Verfassungspatriotismus, hilflose Kritik und Heimspiel für
die Rechten
Die Stichworte "Normalisierung", "neues Nationalbewußtsein"
fallen alle bei Habermas. Dennoch werden Habermas' Argumente dadurch abgeschwächt,
daß er einen Konsensus nach 1945 unterstellt, der gegenüber der nationalsozialistischen
Erbschaft einfach fiktiv ist. Der Angriff der Hillgruber und Nolte auf diesen angeblichen
Common sense scheint aus dem Nichts zu kommen. Habermas tut so, als handele es sich
um den Revisionsversuch einer allgemein akzeptierten Überzeugung. Nolte weiß
sich diesen falschen Schein auch ständig zunutze zu machen. Er geriert sich
als mutiger Tabubrecher, der von Denkverboten verfolgt wird, die stellvertretend
Jürgen Habermas für die Öffentlichkeit formuliert. Glücklich
wäre dieses Land zu nennen, wenn es wirklich wahr wäre, was Nolte behauptet,
nämlich daß Jürgen Habermas die herrschende Meinung formuliere.
Aber welche Verkennung der Verhältnisse! In der öffentlichen Meinung erscheint
Jürgen Habermas als der gerade noch öffentlihc-rechtlich akzeptierte Linskaußen.
Diese Rolle überfordert Jürgen Habermas. Seine Argumente sind auf Konsens
angelegt. So endet mehr oder weniger jeder Artikel mit dem Angebot des "Verfassungspatriotismus".
Dieses von Habermas angepriesene Positive verschafft den Hillgruber, Stürmer,
FEst und Nolte ein permanentes Heimspiel. Den Nachkriegskonsens gab es - leider
- gar nicht. Sie sogenannte Vergangenheitsbewältigung war wesentlich ein Schauspiel,
das glücklicherweise von einigen älteren wie Jürgen Habermas und
einigen jüngren für Realität genommen wurde. In diesem Faktum liegt
eine der Hauptquellen für die Radikalität des Infragestellens von Institutionen,,
das Ende der sechziger Jahre die antiautoritäre Protestbewegung praktizierte.
Dem Schauspiel zugrunde lag eine gesellschaftliche und personelle Kontinuität
des deutschen Kapitalismus und seiner Institutionen, der eine untergründige,
verhärtete Gefühls- und Bewußtseinslage kollektiv entsprach, der
die Neokonservativen zum Durchbruch verhelfen wollen, indem sie nun das nach Auschwitz
unerträglich Selbstverständliche als das Natürliche und Normale unterstellen.
Dagegen hilft nur die entgiftende Wirkung rücksichtsloser Kritik. Jürgen
Habermas aber machte Nolte immer neue Diskussionsangebote, indem er von den Vorteilen
des gemäßigt Positiven zu überzeugen versucht. Dies wird aber von
der anderen Seite mit immer maßloseren Behauptungen beantwortet, die sich
in der seltsamen Halutngg des Anwalts unterdrückter Wahrheit zeigt, der zugleich
aggressiv und persönlich beleidigend den Tribun berechtigten Volkszorns gegen
Habermas spielt.
Wie imponierend es auch ist, daß Jürgen Habermas die Mühen dieses
Streits auf sich genommen hat, fühlt man sich doch beunruhigt, wenn er angesichts
des Wiederentfachens deutsch-nationalistischen Feuers den "Verfassungspatriotismus"!
ins Feld führt. In einer Rede zur Verleihung der Wilhelm-Leuchner-Medaille
unterstellt Habermas tatsächlich, daß der Verfassungspatriotismus inzwischen
das Nationalbewußtsein abgelöst habe. Man kann das nur als eine realitätsferne
Behauptung ansehen. Die Kundgebungen massiven Volksgemeinschaftsbegehrens wie im
Deutschen Herbst, also vor zehn Jahren, sind Habermas nichr verborgen geblieben.;
ihen verdanken wir es wesentlich, daß er nach einer Phase der Zurückgezogenheit
seine öffentliche Funktion als kritischer Intellektueller wieder so beindruckend
wahrnimmt. Aber diese Durchbrüche des alten Volksgemeinschaftsideals verharmlost
Jürgen Habermas psychologisch als "neurotische Ersatzlieferung",
als ob er sich selbst dessen bewußt wäre, daß sein ideologisch
gemäßigtes Methadon-Programm "Verfassungspatriotismus" das
Bewußtsein nach der realen Droge Nationalismus nicht kurieren könnte.
Die Ansätze zu einer theoretisch begründeten "postkonventionellen
Identität", die er liefert, stehen allzu sehr unter dem offensichtlichen
Druck, das Methadon-Angebot attraktiver zu machen. Das Buch "Eine Art Schadensabwicklung"
inder edition suhrkamp wird ein Zeitdokument werden. in der sich - rationalistisch
verzerrt - der ideologisch-wahrheitsfeindliche Angriff des beängstigt Normalen
auf eine in Deutschland bisher immer gefährdete kritische Rationalität
widerspiegelt. Leider ist auch die Habermassche Verteidigung des Vernüftigen
und Modernen von Ambivalenzen nicht frei.
aus: Detlef Claussen, Vergangenheit mit Zukunft. Über die Entstehung einer
neuen deutschen Ideologie in: Die neue deutsche Ideologie Einsprüche gegen
die Entsorgung der Vergangenheit hrg. von W.Eschenhagen
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt