannt, Vollbürger können nur die selbständig Gewerbetreibenden
und die Landwirte sein, in der Landwirtschaft sollen möglichst viele Menschen
beschäftigt werden, es soll möglichst wenig Arbeitsteilung herrschen und
möglichst wenig arbeitssparende Maschinen sollen eingesetzt werden, denn der
technische Fortschritt führt zur gesellschaftlichen Ungleichheit, unerwünscht
ist allzu großer Reichtum, ebenso aber auch große Armut oder gar Besitzlosigkeit:
eine homogene bäuerlich-kleinbürgerliche Bevölkerung soll also die
ideale gesellschaftliche Basis einer Republik abgeben.
Es mag damit einsehbar geworden sein, warum es so viel für sich hat, Rousseau
als den Theoretiker einer konservativen Demokratie zu bezeichnen, wobei der Begriff
der Demokratie noch der besonderen Reflexion bedürfte; es ist keineswegs so,
daß bei Rousseau Staat und Demokratie a priori Synonyme sind. Rousseau ist,
obwohl Rationalist, ein konservativer, ein traditioneller Moralist, der die verheerenden
Folgen der entfesselten kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft erkennt, er will
eigentlich den Fortschritt hemmen und damit die für ihn absehbare Krise der
abendländischen Welt aufhalten, da er sie nicht verhindern zu können glaubt."
Konservative können sich mit Recht auf Rousseau berufen (und sind - jedenfalls
gegenwärtig - meist blind für diese Gelegenheit), Sozialisten, zumal wenn
sie historische Materialisten sind, sollten besser auf diese liebgewordene Möglichkeit
verzichten: einzig die Ideologen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft
haben sich nie auf Rousseau berufen, mit Recht, denn Rousseaus Gegner ist die genuin
liberale Theorie.
Rousseaus revolutionäre Wirkung zu seiner Zeit erklärt sich aus der radikalen
Frontstellung gegen die zeitgenössische Gesellschaft und ihren Staat. Tatsächlich
war Rousseau als Anwalt einer kleinbürgerlich-egalitären republikanischen
Ordnung der erste intellektuelle Wortführer des Kleinbürgertums im Übergang
zum Industriekapitalismus. Nun wird auch klar, warum Rousseau eben keineswegs als
der Theoretiker der westlichen Demokratie im Zeitalter des Kapitalismus verstanden
werden kann; wohl aber stellt er der bürgerlichen Revolution die Kräfte
zur Verfügung, die sich viel stärker gegen die Dynamik der kapitalistischen
Produktionsweise und gegen die die traditionelle ständische Ordnung zerstörende
Kraft der bürgerlichen Klassengesellschaft richteten als - wie das Bürgertum
- gegen die politische Herrschaft des Ancien régime.
Die französischen Revolutionäre von 1789 haben Rousseaus politische Philosophie
kaum gekannt. Es gab zwar einen Rousseau-Kult, aber keine exakte Rezeption seiner
Theorien. Und in dem, was bekannt war, wurde in vielen Punkten bewußt oder
unbewußt von Rousseau abgewichen: z. B. glaubte Robespierre, durch Terror
einer Minderheit die Tugend wiederherstellen zu können, die nach Rousseau allenfalls
durch die machtlose Überzeugungskraft eines Gesetzgebers erneuert werden konnte,
wie es Rousseau denn auch nicht darum ging, dem Menschen beizubringen, was Gerechtigkeit
ist, sondern welches Interesse er daran haben könnte, gerecht zu sein.
Es waren die Jakobiner, die sich in der Französischen Revolution zu Fürsprechern
des Kleinbürgertums und der unteren Volksschichten machten. Ihre Vorstellungen
sind durch "die typisch kleinbürgerliche Kombination von ziellosem Kampf
gegen die Reichen, mit unverändertem Festhalten an privatkapitalistischer Wirtschaftsführung"
gekennzeichnet. Für sie ging es nicht um die Herstellung eines proletarischen
Klassenbewußtseins, sondern um die Verwirklichung der Idee der sozialen Harmonie,
um "ein Volk, in dem Klassenunterschiede keine Bedeutung mehr hatten. . .-.
So liegt es näher, den jakobinismus historisch-soziologisch als "Vorläufer
des Nationalsozialismus, in seinem Anfangsstadium bis 1923" einzuordnen und
ihn nicht zu verstehen als Frühform des Sozialismus oder des Kommunismus. Linke
täten sich jedenfalls aus dieser Sicht kaum einen Gefallen, Robespierre und
seine Freunde, wie es freilich geschieht, als eine Gruppe für sich zu vereinnahmen,
"die der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise noch im Vorfeld
der Warengesellschaft hätten Widerstand bieten können", aber an den
ökonomischen Bedingungen der Französischen Revolution gescheitert sind."
In Frankreich hatte der revolutionäre Kampf gegen Krone, Klerus und Aristokratie
auf einer Art Bündnis zwischen Handels- und Industrie-kapitalistischer Bourgeoisie,
Bauerntum, gewerblichem und Handel treibendem Kleinbürgertum, Fabrikarbeitern
und Tagelöhnern beruht, obwohl zwischen ihnen keine ökonomische und soziale
Interessenidentität bestand. Die Konstellation bei Beginn der 1848er Revolution
in Deutschland war ähnlich. Die politische Revolution des ökonomisch und
sozial emanzipierten Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums wurde begleitet von
einer zwar in ihrer revolutionären Aktivität radikalen, in ihrer Zielsetzung
aber eindeutig reaktionären Gegenbewegung vor allem des gewerblichen Kleinbürgertums.
Seine Beteiligung an der Revolution drückte den Protest der)'enigen gegen die
Auflösung der alten Ordnung aus, die nicht zum kapitalistischen Unternehmer
aufgestiegen waren und nicht ins Proletariat absinken wollten und die die Rückkehr
zum zünftigen Kleingewerbe wünschten.
Auch der Frühsozialismus, der ja - wie bekannt - von den wandernden Handwerksgesellen
in Europa agitatorisch verbreitet wurde, blieb, wie besonders an Wilhelm Weitling
aufzuzeigen wäre, bei aller die Gegenwart überwindenden Zielsetzung hin
zu einem konsequenten Gleichheitskommunismus an die sich auflösende handwerklich-ständische
Ordnung gebunden, an Vorstellungen von der Erhaltung des "einfachen, harmonischen
Le- bens in Städten und Dörfern".
Erst Marx hat - darauf hat Richard Löwenthal, als Kenner von Marx ein Kritiker
der "Neuen Linken", hingewiesen - "eine entschlossene Abkehr vom
romantischen und unmittelbaren Utopismus zu einer geschichtlich vermittelten, vorwärtsgerichteten
Utopie" vollzogen; er hat dem Protest gegen die Industrialisierung dadurch
eine neue Wende gegeben, daß er "das spezifisch romantische Element"
in dieser Krtik an der Industriegesellschaft als entfremdete Gesellschaft "-
den Widerstand gegen die Modernisierung im Namen einer idealisierten Vergangenheit
- verwarf und statt dessen die These aufstellte, dank der Dialektik der Geschichte
werde die Utopie verwirklicht werden, wenn der schmerzhafte Prozeß der Industrialisierung
bis zum bitteren Ende durchgeführt sei". "Marx' Denken war, so gesehen,
im Ursprung bürgerliches Denken und zugleich seine überwindung: durch
eine Gesellschaftsordnung ohne Klassen und Herrschaft.
Vieles in diesem Denken, dem es um die auf die Zukunft bezogenen rationalen Ideale
eines anthropo-zentrischen Realismus ging, blieb undeutlich oder unausgesprochen,
wurde nicht in einen systematischen Zusammenhang gebracht, zeigte sich kontroverser
Ausdeutung zugänglich: vor allem das Verhältnis zwischen dem sozioökonomischen
Determinismus der Marxschen Geschichtsphilosophie und seinem ethisch motivierten
Aktivismus. So war es möglich, daß unter bestimmten historisch-politischen,
ökonomischen und psychologischen Bedingungen die dialektische Beziehung von
ökonomisch-determinierter Entwicklung und menschlichem - selbstbefrelendem
- Handeln sowie die durch einen permanenten dialektischen Prozeß vermittelte
Einheit von Theorie und Praxis zerfielen.
Im ökonomisch expandierenden hochindustriallsierten Deutschland z. B., an dessen
Fortschritten eine hochorganisierte Arbeiterklasse stetig teilhatte bzw. Teilhabe
kämpferisch auf dem Boden der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung erzwang,
wurde in der Arbeiterbewegung das objektive deterministisch-evolutionäre Moment
überbetont und das subjektive Moment der revolutionären Selbstbefreiung
zurückgedrängt: die Sozialdemokratie verstand sich als eine revolutionäre,
aber nicht Revolution machende Partei. Beschleunigt wurde diese Umdeutung des Marxschen
Denkansatzes durch die Rezeption der herrschenden bürgerlich-positivistischen
Naturwissenschaften (Darwin, Haeckel) schon durch Engels, um den eigenen Ideen eine
zusätzliche Durchschlagskraft zu verschaffen; daraus wurden auch noch nicht
einmal ansatzweise die ahumanen Konsequenzen des Sozialdarwinismus gezogen, der
in seinem Ursprung ein typisches Produkt bürgerlicher Selbstrechtfertigung
war.
Konfrontiert mit den Bedingungen des schwach industrialisierten Agrarstaates Rußland,
mit den Anfängen eines Proletariats, das sich schlecht und meist nur spontan
organisieren ließ, hat Marx' Schüler Lenin die Vollendung der Revolution
von ihren ökonomischen Bedingungen gelöst und das voluntaristische Moment
im Denken von Marx verabsolutiert: im unterentwickelten Rußland konnte nicht
auf das Heranreifen der ökonomischen Voraussetzungen des Sozialismus gewartet
werden; Lenin hat sie ersetzt durch die Schaffung der revolutionären Avantgarde
- "als Instrument der Machtergreifung und der nachträglichen Umgestaltung
der noch unreifen Gesellschaft": "insoweit hatte er schon begonnen, den
Marxismus auf den Kopf zu stellen."
Die Geschichte der Umdeutung Marxschen Denkens soll hier nicht weiterverfolgt werden
- sie ist ja nicht der eigentliche Gegenstand der hier geführten Auseinandersetzung.
Es sollte hier nur auf einige Ansatzmöglichkeiten zur kritischen Bestimmung
der Differenz heutigen linken oder sich als links verstehenden Denkens zu Marx hingewiesen
und zugleich auf die verzerrte Optik der Deutung von Ideen und Theorien, isoliert
von ihrem sozialen Kontext, aufmerksam gemacht werden; vor allem sollten die Ursprünge
linken Denkens herausgearbeitet werden, um die Unterschiede zu den Ursprüngen
des Nationalsozialismus manifest machen zu können.
Das rechte Denken ist gegen Aufklärung und Rationalität gerichtet; es
hat seine Wurzeln in der romantisch-konservativen Bewegung gegen die Französische
Revolution und in dem zwar von der Französischen Revolution ausgehenden, aber
in Deutschland schon im Ursprung mit anti-demokratischen Affekten verbundenen Nationalismus,
der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer mit sozialdarwinistischen Argumenten
angereicherten imperialistischen Machtpolltik verdichtete; es beruhte ursprünglich
auf dem anti-industriegesellschaftlichen, aber nicht antl-kapitalistischen und daher
überwiegend rassisch-antisemitisch begründeten Protest existentiell bedrohter
sozioökonomischer Zwischenschichten zwischen industriekapitalistischem Bürgertum
und Proletariat, und es wuchs auf dem Boden einer traditionell aristokratisch-autoritären
Struktur der gesellschaftlichen Organisation und ihrer politischen Institutionen.
Von solchen Einsichten in die Ursprünge rechten und linken Denkens her ist
wiederholt eindringlich, wenn auch häufig mit nicht vielsagenden bzw. -erklärenden
Formeln, auf die Unterschiede, besser: Gegensätze der Rechten und der Linken
aller Grade in der gegenwärtigen Situation eingegangen worden. Dabei läßt
es sich - nur scheinbar paradox - von einer bestimmten Gemeinsamkeit beider ausgehen:
Unter der Herrschaft der bürgerlichen Gesellschaft sammelten sich auf beiden
Seiten "die gesellschaftlich Unterlegenen, die Zukurzgekommenen und die Opfer
der kapitalistischen Produktionsweise",- insofern waren beide, Kommunismus
und Faschismus, Gegenbewegungen gegen die bürgerliche Gesellschaft und zugleich
ihre Produkte, aber beide begriffen sich gegenseitig immer als Todfeinde und haben
sich aufs Heftigste bekämpft. Denn während die einen für autoritär-hierarchische
Strukturen in Staat und Gesellschaft eintreten und dabei nur die demokratisch-parlamentarische
Fassade des Privateigentums bekämpfen (und nicht dieses selbst), plädieren
die anderen für demokratische Strukturen und für die Aufhebung der sozialen
und politischen Privilegien des Privateigentums selbst."
Rechte und Linke ließen sich danach historisch wie aktuell daran unterscheiden,
ob sie den trotz temporärer Rückschläge im Weltmaßstab fortschreitenden
Demokratisierungs- und Selbstbestimmungsprozeß fördern oder hemmen bzw.
revidieren.
Doch wird es sich empfehlen, bei der vertieften Analyse der Unterschiede bzw. Gegensätze
noch einen weiteren Aspekt zu beachten, der auf das Herrschaftssystem und seine
sozialen Funktionen differenziert eingeht: "Kommunisten und Faschisten forderten,
formten und stabilisierten Geselischaftssysteme, die sich diametral gegenüberstanden,
vor allem in ihrem bestimmenden Bereich, dem der ökonomischen Ordnung. Bei
ähnlicher Gewaltanwendung, Liquidation innerpartellicher Gegner und Verhinderung
jeglicher Opposition stehen irrationaler Führermythos und Rassenwahn einer
rationalen Parteitheorie gegenüber. Die gesellschaftliche Funktion der beiden
Parteien ist nicht zu vergleichen. Die Verbindung von Bourgeoisie, Kapital, Kleinbürgertum
und militärischer Ollgarchie, denen die Weimarer Demokratie als "wesentliche
Erfindung" fremd geblieben war, ermöglichte es der faschistischen Partei,
die Staatsgewalt zu einem systematischen Terror nach innen und zu den Weltkrieg
auslösenden Aggressionen auszunutzen. In der Sowjetunion förderte die
kommunistische Partei bei allem Terror unter Stalin und aller durch staatliche Akkumulation
notwendiger wirtschaftlicher Einschränkung der Massen die Emanzipation der
Unterschichten und bestimmte die Entwicklung des Landes vom analphabetischen Agrarstaat
zur modernen Industrienation".
Von hier aus kann man zu weiteren noch grundsätzlicheren Differenzierungen
vorstoßen, wie sie Martin Greiffenhagen versucht hat: Der faschistische Führer-
und Rassestaat wollte Herrschaft auf Dauer stellen, seine soziale Basis und seine
ideologischen Bezüge machten ihn unfähig zu einem Umbau der Gesellschaft
im Sinne der Entfaltung der Elemente demokratischer Selbstverwaltung: der Nationalsozialismus
wäre demnach "eher innerhalb einer Theorie autoritärer Regime abzuhandeln".
Der Begriff des Totalitarismus wäre dann nur noch nach links verwendbar; in
ihn mit aufgenommen werden müßte dann das historisch belegbare Verständnis,
daß dieser Totalitarismus so- wohl auf (in einem sehr weiten Sinne) demokratische
Legitimlerung angewiesen, als auch "im Unterschied zu anderen Diktaturen seinem
Wesen nach auf Selbstauflösung gerichtet" ist."
Die Verwendung des Totalitarismus-Begriffs in einem totalen, rechts und links umfassenden
Sinne wäre damit obsolet geworden. Auch die, die vorschlagen, ihn trotz mancher
Bedenken in diesem weiten Sinne weiterzuverwenden, grenzen zugleich seinen Wirkungsbereich
ein; so will z. B. Karl Dietrich Bracher das Totalitarismus-Konzept benutzen zur
Erhellung der Strukturprinziplen im Herrschaftsgefüge und in der Herrschaftstechnik
sowohl rechter wie linker Diktaturen im Unterschied zum politischen Prozeß
in pluralistisch verfaßten Mehrparteiendemokratien; Klaus Hildebrand hält
ihn noch als operationales Instrument für eine gesamtgesellschaftlich orientierte
Analyse verwendbar, die auf die Feststellung der Totalitätsgrade hochindustrialisierter
Gesellschaften in Ost und West hinaus will.
Doch stellt sich die Frage, von welchem Operationszentrum aus solche Untersuchungen
anzusetzen wären, nachdem die geläufige Konfrontation von Demokratie und
Totalitarismus keine unterscheidenden Kriterien mehr erbringt. Sollte man deshalb
nicht besser von der Antizipation von Demokratie ausgehen, gewonnen aus der Beobachtung
des historischen Demokratisierungsprozesses und aus der Analyse gegenwärtiger
als Weiterführung dieses Prozesses deutbarer Trends, um von hier aus zu versuchen,
zu unterscheidenden Bestimmungen dessen zu gelangen, was noch, was nicht-, was antl-demokratisch
ist. Dabei sollten vordringlich die Übereinstimmungen bzw. Unterschiede in
der Situation derer, die beherrscht werden (z. B. mit der Frage nach den Bedingungen
und Formen des Widerstandes und der Anpassung) oder anders gesagt: der Grad der
individuellen und sozialen Emanzipation in den Blick genommen werden. Es wäre
dann eine sekundäre Frage, ob man sich weiter der alten Begrifflichkeit bedient
oder neue Wirklichkeit auf neue Begriffe bringt.
Abschließende kritische Bemerkungen zum Anspruch der Mitte
Bisher stand die Frage nach den Motivationen, Zielsetzungen und Ursprüngen
der rechten und der linken Demokratie-Kritik im Mittelpunkt der Untersuchung: es
sollten Unterscheidungskriterien ermittelt werden, um die gängige Gleichung:
links = rechts, auch: rechts = links als falsch zu identifizieren. Unbeantwortet
ist bis jetzt die Frage nach den Motiven und Zielsetzungen derjenigen geblieben,
die diese Gleichung aufgestellt haben bzw. für ihre Argumentation verwenden.
Dazu bedarf es zunächst der Orientierung darüber, wie es ursprünglich
zu dieser Identifizierung gekommen ist.
Der Begriff des Totalitarismus ist bereits bei seiner Entstehung Ende der 20er Jahre
zur Ermittlung von Obereinstimmungen zwischen Faschismus und Bolschewismus im Unterschied
und Gegensatz zur liberalen Staats- und Gesellschaftsordnung verwendet worden. Wissenschaftlich
ausgearbeitet wurde er jedoch erst Anfang der 40er Jahre zur Beschreibung des Nationalsozialismus
benutzt. Auch dabei lag ihm das liberal-demokratische Gegenmodell zugrunde; ein
polemischer Grundzug war dem Totalitarismus-Begriff gewissermaßen als Konstitutionsbedingung
von Anfang an zu eigen, In der Nachkriegszeit wurde dann die Lehre vom Totalitarismus,
die mit dem Nationalsozialismus zugleich den Bolschewismus treffen will, Ausdruck
eines Bündnisses zwischen der konservativen und der liberalen Theorie über
die Entstehung des Nationalsozialismus. Ernst Nolte hat als erster darauf hingewiesen,
daß diese Lehre mit dieser Intention "aufs genaueste der Realität
und den Bedürfnissen der Nachkriegsperlode" entsprach. Die konservative
Theorie über den Nationalsozialismus hatte dessen Ursprünge auf den Liberalismus
zurückgeführt, ihn als Konsequenz des Säkularisierungsprozesses seit
der Aufklärung, als Weiterentwicklung des Liberalismus hin zum demokratisch-plebejischen
Radikalismus gedeutet; die liberale Theorie sah im Nationalsozialismus das Ergebnis
einer vielhundertjährigen spezifisch deutschen konservativ-autoritären
Entwicklung. Wäre diese Diskrepanz unaufgelöst geblieben, wäre, wie
es zunächst schien, die konservative Variante der Genesis des Nationalsozialismus
im Nachkriegsdeutschland die vorherrschende geworden, hätte sie - nach Nolte
- "einen geistigen Keil in der westlichen Allianz" dargestellt.
Die Nationalsozialismus und Bolschewismus umgreifende Lehre vorn Totalitarismus
ermöglichte nun, die spezifisch deutschen Züge des Nationalsozialismus
in der Nacht, in der alle Katzen grau sind, verschwinden zu lassen, der Anteil der
Konservativen am Nationalsozialismus blieb im Verborgenen, vielmehr konnten durch
den Nationalsozialismus angeschlagene Positionen, als im Kampf gegen den Totalitarismus
bewährt, aufgewertet' und das liberal-demokratische Gegenmodell gegen beide
Ausprägungen des Totalitarismus zum consensus omnium gemacht werden.
Inzwischen hat die Totalitarismus-Perspektive eine Erweiterung erfahren, die der
Bewußtseinslage derer entspricht, die subjektiv ihr Demokratie-Verständnis
von zwei Seiten bedroht sehen und die objektiv den Konservatismus eines Status quo
verteidigen, mit dem sich kaum jemand mehr identifizieren will. In dieser Situation
bietet die Gleichsetzung von rechts und links als anti-demokratisch die Möglichkeit
zu einem Konsensus zwischen denen, die schon immer gegen rechts waren und nun auch
gegen links sind, und jenen, die schon immer gegen links waren und nun mit der Bereitschaft,
auch gegen rechts zu sein, die moralische Position gewinnen wollen, gegen Linke
vorgehen zu können.
Wenn man mittels der Gleichung links = rechts, rechts = links beweisen kann, daß
rechte und linke Positionen gegen die pluralistische Demokratie und für eine
totalitäre Diktatur sind, hat man die Handhabe, jede Kritik am Bestehenden
unter Totalitarismus-Verdacht zu stellen: Totalitäre sind dann jeweils die,
die das Bestehende in Frage stellen. Das aber sind - die eigentliche Zielrichtung
des Totalitarismus-Verrufs zeichnet sich ab - in Deutschland traditionell immer
die Linken gewesen. Diese Konsequenz ist jedenfalls einem Denken, das auf die Identifikation
von rechts und links ausgeht, immanent.
Wenn rechts und links in ihrer äußersten Konsequenz auf Diktatur hinauslaufen,
dann entlastet man sich von einer differenzierten Auseinandersetzung mit beiden,
vor allem aber braucht man die Herausforderung der Linken nicht anzunehmen und die
eigene Position unverändert als gemäßigt-fortschrittlich nur zu
deklarieren, nicht aber auch inhaltlich auszuweisen. Im äußersten Falle
mag sogar die Gleichsetzung von rechts und links der verschleiernden Rechtfertigung
des eigenen Angebotes von autoritär-oligarchischer Herrschaft dienen.
Wer den Totalitarismus-Verdacht als Bremse gegen die Weiterführung des Demokratisierungsprozesses
benutzen will, wer deshalb z. B. das beim Worte genommene und aktualisierte klassische
Gleichheitspostulat der Demokratie als totalitären Anspruch auf Gleichmacherei
abweist, kann sich der Anstrengung entziehen, darüber nachzudenken, daß
Demokratie keine Ansammlung unabänderlicher Prinzipien ist, sondern eine je
wieder mit neuen Inhalten zu erfüllende historische Kategorie.
Wer Demokratie mit Hilfe der falschen Gleichung links = rechts, rechts = links,
festgekrallt am Status quo, derart begrenzt, wird bestenfalls bereit sein, das als
veränderungsbedürftig zuzugestehen, was im Rahmen zweckmäßiger
Argumentation zugestanden werden muß; er wird jedoch Fragen als irrelevant
zurückweisen, die über das, was ist, Zukunft vorwegnehmend, hinausweisen,
Fragen z. B. wie: "Wo werden die Bedingungen geschaffen, in denen der Mensch
in immer größerem Maße ein freies, schöpferisches, gesellschaftliches,
rationales Wesen wird?" - "Wo gibt es die Vermittlung von Anleitungen
für eine Humanisierung des Lebens, die Bereitstellung von Hdfsmitteln für
die Selbstverwirklichung in einer verwalteten Umwelt?" Wo wird daran gedacht,
"daß die Möglichkeiten der Beteiligung der Produzierenden an den
Ergebnissen der Produktion (Gewinnbeteiligung) sowie an der Gestaltung der Zielsetzungen
und der Produktionsbedin2unEen noch lange nicht ausgeschöpft sind, daß
sie vielmehr gerade bei fortschreitender Technologie in wachsendem Maße wahrgenommen
werden müssen, um nicht den Menschen den technischen Verhältnissen zu
opfern".
Solche Fragen werden von den Konservativen des Status quo meist allzu rasch als
falsches Heil verheißende Utopien verworfen; die Kritik beißt sich dabel
oft an Zerrformen linken Denkens fest; die links-immanente Kritik wird nicht registriert;
als totalitär wird deklariert, was aus anderer Perspektive als notwendige,
besser: selbstverständliche Kommunikations- und Kooperationsformen der fortgeschrittenen
Industriegesellschaft zu betrachten wäre. Es läßt sich freilich
rasch als Unfug deklarieren, als "Demokratismus" abqualifizieren, wenn
in der Familie, in der Schule, an der Universität, im Betrieb usw. emanzipatorisch
sich auswirkende Mitbestimmung der prinzipiell Gleichen und damit Freien gefordert
wird. Wie denn, so wird gefragt, da doch jeder Sozialtatbestand "eingebunden
(ist) in die unabänderliche Folge des Lebens: Geburt, Kindheit, Jugend, Reife,
Alter, Tod"; da doch "alle Sozialtatbestände und ihre Institutionen:
Schule, Universitäten, die Arbeitswelt und schließlich, im Grunde natürlich
zuerst zu nennen, die Familie ... Initiationsgebilde, die in sich Ungleiche und,
so jedenfalls die Familie, auch Unfreie vereinigen", sind', kurz: es "lassen
sich nicht alle Bereiche enthierarchisieren".
Das klingt gewiß plausibel, aber es wurde dabei vergessen mitzudenken, daß
die Forderung nach "Demokratie als Lebensform", die das gesamte gesellschaftliche
Leben umfassen soll, zunächst nicht mehr meinen kann als die Vorwegnahme, besser:
das Vorwegdenken der möglichen Mündigkeit eines 'eden Menschen: "Emanzipation
ist denkbar geworden, doch überall herrschen noch Zwänge vor".'So
gewiß dies ist, so gewiß können individuelle Autonomie und gesellschaftliche
Mitbestimmung als Auflösung rational nicht mehr legitimierbarer Zwänge
und Herrschaftsformen nicht durch voluntaristische Akte verwirklicht werden, sondern
nur durch einen langen Prozeß zunehmender Teilhabe an Rationalität und
wachsender Einübung von Selbststeuerung. Demokratisierung von Teilbereichen
der Gesellschaft in diesem Sinne verstanden, hat nur wenig, möglicherweise
gar nichts mit einer "Parlamentarisierung" dieser Bereiche zu tun; dies
wird fälschlich immer wieder von denen unterstellt, die Demokratie nur in ihrer
repräsentativen-parlamentarischen Version annehmen wollen. Es geht vielmehr
darum, "jeweils genuine Formen von Demokratie im Sinne von Mitwirkungschancen
und Mitberatungselementen für die einzelnen Tellbereiche zu finden, die nicht
von vornherein auf Parlamentarisierung hinauslaufen müssen, ja sogar nicht
hinauslaufen dürfen".
Wer dies, so problematisch es noch immer sein mag, nicht mit bedenkt, hat seine
Lösung schnell parat: Demokratie wird ausschließlich als politische Organisationsform
verstanden, deren Grundsätze für den polltischen Bereich der Gesellschaft
und ihre Organe (wie z. B. die Parteien, das Parlament) unbedingte Geltung beanspruchen
dürften, während für die nicht-politischen Bereiche jeweils die Organisationsformen
Anwendung finden müßten, welche die erstrebten Werte am besten verwirklichen
könnten. Alle anderen weiterreichenden Ansprüche auf Demokratisierung
in dem Sinne von Minimalisierung von Herrschaft und tendenzieller Herstellung von
Gleichheit, ein Verständnis der Demokratie als "ein Prinzip, das alles
gesellschaftliche Sein des Menschen beeinflussen und durchdringen muß",
werden als der "Unterscheidung von Politischem und Nichtpolltischem",
durch die die abendländische Sozialordnung seit der Antike bis in unsere Zeit
hinein bestimmt wird, entgegengesetzt und als potentiell totalitär verworfen.
Viele, die sich selbst als "gemäßigte Mitte" begreifen, werden
die vorausgegangene Ausdeutung ihrer Motivationen für ihr Beharren auf der
von der Totalitarismus-These inspirierten falschen Gleichung als Unterstellung zurückweisen;
sie mögen mit dieser Zurückweisung subjektiv durchaus im Recht sein. Doch
ist ja Ideologie-Kritik, wie sie hier geübt worden ist, nicht so sehr auf denjenigen
fixiert, der eine bestimmte Meinung hat oder äußert, sondern sie will
über die gesellschaftliche Funktion des in einer Aussage zum Ausdruck kommenden
Engagements und über die Konsequenzen eines solchen Engagements aufklären.
Objektiv ist die Situation der "gemäßigten Mitte" gegenwärtig
dadurch charakterisiert, daß sie nicht bloß von rechts bzw. von links
sich bedroht fühlen muß, sondern, daß sie von rechts und links
überholt, obsolet wird. Rechts: das wird kein, worauf die publizistischen Vertreter
der "gemäßigten Mitte" sich fälschlich fixieren, Faschismus
im historisch verifizierbaren Sinne sein, denn die eigentliche Rechte von heute,
der technokratische Konservatismus, der seine Motivationen von links nimmt, seine
Lösungen aber rechts sucht, meint des Faschismus nicht mehr zu bedürfen;
links aber, das wird nicht heißen, worauf wiederum die "gemäßigte
Mitte. fixiert ist, verbürokratisierter, in traditionelles Machtstaatsdenken
des 19.Jahrhunderts zurückgefallener Kommunismus oder sein anarchistischer
Gegenentwurf, sondern das wird heißen "partizipative Demokratie".
In dieser Situation bedarf es der Erinnerung daran, daß historisch der Totalitarismus
immer auch der "Mitte" als Gefahr immanent gewesen ist. Hannah Arendt,
die mit ihrem Buch über "Elemente und Ursprünge totalitärer
Herrschaft- wesentliches zur Fundierung der falschen Gleichung "links = rechts,
rechts = links- beigetragen hat, hat selbst darauf hingewiesen: "Die Bourgeoisie,
die die politische Macht durch ökonomische Erpressung politischer Institutionen
zu erwerben pflegte, war immer der Meinung gewesen, daß die öffentlichen
und sichtbaren Träger der Macht im Staat in Wahrheit abhingen und geleitet
wurden von ihren eigenen nicht-öffentlichen Klasseninteressen und persönlicher
Beeinflussung. Die politischen Überzeugungen der Bourgeoisie waren in diesem
Sinne immer totalitär gewesen, das heißt, sie hatten die Identität
von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vorausgesetzt, wobei die politisch-staatlichen
Institutionen als bloße Fassade angesehen wurden." Totalitarismus also
als mögliche Praxis bürgerlicher Herrschaft.
Immer dann, wenn die gesellschaftlichen Positionen der Mitte bedroht waren - das
deutsche Beispiel zeigt es unzweifelhaft - optierte die Mitte für rechts. Diese
Einsicht in die historische Dialektik des Totalitarismus würde es wohl erlauben,
den Vorwurf des Totalitarismus auf die zurückzuwenden, die ihn dauernd rasch
und leichtfertig aussprechen; und sie könnte weiter dazu auffordern,dieBedrohungssituationderMitte
konkretund im einzelnen zu beschreiben: Ist es etwa nicht beachtenswert, daß
die, die heute die Identifikation von rechts und links betreiben, vor einiger Zeit
noch behauptet haben, die Begriffe "rechts" und "links" seien
überholt für die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft", für
die klassenlose, entproletarisierte Eigentümergesellschaft überflüssig
geworden? Ist es etwa ohne Bedeutung, daß auf dem Wege zur "vaterlosen
Gesellschaft" die Krise und der Zerfall von Autorität auf beiden Seiten
der Generationen Spannungen frei setzt, aber auch Aggressivität wie Angst -
hier vor ungewollter, dort vor erstrebter Autonomie - produziert werden: deshalb
hier die Regredierung auf vorindustrielle Verbaltensmuster, dort die Sehnsucht nach
der Hingabe an das soziale Kollektiv. Dies mag überall in den hochindustrialisierten
Gesell schaften so sein: aber wird nicht bei uns der Weg zur "vaterlosen Gesellschaft"
durch die historisch tief verankerte Tradition des Autoritarismus spezifisch belastet?
Wir verfolgen diese Ansätze, die Bedingungen für eine mögliche Option
der Mitte für rechts aufzuzeigen, nicht weiter; dies bedürfte umfassenderer
Informationen, als sie in den Rahmen dieser abschließenden Bemerkungen einzubringen
wären. Hier sollte nur auf eine bestimmte Konsequenz aufmerksam gemacht werden:
daß die, die eine Position der Mitte beziehen, Gefahr laufen, mit dem, was
ist, schließlich das zu verteidigen, was sie eigentlich auch zu bekämpfen
versprechen.
Auszug aus: Helga Grebing Linksradikalismus gleich Rechtsradikalismus. Eine falsche
Gleichung
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt