Ernest Gellner
Nationalismus und Politik in Osteuropa (1)
Der Nationalismus in Oosteuropa hat seit 1915 fünf Stufen durchlaufen:
Stufe 1
Zur Zeit des Wiener Kongresses von 1815 war ganz Osteuropa unter drei Imperien aufgeteilt.
Davor vorhandene Kleinstaaten, Überlebende der mittelalterlichen Zersplitterung,
wurden von den drei großen politischen Einheiten aufgesogen. Das Leben der
Hersteller politischer Landkarten wurde auf großartige Weise vereinfacht:
In Zukunft sollten sie nur noch drei Farben brauchen, um ihre Aufgabe zu erledigen.
Die drei Iniperien waren dem nationalen Prinzip gegenüber weitgehend gleichgültig.
Jedes von ihnen beruhte auf einer Dynastie und der Identifikation mit einer Religion:
dem sunnitischen Islam, dem gegenreformatorischen Katholizismus und dem orthodoxen
Christentum. Glaube und Dynastie wurden für natürliche, angemessene und
geeignete Grundlagen der politischen Ordnung gehalten. Jedes der drei Reiche war
ethnisch vielgestaltig, aber keines hielt dies für ein Hindernis der politischen
Lebensfähigkeit. Viele der kulturell und sprachlich unterschiedlichen proto-ethnischen
Gruppen waren sich als solche ihrer selbst kaum bewußt. Wenn etwa jemand in
Sarajewo als "Türke" bezeichnet wurde, hieß dies nicht, daß
er türkisch sprach oder auch nur eine türkische Sprache kannte oder daß
seine Vorfahren über Anatolien aus Zentralasien gekommen waren; es hieß
einfach, daß er Muslim war und dies war vollständig damit vereinbar,
daß er slawisch sprach und einheimischer Abstammung war. Heute dagegen nennt
sich eine reale ethnische Gruppe, die durch einen gemeinsamen slawisch-muslimischen
Hintergrund bestimmt ist (aber nicht mehr durch einen richtiggehenden Glauben),
muslimisch, und sie hat die Anerkennung dieses Ausdrucks als akzeptable Kategorie
für offizielle Zwecke wie die Volkszählung durchgesetzt. Genau wie ein
Gentleman kein Mann war, der Griechisch und Latein konnte, sondern der diese Sprachen
wenigstens vergessen hatte, ist ein "Muslim" kein Mensch mehr, der glaubt,
daß es nur den einen Gott gibt und Mohammed sein Prophet ist, sondern einer,
der diesen Glauben wenigstens verloren hat. Die Ironie besteht darin, daß
in Zeiten, als die Religion gesellschaftlich wirklich eine Rolle spielte, ein ethnischer
Begriff zur Bestimmung der Gemeinschaft der Gläubigen gebraucht wurde; heute,
da die ethnische Zugehörigkeit eine Rolle spielt, ist es ein religiöser
Begriff, der zur Bestimmung einer ethnischen Gemeinschaft dient.
Viele der Gruppen hatten eine Basis in der gesellschaftlichen Struktur, weniger
im Territorium: sie waren mit einer bestimmten gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen
Funktion verknüpft und nicht mit einem Stück Land. Jene kulturellen Gruppen,
die mit dem Land verbunden waren, waren dies in der Form eines unglaublich komplexen
Flickwerks, nicht in hübsch kompakten Blöcken. Wichtig dabei ist, daß,
als die Herren Europas sich 1815 in Wien versammelten und den politischen Boden
in völliger Mißachtung der ethnischen Dimension aufteilten, dies für
völlig normal gehalten wurde. Keine Welle des Protests überschwemmte Europa.
Das heilige Recht der Ruritanier(2) auf Selbstbestimmiing,
auf eigene kulturelle Heimat und ein politisches Dach wurde ignoriert, ohne daß
sich die Ruritanier oder irgendjemqnd anderes nennenswert oder überhaupt darüber
aufregten. Die meisten Ruritanier nahmen davon kaum Notiz und waren sich kaum bewußt,
Ruritanier zu sein.
Stufe 2
Bald sollte sich all dies ändern. Das 19. Jahrhundert wurde schnell zu einem
Jahrhundert des nationalistischen Irredentismus. Das nationalistische Prinzip, das
die Nation als legitime Grundlage des Staates verkündete, bekam immer leidenschaftlichere
und engagiertere Anhänger. In Osteuropa waren die Magyaren mehr oder weniger
erfolgreich, die Polen nicht; verschiedene ethnische Gruppen des Balkans zogen Nutzen
aus den Schwächen des Ottomanischen Reiches und sicherten sich in unterschied-
lichen Graden die Unabhängigkeit; in Mitteleuropa gelang den Italienern und
den Deutschen die Einigung.
Warum dieser Stimmungsumschwung? Warum verlor im Verlauf eines Jahrhunderts etwas,
das 1815 akzeptabel und sogar natürlich schien, seine Legitimität? Vom
nationalistischen Gesichtspunkt aus ist die Antwort einfach: Die Nationen waren
nicht tot gewesen, sondern hatten nur geschlafen. Dank muß engagierten Erweckern
abgestattet werden, den Intellektuellen, die eifrig bemüht waren, einstigen
politischen und kulturellen Ruhm wiederzubeleben oder, im andern Fall, die Sprachen
und Kulturen "unhistorischer" Nationen zu kodifizieren, die sich zuvor
keiner Staats- oder Hofliteratur gerühmt hatten. Letztere mochten zwar in der
Vergangenheit keine Ruhmestaten aufzuweisen haben, aber die Erwecker waren bereit,
solche zu erfinden oder nach neuen zu streben. Die Erwecker arbeiteten hart, und
ihre schlafenden Schönheiten, die Nationen, antworteten schließlich leidenschaftlich
auf ihre Küsse. Endlich hellwach, klagten sie ihre nun als legitim erkannten
Rechte ein. Im Lichte der Hegelschen Feststellung, daß Nationen nur in die
Geschichte eintreten, wenn sie ihren eigenen Staat erlangen, beharrten sie darauf,
sich einen Platz auf der historischen Bühne zu sichern. Wenn er ihnen verwehrt
wurde - und natürlich traten die alten Machthaber nicht einfach auf Verlangen
ab - griffen sie oft zum Gewehr.
Jene, die keine Sympathien für die neue nationalistische Politik haben, akzeptieren
häufig deren Selbstbild und kehren nur die Bewertung um, ohne das Bild zu verändern.
Die meistverbreitete Theorie des Nationalismus ist, wie ich vermute, jene, die ihn
nicht nur für eine Wiederbelebung von Kulturen hält, sondern für
die Neubelebung atavistischer Blut-und-Boden- Instinkte im Gemüt des Menschen.
Immer unterschwellig vorhanden, aber durch religiösen Glauben und andere Faktoren
im Zaum gehalten, ermöglichte es die Lockerung von Fesseln dem kaum gezähmten
Monster, wieder aufzutauchen. Die aufklärerischen Ideale der Vernunft und Brüderlichkeit
oder die bloß oberflächlichen, instrumentellen Bindungen einer Markt-Gesellschaft
waren zu abstrakt, zu blutleer, zu wenig im Stammhirn verankert, um den libidinösen
und aufrührerischen dunklen Göttern standhalten zu können. Ein großer
Teil der romantischen Literatur des 19. Jahrhunderts gab einem solchen Menschenbild
sehr viel Nahrung und hieß damit gewissermaßen seine politischen Schlußfolgerungen
gut. Eine weitere Bestätigung liefert der Darwinismus, der schließlich
lehrt, daß der Mensch ein Tier ist. Daraus schien zu folgen, daß vom
Menschen kein allzu hoher und vor allem rationaler Standard des politischen Verhaltens
zu erwarten sei. Realistische Politik muß sich ihrer Klientel anpassen, und
wenn die Gesellschaft eine Herde ist, sollten wir ihre Autoritätsstruktur wie
ihren Symbolismus dieser Tatsache anpassen.
Andere Kritiker des Nationalismus (etwa Elie Kedourie) machten sich eine andere
Sichtweise zu eigen: Der Nationalismus wurde durch die europäische Ideologie
aufgebracht, die bis dahin völlig gesunde politische Systeme pervertierte.
Marxisten gaben wieder eine andere Erklärung. Der Nationalismus sei eine schlaue,
oft bewußte Ablenkung der Bevölkerungen vom wirklich grundlegenden Klassenkonflikt,
eine Verwirrung im Interesse der herrschenden Klassen, die so viel vom Klassenbewußtsein
zu befürchten und viel von der Ermutigung eines aufgesetzten Nationalbewußtseins
zu gewinnen hatten.
Keine dieser Theorien scheint mir im entferntesten annehmbar zu sein. Der Mensch
des 19. und 20. Jahrhunderts ist für den Ruf des Blutes nicht anfäIliger
als sein Vorgänger: Besser ernährt, bequemer, vorsichtiger und friedlicher
im alltäglichen Leben (das er im Büro oder an den Schalthebeln einer Maschine
verbringt, nicht im Kampf mit der Natur), neigt er vielleicht sogar weniger zum
Atavismus als sein schlechter gebildeter, weniger urbanisierter und domestizierter
Großvater. Was die Ideologie anbelangt, zweifle ich sehr daran, daß
sie für sich allein die Macht hat, das politische und moralische Klima zu verändern.
Und es ist sehr schwierig, den hartnäckigen und wiederholten Sieg des Nationalbewußtseins
über das Klassenbewußtsein einfach als Folge der erstaunlichen Klugheit
der Herrschenden zu erklären. Sie zeigen ansonsten keine so verblüffende
Kontrolle über das menschliche Material, das sie beherrschen.
Was dann? Die Anziehungskraft des nationalistischen Prinzips - Eine Kultur - Eine
Nation - scheint mir eine unausweichliche Folge der neuen sozio-ökonomischen
Ordnung zu sein, die der Industrialismus, ja selbst der Schatten den er vorauswarf,
mit sich brachte. Die Agrargesellschaft hat eine komplizierte und recht stabile
Struktur, und die Kultur - Sprachstile, Kleidung, Konsumformen, Rituale usw. - ist
überhaupt kein geeignetes politisches Prinzip für sie. Ihre charakteristischen
politischen Einheiten sind entweder lokale Gemeinschaften, die selten die Kultur,
die sie gebrauchen, ganz ausschöpfen (sie teilen sie im allgemeinen mit anderen,
ähnlichen Gemeinschaften), oder Imperien, die weit über die Grenzen einer
bestimmten Kultur hinausreichen. Erstere haben weder die Neigung noch die Mittel,
die Grenzen ihrer Kultur zu erweitern; letztere haben keinen Beweggrund, innerhalb
dieser Grenmn zu verbleiben (sie sind am Surplus und am Gehorsam ihrer Untertanen
interessiert, nicht an ihrer Folklore).
All dies ändert sich mit der Moderne und dem Industrialismus. Eine recht stabile
aber komplizierte Gesellschaftsstruktur wird durch eine mobile, anonyme Massengesellschaft
ersetzt. In ihr hört die Arbeit auf körperlich zu sein und wird semantisch:
"Arbeit" wird zur Manipulation von Leuten und Nachrichten, nicht von Dingen.
Arbeit setzt nun die Fähigkeit voraus, auf kontextfreie Weise mit anonymen
Fremden zu kommunizieren. Daher setzt sie formale Bildung voraus, die allein Lesen
und Schreiben und andere erforderliche Fertigkeiten gewährt. Auch werden Leben
und Arbeit zu einer langen Reihe von Begegnungen mit allesdurchdringenden ökonomischen
und politischen Bürokratien. Politische Teilhabe, effektive Staatsbürgerschaft,
Beschäftigungsfähigkeit und Würde hängen sämtlich von der
Beherrschung der schriftlichen Hochkultur ab, die auch das gewählte Idiom der
politischen Einheit ist, in der man lebt. Um diese vollständige Staatsbürgerschaft
zu erreichen, muß man sich entweder an die herrschende Hochkultur assimilieren
oder die politischen Grenzen so verändern, daß die eigene Kultur in der
sich neu bildenden Einheit bestimmend ist.
Europäer des 19. und 20. Jahrhunderts haben beide Strategien eingesetzt, manchmal
eine nach der anderen. Zu beachten ist, daß die Industriegesellschaft die
erste Gesellschaft ist, in der eine formalisierte, kodifizierte, erziehungsvermittelte,
kontextfreie Kultur nicht mehr das Privileg und die Leistung einer Minderheit von
Schriftkundigen, sondern zum durchgängigen Stil einer ganzen Gesellschaft wird.
Dies, und nicht Atavismus oder die Klugheit von Ideologien oder Herrschenden, ist
das Geheimnis der neuen Kraft des Nationalismus. Die Hochkultur ist wichtig, entscheidend
wichtig für alle. Wirkliche Staatsbürgerschaft hängt nicht mehr vom
Zugang zu den Riten der Stadt oder ihrer Untereinheiten ab, sondern von der Beherrschung
der eine Ethnie bestimmenden Hochkultur (d.h. einer kodifizierten, verschriftlichten
und erziehungsvermittelten Kultur), und von der Frage, ob man von dieser Kultur
angesichts des von ihr vorausgesetzten und durchgesetzten Mitgliedstypus akzeptiert
wird.
Stufe 3
Mit dem Jahr 1918 triumphierte der Nationalismus. Die drei religiösen Imperien,
die 1815 Osteuropa unter sich aufgeteilt hatten, lagen im Staub. Eines von ihnen,
das zaristische, hat sich zugegebenerniaßen kurz danach unter neuer politischer
und ideologischer Führung erholt, aber lassen wir für einen Moment diese
atypische Entwicklungslinie beiseite. Auf dem Territorium der anderen beiden ehemaligen
Imperien trug der Nationalismus den Sieg davon, wenn dieser auch in gewisser Hinsicht
ein Pyrrhussieg war. Die neuen Einheiten beanspruchten die Nation als Legitimationsprinzip,
waren jedoch wie ihre imperialen Vorgänger durch ethnische Vielfalt und daher
durch Konflikte geplagt. Diese Lage wurde durch die Komplexität der ethnischen
Landkarte bestimmt. In mancher Hinsicht war das Schicksal der Nachfolgestaaten schlimmer:
sie waren kleiner und daher schwächer, und zu ihren Minderheiten gehörten
viele Mitglieder der ehemals herrschenden kulturellen Gruppen, die Menschen, die
die Sprache des einstigen imperialen Zentrums sprachen und mehr oder weniger dessen
Kultur gemeinsam hatten. Diese Gruppen fühlten sich in ihrer neuen, abgewerteten
Stellung nicht wohl und konnten auf die Unterstützung ihrer sprachlichen oder
kulturellen Verwandten jenseits der Grenze.
Die Mischung aus Schwäche, Fragmentierung und ethnischen Spannungen tat ihre
zerstörerische Wirkung. Die Nachfolgestaaten fielen wie die Kegel an Hitler.
Einige wehrten sich, einige wehrten sich oberflächlich und andere wehrten sich
Oberhaupt nicht. Das machte, was die Geschwindigkeit ihrer Unterwerfung anging,
relativ wenig Unterschied.
Stufe 4
Während der vierziger Jahre wurde die ethnische Komplexität Osteuropas
vielerorts erneut beträchtlich vereinfacht, zuerst durch Hitler und dann durch
Stalin Die Methode der friedlichen Assimilierung hatte in der Vergangenheit etwas
zur ethnischen Homogenisierung beigetragen, sie wurde nun aber ergänzt durch
brutalere Methoden, vor allem durch Genozid und durch die Zwangsumsiedlung von Bevölkerungen.
Es hatte in dieser Hinsicht einige frühere Experimente gegeben, vor allem beim
Völkermord an den Armeniern und beim griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch
nach dem Krieg zu Beginn der zwanziger Jahre, aber die vierziger Jahre waren die
Zeit des ethnischen Massenmords und der Vertreibung schlechthin. In der Folge wurden
einige ehemals plurale Gesellschaften unvergleichlich viel homogener: Polen, die
tschechischen Länder und Belorussland. Andere zogen nicht so viel "Nutzen"
aus den Verbrechen Hitlers und Stalins, und die ethnischen Spannungen schwelten
weiter.
Stufe 5
Stufe 5 ist, was Osteuropa anbelangt, kein historisches Faktum. Sie ist eher eine
Art vage Hoffhung, ein Wunsch, obwohl es einige Gründe gibt, zumindest an ihre
Möglichkeit zu glauben, sowohl aus empirischen als auch theoretischen Erwägungen.
Stufe 5, falls sie eintritt oder mancherorts sich schon bemerkbar macht, hat einige
angenehme Merkmale. Sie ist durch einen größeren und besser verteilten
Reichtum des späten Industrialismus geprägt. Das heißt, daß
die Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen kulturellen Gruppen nicht so sehr
durch Neid und die Demütigung der Armut verschärft werden, die offensichtlich
und bewußt mit dem ethnischen Status verbunden ist und als "Rückständigkeit"
behandelt wird. Der fortgeschrittenere Industrialismus verändert auch wirksamer
die beruflichen Strukturen und standardisiert die Kultur, so daß deren Differenzen
zumindest in gewissem Maß nur noch phonetischer und nicht mehr semantischer
Natur sind: Sie handeln ähnlich und haben ähnliche Begriffe, selbst wenn
sie verschiedene Worte benutzen. Die These der Standardisierung industrieller Kulturen
ist bei weitem nicht voll untermauert und in vieler Hinsicht fraglich (wenn man
etwa die Industrieländer des Fernen Ostens betrachtet). Dennoch, wenn es um
Gesellschaften geht, die zu einem gewissen Grad einen gemeinsamen Hintergrund haben
und lange benachbart sind, spricht einiges für die These. Ökonomische
und kulturelle Konvergenzen verringern gemeinsam die ethnischen Feindseligkeiten:
Der Mensch der späten Industriegesellschaft findet seine Identität wie
sein unmittelbarer Vorgänger, der Mensch der frühen Industriegesellschaft,
immer noch am ehesten in einer Schriftkultur als in etwas anderem, aber seine Schriftkultur
unterscheidet sich nicht mehr so sehr von der seines Nachbarn. Vor allem gilt, daß
bei allen immer noch vorhandenen kulturellen Differenzen diese nicht mehr so sehr
durch die Tatsache verschärft werden, daß die Menschen diesseits und
jenseits der kulturellen Grenzen sich womöglich an ganz verschiedenen Punkten
des Einführungsprozesses der industriellen Zivilisation befinden. (Dieses Phänomen
findet sich immer noch in der Beziehung zwischen einer fortgeschrittenen Gastkultur
und Gastarbeitern und verschärft oder verursacht natürlich die Spannungen
zwischen den Gastgebern und den Migranten). Diese relativ angenehmen Bedingungen
werden zumindest in Teilen Westeuropas annähernd erreicht, mit Ausnahmen wie
Nordirland oder dem Baskenland. Es ist gegenwärtig nicht leicht, sich einen
Krieg zwischen westeuropäischen Ländern wegen eines Gebietskonflikts vorzustellen.
Denkbar und wie es scheint in der Entwicklung begriffen ist eine Situation, die
als Föderalisierung und Kantonalisierung beschrieben werden kann. Solange jede
gewichtige Kultur eine Heimatbasis hat, die ihr Überdauern gewährleistet,
beharrt sie nicht mehr auf völliger Unabhängigkeit oder auf die Übereinstimmung
von ethnischen und politischen Grenzen. Dies ist jedenfalls der wünschenswerte
Endpunkt der Entwicklung, die unter dem Industrialismus das Verhältnis von
Kultur und politischem Gemeinwesen umgewandelt hat. Nach dem Sturm herrschte vergleichsweise
Ruhe.
Eine neue säkulare Ideokratie
Soviel zu einem relativ abstrakten Modell der Evolution ethnisch-politischer Wechselbeziehungen
zwischen 1815 und heute. An diesem Punkt muß ein sehr wichtiges Faktum in
die Argumentation eingefiihrt werden, das bisher weitgehend mißachtet wurde,
vor allem, weil es keineswegs aus den Prämissen des Modells folgt. 1815 teilten
drei Imperien Osteuropa untereinander auf. Zwei von ihnen (besser gesagt die Territorien,
die sie besetzt hatten und die Bevölkerungen, über die sie herrschten)
folgten dem in meiner Argumentation aufgezeigten Weg. Aber das dritte tat dies nicht.
Wohl brach das zaristische Rußland zusammen und löste sich auf. In der
Moderne stellte sich heraus, daß sein ideologischer Zement nicht fester war
als der seiner ottomanischen und habsburgischen Rivalen. Auf russischen Kirchen
findet sich am Fuß des Kreuzes der Orthodoxen ein Halbmond, ein Symbolismus,
der manchmal nicht dem Triumph des orthodoxen Christentums über den Islam erklärt
wird. Doch als unter den Bolschewiken viele Kirchen zerstört wurden, fiel das
Kreuz zusammen mit dem Halbmond.
An die Stelle des zaristischen Russlands trat eine neue, säkulare Ideokratie,
mit einem kraftvollen, rücksichtslos durchgesetzten Glauben, und obwohl "alle
Rußländer" die Stufen eins und zwei durchlaufen hatten, wurde Stufe
drei abgewehrt: Der Kaukasus wurde von der Roten Armee in den frühen 20er Jahren
zurückerobert, in den 30er Jahren wurden Zentralasien pazifiziert und die basmachischen
Guerillas vernichtet, das Baltikum wurde 1940 und 1944-45 zurückgewonngn und
ein Großteil Osteuropas wurde, weit über die von den Zaren jemals kontrollierte
Grenze hinaus, einer effektiven indirekten Herrschaft unterworfen.
Die neue säkulare Ideokratie war stark genug, den irredentistischen Nationalismus
zu unterdrücken, solange sie den Glauben an sich und die Entschlossenheit bewahrte,
alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um die Kontrolle zu bewahren. Nach 1985
entsprang die Perestroika einem Verlust des Glaubens an die ökonomischen Methoden
des Kommunismus, und der Verzicht auf den Einsatz rücksichtsloser Gewalt war
zum Teil eine Zutat des Rezepts für die erhoffte ökonomische Erholung
und zum Teil ein Preis für die Bewahrung des guten Willens im Westen, der sich
als wesentlich für das neue Experiment herausstellte. So kam es zum Ende der
allumfassenden Repression - Zwang wird gelegentlich immer noch eingesetzt, aber
nur zögernd und aufgrund von Provokationen und mit politischer Beschränkung.
Was geschieht bei diesen neuen Spielregeln mit der ethnischen Situtation?
Man kann die Frage formulieren, sie jedoch noch nicht beantworten. Bisher finden
sich Anhaltspunkte für ein Umschlagen der Situation sowohl in die eine wie
in die andere Stufe, die dieser Teil Osteuropas unter dem Kommunismus ausgelassen
hat: die Stufe des ethnischen Irredentismus, der mörderischen Gewalt, und die
Stufe des Bemühens um eine abschließende und friedlichere Lösung,
das föderal-kantonale Gemeinsame Haus unter Vermeidung der mörderischen
und brutalen vorhergehenden Stufe. Die Geschichte wiederholt sich nicht vollständig.
Marx hat gesagt, daß sie sich wiederholt, in dem Sinn daß, was beim
ersten Mal eine Tragödie war, beim zweiten Mal als Farce wiederkehrt. Man sollte
diesem Aphorismus nicht allzu sehr vertrauen. Es gibt keinerlei Garantie dafür,
daß das, was das erste Mal eine Tragödie war nicht beim zweiten Mal ebenfalls
eine sein wird.
Aber die Umstände sind nicht ganz die gleichen. Vor allem gibt es den Wunsch
von Menschen, die guten Willens und bei Sinnen sind, die Wiederholung des Genozids
und der Zwangsumsiedlungen zu vermeiden. Jegliche Anwendung des nationalen Pprinzips
in extremis, die eine Übereinstimmung von ethnischen und politischen Grenzen
fordert, wurde unvermeidlich mit einer solchen Barbarei einhergehen: die ethnischen
Bevölkerungsmuster vieler Teile der 'Sowjetunion sind so komplex, daß
es sicherlich keinen wunderbar vernünftigen Weg gibt, dieses Prinzip umzusetzen.
Seine Anwendung muß modifiziert und durch viele Kompromisse begleitet werden.
Die politische Neubestätigung der ethnischen Identität tritt auch in neuen,
in der Tat vollständig originellen Umständen zutage, die historisch ohne
Parallele sind. Die civil society ist durch den bolschewistischen Zentralismus zerstört
und atomisiert worden, durch die Verschmelzung der gesamten - politischen, ökonomischen,
ideologischen - gesellschaftlichen Hierarchie und Organisation in einer einzigen
Nomenklatura. Wahr ist, daß es in einer schmerzhaften Wiederbelebung der civil
society rasch deutlich wurde, daß ethnische Assoziationsformen viel schneller
und effektiver wiederbelebt werden können als andere. Die neuen politischen
Parteien sind meist relativ kleine Intellektuellenzirkel, während die "nationalen
Fronten" rasch wirkliche und dauerhafte Wurzeln ausbilden. Dies könnte
zu der Erwartung fuhren, daß der Nationalismus dieses Mal sogar noch stärker
sein wird als zuvor. Früher hatten die nationalistischen Bewegungen nichtnationalistische
Rivalen, oft recht ansehnliche. Der Nationalismus war nicht die Tarnung zwielichtiger
Klasseninteressen, wie die Marxisten behaupteten, aber dennoch wischte er nicht
alles vollständig weg, was ihm im Wege stand. Es gab auch funktionierende rivalisierende
Assoziationsmuster. Gleichzeitig kann es aber keinen Zweifel daran geben, daß
es ein genuines Verlangen nach einer civil society gibt, nach Pluralismus, nach
dem Verschwinden von politischen, ideologischen und ökonomischen Monopolen
und vor allem nach dem Verschwinden jener katastrophalen Verbindung der drei Formen
des Zentralismus.
Dies ist der neue Hintergrund, vor dem sich ethnische und andere politische Wiederbelebungsbemühungen
abspielen. Wir können die Faktoren aufzählen, die in das Spiel eingehen;
das Ergebnis können wir nicht vorhersagen.
Moskau, September 1990
Postskript
Der obige Text wurde rasch im Laufe eines Nachmittags auf einer geborgten, fürchterlichen
sowjetischen Schreibmaschine heruntergetippt, im schwer bewachten Hochhaus der Akademie
der Wissenschaften am Leninprospekt in Moskau, als Antwort auf eine dort drängend
vorgetragene Forderung nach einem Kommentar zur ethnischen Situation in der Sowjetunion.
Es folgen, ein Jahr später in Cambridge, einige Nachüberlegungen.
Raymond Aron sagte immer, daß es nur zwei wirkliche Institutionen in Frankreich
gebe - den Staat und die kommunistische Partei. In der UdSSR, wo diese beiden identisch
waren, gab es nur eine Institution. Von daher schien mir, da es keine Alternativen
gab, die Strategie Gorbatschows, die einzig verfügbare Institution einzusetzen,
nicht gänzlich absurd. Man könnte dagegen halten und sagen, daß
man keine Institution zu ihrer eigenen Zerstörung einsetzen kann. Man kann
dafür plädieren und sagen, wenn nur ein Werkzeug da ist, muß man
es gebrauchen.
Meine Empfänglichkeit für dieses Argument (ohne völlig überzeugt
zu sein und ohne die Situation gutzuheißen, die seine Prämisse hergab)
trennte mich und viele andere westliche Anhänger der Perestroika von den Moskauer
Intellektuellen, die sich angewöhnt hatten, Gorbatschow zu verachten. (Der
Unterschied beruhte nicht auf einer Einschätzung seiner Persönlichkeit
oder auf Vermutungen über sein politisches pensée intime, Problemen,
bei denen ich nicht glaube, über irgendwelche Einsichten zu verfügen.
Er beruhte einfach auf den nach außen hin sichtbaren Zügen einer Strategie.)
Aber die Empfänglichkeit für diesen Standpunkt wurde durch die Einsicht
verstärkt, daß die einzige Gegenkraft, die in der Lage war, gegen die
(leider) einzig verfügbare Institution anzutreten, aus ethnischen Bewegungen
bestand, die rasch und effektiv mobilisiert werden konnten und wurden. Jelzins Bereitschaft,
diese Gegenkraft einzusetzen, erschreckte mich. Meine Furcht wurde natürlich
durch die Erinnerung an die Folge des vergleichbaren Zusammenbruchs des habsburgischen
Reichs verstärkt, der zu einem politischen System, das so schwach war, daß
es es ohne wesentliche Anzeichen von Widerstand an Hitler und Stalin fiel. Jelzin
tat offensichtlich das gleiche wie Lenin und gab alle Gebiete in der Hoffnung auf,
Verbündete oder Neutrale zu gewinnen, während er seine Position im Zentrum
verstärkte. Lenin hatte eine disziplinierte Partei und einen ideologischen
Ankerpunkt, während Jelzin keins von beidem hat, was ihn entsprechend abhängiger
macht von den entfesselten ethnischen Kräften. Lenin konnte sich schließlich
zur vielzitierten Neuen ökonomischen Politik (NÖP) bekehren: aber die
Leute, die sich jetzt darauf berufen, scheinen nicht zu verstehen, daß das
reale Äquivalent der NÖP heute eine Art Rückkehr zu den alten administrativen
Methoden in der Wirtschaft sein werde, nach dem Prinzip (genuin analog zur NÖP),
daß eine Methode, an die man nicht mehr glaubt, von der man aber weiß,
daß sie mehr oder weniger funktioniert und mit der die Leute umgehen können,
besser ist als eine Methode an die man glaubt, bei der man aber nicht die geringste
Ahnung hat, wie sie umzusetzen ist. Die Vertreter der Perestroika haben ungefähr
genauso viel Ahnung davon, wie man einen Markt zum Laufen bringt, wie die Bolschewiken
vom Aufbau des Sozialismus. Aber der Abbau der alten Strukturen hat Jelzin auch
die Möglichkeit genommen, die alten Institutionen zeitweise im ganzen Land
einzusetzen.
Aus all diesen Gründen hatte ich Zweifel, was die Jelzinsche Strategie anging,
ohne daß ich jemals dogmatisch sein wollte. Allerdings haben die Ereignisse
die Richtigkeit der politischen Intuitionen Jelzins bestätigt. Gorbatschows
Appeasement-Politik scheint den Parteibunker nicht kaltgestellt zu haben. (Sie könnte
allerdings zu seiner lauen und zögerlichen Haltung und zum Verzicht auf den
Einsatz brutaler Methoden geführt haben.) Als der Gegenschlag in der Form des
gescheiterten Putsches kam, war es ein Faktum, daß Jelzin eine rivalisierende
Machtbasis aufgebaut hatte und schnurstracks alles einsetzte, was zur Hand war.
Dies entscheidend für die Verhinderung des Putsches und muß anerkannt
werden.
Anmerkungen:
1) Dieser Betrag ist zuerst erschienen in NLR 189,
1991, S.127-34.
2) Bewohner eines Phantasielands in einem Roman von
Anthony Hope; Schauplatz opernhafter Räuberromantik. A.d.Ü.
Branka Magas
Nationalismus und Politik in Osteuropa: Eine Antwort auf Ernest Gellner(1)
"Nationalismus" ist ein häufig mißbrauchter Begriff, mit dem
man alles erklären kann - und daher überhaupt nichts. Wenn er nicht in
der konkreten Analyse der nationalen Struktur und Klassenpolitik eines bestimmten
Staates oder Gebietes wurzelt, läuft er Gefahr, analytisch leer zu erden. Das
Werk von Ernest Gellner zeichnet sich seit langem durch die Anerkennung der herausragenden
Bedeutung des Nationalismus als prägender Kraft der Modeme aus. Im Unterschied
zu vielen liberalen oder sozialistischen Autoren hat Gellner nationale Bewegungen
nie einfach als Abweichungen vom Pfad des menschlichen Fortschritts verdammt. Der
große Wert seines kurzen Essays über "Nationalismus und Politik
in Ost- europa" besteht darin, daß er von Anlage und Anspruch her die
Möglichkeit bietet, ein Licht auf die tieferliegenden Probleme zu werfen, die
sich hinter dem Begriff des "Nationalismus" verbergen. Der folgende Kommentar
ist als anerkennende Entgegnung gedacht, die versucht, deutlicher das spezifisch
politische Moment im Nationalismus und seiner Geschichte herauszuarbeiten.
Gellners Ansatz besteht darin, hundersechzig Jahre osteuropäischer Geschichte
zu untersuchen und eine Stufenfolge von fünf zeitlich abgegrenzten Phasen des
Nationalismus aufzuschlüsseln: (1) der Nullpunkt (1815); (2) der Triumph des
"nationalistischen Prinzips" (19tes Jahrhundert); (3) die Schaffung von
Nationalstaaten (1918); (4) die brutal durchgeführte ethnische "Säuberung"
(Zweiter Weltkrieg); und (5) der Niedergang des Nationalismus (in der Zukunft).
Soll ein solcher Ansatz Erfolg haben, muß er auf einem konsistenten theoretischen
Modell und der ausgiebigen Kenntnis der Geschichte der Region beruhen. Unglücklicherweise
weist Gellners Text in beiden Hinsichten Mängel auf. Zunächst ist festzustellen,
daß durch die regelmäßige Vermengung von Ethnizität, Nationalität
und Staatlichkeit Verwirrung gestiftet wird. Allgemeiner gesagt ist es zweifelhaft,
ob eine solcher Ansatz überhaupt brauchbar ist angesichts der Ungleichzeitigkeit
der politischen und ökonomischen Dimensionen der Staatenbildung in Mittel-
und Osteuropa (und nicht nur dort). Gellners durchgängiger Bezugspunkt ist
Westeuropa und er beschreibt den Nationalismus des 19. Jahrhunderts in Osteuropa
als "unausweichliche Folge der neuen sozio-ökonomischen Ordnung",
die "Moderne und Industrialismus" mit sich brachten. Doch obwohl der "Industrialismus"
zuerst im Westen triumphierte, ist/war dieser Westen nicht nach dem Prinzip 'eine
Nation - ein Staat' organisiert (z.B. Großbritannien, Belgien, die Schweiz).
Desgleichen wurde in Osteuropa diesem Prinzip nicht immer entsprochen: 1918 entstanden
mehrere Staaten, die ihrem Selbstverständnis nach multinational waren. Weiterhin
wird aus Gellners Ausführungen nicht klar, ob die osteuropäischen Gesellschaften
einfach die Erfahrungen Westeuropas wiederholten oder ob das, was sie taten (auch)
eine Kompensation dafür war, nicht "dabei" zu sein.
"Historischer Nationalismus"
Es muß betont werden, daß in weiten Teilen Osteuropas der Sieg des nationalen
Gedankens der Industrialisierung vorausgeht. 1848, als alle Teilnationalitäten
der Habsburger Monarchie ihre nationalen Programme formulierten - die im übrigen
bis 1918 und in mancher Weise sogar darüber hinaus praktisch unversehrt überlebten
- waren die meisten Gesellschaften, denen sie angehörten, weitestgehend Agrargesellschaften.
Tatsächlich blieb der größte Teil Osteuropas bis nach dem Zweiten
Weltkrieg Agrargesellschaft.
Können wir bestimmen, wann der Nationalismus in diesem Teil Europas die Szene
betrat? Gab es einen "Nullpunkt"? Gellners Erläuterung der Situation
bis und einschließlich 1815 geht grundsätzlich fehl, nicht zuletzt weil
die Aufteilung eines großen Teils von Osteuropa unter drei Imperien dem Wiener
Kongress vorausgeht. Auch geht die Darstellung fehl, weil sie die frühere Phase
des "historischen Nationalismus" ausläßt (z.B. löschte
die Aufteilung Polens nicht die Erinnerung der Polen an ihren einstigen Staat, und
antideutsche Gedichte waren schon im Ungarn und Kroatien des 17. Jahrhunderts geläufig)
und weil sie die Auswirkungen der Französischen Revolution nicht beachtet.
Metternich wußte es besser: Auf dem Wiener Kongreß betonte er die Gefahr,
die nicht nur der liberale, sondern auch der nationale Gedanke für die konservative
Ordnung in Europa darstellte. Der Nationalismus wartete keineswegs noch auf seine
Geburt, sondern wurde schon als eigenständige politische Kraft wahrgenommen.
Im Gegensatz zur Behauptung Gellners waren die drei Imperien zu jenem Zeitpunkt
weder gleichermaßen indifferent gegenüber dem nationalistischen Prinzip,
noch waren es die nationalistischen Eliten, die in diesen Imperien lebten. Es stimmt,
daß der Adel das Wort "natio" für sich reservierte. Als jedoch
der habsburgische Staat Latein einmal als offizielle Sprache zugunsten des Deutschen
aufgegeben hatte (was vor der Französischen Revolution geschah), wurde das
multi-ethnische - multi-sprachliche - Wesen des Imperiums sichtbar. Warum, fragten
die magyarischen Adligen ihren deutschen König, sollte unser Konvent deutsch
sprechen, wenn wir Ungarn sind? Sie machten sich dann eifrig daran, ihre "Muttersprache"
zu erlernen. An diesem Punkt begann sich der alte "historische Nationalismus"
in einen "nationalen Nationalismus" zu wandeln.
Aber den wirklichen Impetus brachte die Französische Revolution. Die polnische
und italienische Begeisterung für die Revolution war auch durch den Wunsch
nach einem wiederhergestellten Polen und einem vereinigten Italien inspiriert. Wie
Tolstoi beschreibt, ermutigte die französische Invasion die russische Aristokratie
dazu, nun russisch zu sprechen (und nicht französisch). Als in Französich-Illyrien
einmal die offiziellen Dokumente und Joumale in den Nationalsprachen erschienen,
gab es im heutigen Slowenien und westlichen Kroatien kein Zurück mehr zum Deutschen
oder Italienischen. Der nationale Aufstand der Serben, um ein anderes Beispiel zu
nehmen, war schon ein Faktum. Wenn diese Völker nicht auf dem Kongress von
1815 vertreten waren, heißt dies nicht, daß sie dessen Beschlüsse
als legitim akzeptierten. Der Fortschritt des Nationalismus in diesem Teil Europas
ist ein viel komplexerer, unsteterer und widersprüchlicherer Prozeß als
Gellner vermuten oder der Blankobegriff "Nationalismus" schließen
läßt. Eins ist jedoch sicher.- 1815 war nicht der Ausgangspunkt. Die
"lange Welle" begann viel früher und hat ihren Ursprung tief in der
Entlatimisierung Europas.
Die Vorstellung, die legitime Grundlage des Staates sei die Nation, war keine rein
nationalistische Erfindung, wie Gellner behauptet. Sie wurde durch die Französische
Revolution in Umlauf gebracht. Da sie den Gedanken der Volksdemokratie enthielt,
wurde sie von den anciens régimes als subversiv verdammt. 1848, im Jahr der
"nationalen Revolutionen", gab es mehrere unterschiedliche "nationalistische"
Strömungen, unter denen der Wunsch nach autonomer Staatlichkeit und der Begriff
der Volkssouvernität (im Gegensatz zur göttlichen Autorität des Monarchen)
vorherrschend waren, obwohl der liberale Gedanke der konstitutionellen Regierung
und der Rechte des (einzelnen) Bürgers ebenfalls zu dieser Zeit in Erscheinung
trat. Der Begriff der "Nation" ergab sich aus all diesen Teilströmungen,
allerdings mit unterschiedlichen Implikationen.
Gellner überschätzt sicher die ethnische Komplexität - das "unglaublich
komplexe Flickwerk" - Osteuropas. Ethnisch gemischte Gebiete waren relativ klein
im Verhältnis zu den national homogenen Territorien. Die Schwierigkeiten ergaben
sich eher aus dem Umstand, daß politische und ethnische Grenzen oft nicht
zusammenfielen. So beanspruchten etwa im Falle des Habsburgerreichs sowohl die Tschechen
als auch die Deutschen das Königreich Böhmen für sich. Eine weiteres,
verwandtes Problem ergab sich aus der Anlage des Wahlsystems, das die Mehrheit der
erwachsenen Bevölkerung für den größten Teil des 19. Jahrhunderts
und in einigen Fällen bis 1918 ausschloß. So war etwa die österreichische
Kronkolonie Carniola(2) zum überwiegenden Teil slowenisch, aber das Recht auf
Repräsentation genossen nur nur die größten Steuerzahler, die ethnisch
Deutsche waren. Das Problem war nicht die ethno-soziale Bevölkerungsstruktur
als solche, sondern die unterschiedliche Macht, die von den verschiedenen gesellschaftlichen
Gruppen ausgeübt wurde. Als das ethnische Gewicht der Slowenen im lokalen Parlament
einmal zum Tragen kam, wurde Carniola mwges Gewisser, was die nationalen Konflikt
anbelangte. Zur selben Zeit wurde die Demokratisierung des österreichischen
Staates eine zutiefst nationale Frage, weil sie das Machtgleichgewicht zwischen
den beteiligten Nationalitäten bedrohte. Das erklärt, warum dieses Reich
nie den "natürlichen", d.h. föderalen Weg eingeschlagen hat.
In der Tat, als die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für
Männer im österreichischen Teil Österreich-Ungarns den Slawen eine
numerische Mehrheit im Reichsrat verlieh, hörte das parlamentarische Leben
auf, zu funktionieren.
Es gibt keinen direkten Zusammenhang, wie ihn Gellner behauptet, zwischen dem Erfolg
der nationalen Bewegungen im 19. Jahrhundert und der Verbreitung dessen, was er
das "nationalistische Prinzip" nennt. So waren etwa die Magyaren nicht
deshalb "erfolgreich", weil sie bessere Nationalisten als die Polen waren,
sondern weil sie einen Staat hatten, der als legitimes politisches Subjekt anerkannt
war. Dieser Staat war jedoch ethnisch nicht homogen: nichtungarische Nationalitäten
machten fast die Hälfte der Bevölkerung aus. Die nationale Festigung Ungarns
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderst war von daher keineswegs eine Triumph
des "nationalistischen Prinzips" - außer man versteht diesen Triumph
als die Erlangung der Vorherrschaft einer Nation über andere.
Es ist wahr, daß das Verlangen nach unabhängiger Staatlichkeit in Osteuropa
die Antwort auf die ökonomischen Veränderungen war, die im kapitalistischen
Westeuropa ihren Nährboden hatten. (Die Entscheidung Josephs des Zweiten, Latein
als offizielle Sprache des Reiches durch Deutsch zu ersetzen, war eine solche Antwort).
Aber sie nahm die Form einer Reaktion auf die Macht an, die durch jene Veränderungen
in die Beziehungen zwischen den Staaten einflossen: die Macht, direkt oder indirekt
gesellschaftliche Verhältnisse in anderen Staaten zu verändern. Es ist
das Streben nach der Macht, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse
im eigenen Land prägen zu können, das dem Nationalismus, wie wir ihn kennen,
zur Geburt verhalf. Um ein Beispiel zu nennen: Der ungarische Nationalismus, der
durch die Geschichte und inzwischen auch die Sprache genährt war, wurde Mitte
der 1840er Jahre neu geboren, zu einem Zeitpunkt, als der ungarische Adel entscheiden
mußte, ob Wien oder Budapest die Leibeigenschaft in Ungarn abschaffen werde.
Daher ist es die politische Macht, und nicht, wie Gellner behauptet, die "Bewahrung
der Kultur", die das Fundament des modernen Nationalismus bildet. Nationen sind
- wie Lenin so gut verstanden hat - vor allem politische Gemeinwesen. Wann und wie
das Wahlsystem zu ändern ist; wie die Autorität zwischen Gemeinde- Provinz-
und Staatskörperschaften zu verteilen wird; welche Sprache in der Schule gelehrt
werden soll; welche Art von Straßen- und Bahnsystem gebaut werden soll; die
gesetzlichen Vorschriften für die Kapitalakkumulation; staatliche Unterstützung
für die Industrie; Besteuerungsformen; Militärdienst; Zollvorschriften;
gewerkschaftliche Organisation; Außenpolitik und so weiter - all diese für
den modernen Kapitalismus konstitutiven Muster wurden zu Brennpunkten heftiger nationaler
Kämpfe im Habsburgerreich.
Hinzu kommt, wie Benedict Anderson ausgeführt hat, daß in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein staatlich gestützer Nationalismus
zutage trat. Dies verstärkte noch das Verlangen nach staatlicher Unabhängigkeit
unter Völkern ohne Staat. Ein solcher Nationalismus braucht andererseits keinen
ethnisch homogenen Staat. Wenn Kautsky oder Lenin von "Nationalstaaten"
sprachen, dachten sie an Staaten, die ethnisch homogen waren. Wenn ein ungarischer
Nationalist des 19. Jahrhunderts vom "Nationalstaat" redete, dachte er
an das (multinationale) Territorium der Krone des Hl. Stephan. Eine Folge davon
war die "Verhärtung" der nationalen Politiken innerhalb imperialer
Regimes, die kurz vor dem Zusammenbruch standen. Der Sezessionismus entwickelte
sich zuerst und vor allem als Reaktion auf den staatlich gestützten Nationalismus
der herrschenden Nationen. Der Erste Weltkrieg trug dazu bei, diese Tendenz noch
zu beschleunigen. 1914 stellten Masaryk und seine Anhänger noch eine kleine
Minderheit in der tschechischen Politik dar, aber im Mai 1917 waren die tschechischen
politischen Parteien offen sezessionistisch.
Wie auch immer der Entwicklungstrend gewesen sein mag, behauptet Gellner, die Tendenz
zur Ausbildung von (ethnisch fundierten) National- staaten konnte in Osteuropa aufgrund
seines "unglaublich komplexen ethnischen Flickwerks" nicht zum Ziel gelangen
- und der Aufstieg von Nachfolgestaaten verschärfte nur noch dieses Problem.
Tatsächlich war dies eines der Hauptargumente der Austromarxisten zugunsten
der Erhaltung des Reichs. Es ist heute oft im Hinblick auf andere multinationale
Staaten zu hören. Allerdings war dies 1918 nicht das Hauptproblem. Der hartnäckige
Nationalismus war eher eine Folge dessen, was als "Friede von "Versailles"
bezeichnet wird. Zunächst einmal war das Ausmaß an ethnischer Vielfalt
innerhalb der neuen Staaten bei weitem nicht unausweichlich: vielerorts zogen die
Sieger die Grenzen absichtlich unter Verletzung des ethnischen Prinzips. Wilsons
ursprüngliche Vorstellung, wonach die staatlichen Grenzen wo immer möglich
den ethnischen folgen sollten, wurde in Versailles nicht respektiert - selbst durch
den amerikanischen Präsidenten nicht. Noch wichtiger war am Ende der undemokratische
Charakter der betreffenden Mächte, und dies nicht nur hinsichtlich ihrer nationalen
Minoritäten. Eine weitere Runde "national-demokratischer Revolutionen"
hätte in ihnen stattfinden können, und diese hätten das "nationale
Problem" - zumindest eine Zeitlang - gelöst. National-demokratische Revolutionen
sind schließlich nie dauerhafte oder perfekte Errungenschaften.
Abgesehen davon würde es jedoch falsch sein zu behaupten, daß ihre ethnische
Komplexität" dazu beitrug, daß die osteuropäischen Staaten "wie
Kegel" an Hitler fielen. Ihre militärische Niederlage war schließlich
zum größten Teil der beispiellosen Gewalt geschuldet, die der Nazistaat
einsetzte. Tatsächlich paßt das Argument, wonach interne Schwäche
für die Niederlage verantwortlich sei, viel besser auf den Fall des homogenen
Frankreich - der großen Militärmacht im Europa der Zwischenkriegszeit
- als auf die national heterogenen Länder Osteuropas. Dem Krieg, argumentiert
Gellner, folgte ein brutal durchgeführter Prozeß der nationalen Homogenisierung
(Phase 4), weshalb manche dieser Staaten (Polen, Tschechoslowakei und Belorussland)
heute eher den Ländern des europäischen Westens ähneln. Nachdem sie
die Stufen 1 bis 4 durchlaufen haben, können sie sich nun an die Stufe 5 annähern
- im Unterschied zu den übriggebliebenen ethnisch genaschten Staaten, die zu
weiteren ethnischen Spannungen verdammt sind. Aber dies ist natürlich falsch.
Nationale Homogenität in Polen hat den polnischen Nationalismus (oder Antisemitismus)
nicht zum Verschwinden gebracht. Und im ethnisch fast homogenen Ungarn wird der
Nationalismus immer noch durch den Traum der Einverleibung des überwiegend
von Rumänen bewohnten Transsylvaniens genährt.
In der Beschreibung von Phase 5 wird Gellners Argumentation besonders widersprüchlich.
Harmonische internationale Beziehungen werden - trotz des künfliktorischen
Charakters von "Hochkulturen" - zu einer Frage des materiellen Reichtums:
eines "größeren und besser verteilten Reichtums des späten
Industrialismus". In Westeuropa wird die Assimilierung von Millionen von Gastarbeitern
an eine "fortgeschrittene Gastgeberkultur" ein rein technisches Problem
- obwohl das Gegenteil evident ist. Die "ökononmische und kulturelle
Konvergenz" einst "späten Industriegesellschaft" ermöglicht
eine neue Ära harmonischerinter-nationaler Beziehungen, wie dies durch die
Integration, Föderalisierung und Kantonisierung Westeuropas erwiesen werde.
Aber was ist mit den föderalen und subföderalen Staaten, die sich heute
in Osteuropa finden? Tatsächlich trifft die These vom Triumph des Nationalismus
im Jahr 1919 nicht auf die Tschechoslowakei, Jugoslawien oder die Sowjetunion zu.
In all diesen Fällen wählten die beteiligten Nationen eine andere Lösung,
obwohl nicht alle gleichermaßen willentlich. Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns
wirft Licht auf das Geheimnis des bolschewistischen Erfolgs beim Zusammenhalt eines
großen Teils des alten Reichs: die föderale Formel, die die Sowjetunion
mit vielen staatlichen und parastaatlichen Grenzen durchzog und Republiken, autonome
Republiken, autonome Regionen usw. erzeugte, Das Recht auf Sezession war in der
Verfassung verankert. Was die Bolschewiken anboten, war nicht unählich dem,
was Gellner als "föderal-kantonales Gemeinsames Haus" bezeichnet.
Dasselbe gilt für Jugoslawien nach 1945. In beiden Fällen muß betont
werden, daß dieses Arrangement im Gefolge ethnischer Konflikte und mörderischer
Gewalt zustande kam.
Gellners theoretische Substitution
Was ist nun bei diesen föderierten Staaten schiefgegangen? Gellner argumentiert,
daß Staat und Gesellschaft der Sovjetunion drei seiner fünf "Phasen"
nicht durchgemacht hätten (Triumph des Nationalismus, Schaffung von Nationalstaaten,
inter-ethnische Kriege), aber nun drauf und dran seien, eben dies zu tun. Allerdings
wäre es unmöglich, die bolschewistisch angeführte Revolution ohne
ihre besondere Antwort auf die nationale Frage zu verstehen. Die Geschichte der
Sowjetunion läßt vermuten, daß diese "Phasen" tatsächlich
durchlaufen wurden, wenn auch auf eigenartige und widersprüchliche Weise. So
sind die Republiken und andere parastaatliche politische Einheiten ethnisch fundiert
- sie sind Nationalstaaten im relevanten Sinne des Wortes -, besaßen aber,
zumindest bis in jüngste Zeit, wenig politische Autonomie.
Industrialisierung und Entwicklung einer nationalen Kultur haben stattgefunden,
aber unter Regeln, die durch ein einziges (russisches) Zentrum diktiert wurden,
das sich außerhalb jeder demokratischen Kontrolle befand. Die Logik von Gellners
historischem Argument sollte ihn zu den Thesen führen, daß nach den Wurzeln
der nationalistischen Widerbelebung in der heutigen Sowjetunion unter folgenden
Gesichtspunkten zu suchen sei: (a) die Unterdrückung politischer Autonomie
in den beteiligten Nationalstaaten; (b) der unstete Prozeß der Industrialisierung;
(c) die kon- fliktorische Natur der Produktion von "Hochkultur" (z.B.
die Dominanz der russischen Sprache); (d) das Bestreben, lange bestehende national-politische
Einheiten innerhalb einzelner Republiken zu zerstören (z.B. Georgien, Aserbeidschan
usw.). Doch Gellner argumentiert keineswegs in diese Richtung. Stattdessen fährt
er eine neue Reihe quasi-analytischer Begriffe ein: eine "schmerzhafte"
Wiederbelebung der Zivilgesellschaft; ein "genuines Verlangen" nach Pluralismus
und einem Ende des politischen, ideologischen oder ökonomischen Monopols; die
Schwäche der ideologischen Rivalen des Nationalismus. Aber wäre es nicht
nützlich gewesen, den Charakter der "Zivilgesellschaft" in Slowakien
oder Bosnien zu Beginn dieses Jahrhunderts zu betrachten; das "politische
Monopol" im zaristischen Russland; die Rolle, die das westliche "ökonomische
Monopol" beim Abgang des ottomanischen Reichs spielte? Und war nicht der Sieg
des konservativen Nationalismus in Osteuropa 1918 auch der Schwäche der "ideologischen
Rivalen des Nationalismus" geschuldet? In dieser theoretischen Substitution
liegt eine Annahme, der sich Gellner nicht bewußt zu sein scheint.
Versuchen wir, diese Annahme deutlich zu machen, indem wir die Frage stellen: Worin
besteht das Wesen der Politik des Nationalismus in der heutigen Sowjetunion?
Gellner zieht eine klare Unterscheidungslinie zwischen den demokratisch orientierten
neuen politischen Parteien und den nationalen Fronten. Er behauptet, daß erstere
"dazu neigen, relativ kleine Intellektuellenzirkel zu sein, während es
die 'nationalen Fronten' sind, die schnell wirkliche und dauerhafte Graswurzeln
ausbilden". Unter dieser Voraussetzung wird der Nationalismus vermutlich "noch
stärker sein als das letzte Mal". Andererseits scheint der Erfolg der nationalen
Fronten unausweichlich: "Bei der schmerzhaften Wiederbelebung der Zivilgesellschaft
wird schnell deutlich, daß die ethnische Assoziation schneller und wirksamer
als jede andere wiederbelebt werden kann."
Dieses Argument verfehlt den wichtigsten Punkt. Die Geburt der nationalen Fronten
war schließlich die Arbeit genau jener kleinen Gruppen von Intellektuellen
- wie auch kleine intellektuelle Zirkel die nationale Wiederbelebung in Ost- und
Mitteleuropa vor ein oder zwei Jahrhunderten auslösten. Allerdings ist der
Unterschied diesmal, was die Sowjetunion angeht, daß - im Gegensatz zum zaristischen
Russland - die nationalen Fronten und ihre intellektuellen Ideologen innerhalb gut
definierter politischer Einheiten operieren, die durch das föderale Arrangement
geschaffen wurden. Dies ist die Annahme die als selbstverständlich genommen
wird, die aber den ganzen Unterschied ausmacht. Hier liegt die Erklärung dafür,
warum der Nationalismus in Osteuropa die Form eines politischen Kampfes um die Kontrolle
der existierenden lokalen Staaten annimmt, durch die es möglich ist, alle anderen
Zweige der "Zivilgesellschaft" zu beherrschen: Ökonomie, kulturelle
Institutionen, Medien usw. Denn die einfache Übernahme der Kontrolle über
die vorhandene staatliche Struktur ist eine viel direktere Aufgabe als ihr neues,
demokratisches Leben einzuhauchen oder eine ganz neue zu schaffen. Natürlich
nährt sich der Erfolg der Nationalisten vor allem aus der Unfahigkeit der zentralen
Partei- und Staatsbürokratie, ein alternatives, demokratischeres Konzept für
die Union vorzustellen. Denn ohne eine demokratisch konstituierte Föderation
gibt es kaum Hoffnung, daß sich Demokratie auch nur in einem ihrer Teile entfalten
wird.
Gellner hat daher recht, wenn er den Zusammenhang betont zwischen der nichtvorhandenen
Demokratie in der Sowjetunion - die Folge der Verschmelzung der gesamten gesellschaftlichen
Hierarchie und Organisation zu einer einzigen vertikalen organisierten Nomenklatura
- und dem Wiederaufstieg der destruktiven Kraft des Nationalismus, sobald dieses
System zu zerfallen begann. Er hat auch recht, wenn er darauf beharrt, daß
sich Genozid und Zwangsumsiedlung wiederholen können, wenn zugelassen wird,
daß das nationale Prinzip in extremis - die absolute Überreinstimmung
von ethnischen und politischen Grenzen - umgesetzt wird.
Auch lenkt er zurecht unser Augenmerk auf das genuine Verlangen nach Demokratie,
das als Gegenkraft wirken wird. Schließlich ist ein wesentliches Merkmal von
Gellners Ansatz zum Problem des Nationalismus in der östlichen Hälfte
Europas seine herzliche Zuneigung zu den Völkern dieser Region und sein Wunsch,
daß ihnen ausgewachsene Kriege erspart bleiben mögen.
Anmerkungen zu Magas
1) Dieser Betrag ist zuerst in NLR 191 erschienen. 2) Carniola bezeichnet eine Region in den Ostalpen, einst
Siedlungsgebiet der Reichen Karner.
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt