Acht Arschlöcher und ein Halleluja Einige staatskritische
Spekulationen aus Anlaß des Kruzifix-Urteils
"Es gibt demnach ein rein staatsbürgerliches Glaubensbekenntnis,
und die Festsetzung seiner Artikel ist Sache des Souveräns ... Ohne jemanden
zwingen zu können, sie zu glauben, darf der Staat jeden, der sie nicht glaubt,
verbannen, zwar nicht als einen Gottlosen, wohl aber als einen, der den Gesellschaftsvertrag
verletzt, der unfähig ist, Gesetze und Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und
im Notfall sein Leben seiner Pflicht zu opfern."(Jean-Jacques Rousseau, Der
Gesellschaftsvertrag)
In einem der wenigen lichten Augenblicke, die selbst Sozialdemokraten
bisweilen vergönnt sind, bezeichnete der ehemalige Bundesminister und Jura-Professor
Horst Ehmke das Bundesverfassungsgericht einmal als "die acht Arschlöcher
von Karlsruhe". Das war in den 70er Jahren. Politik und Öffentlichkeit
waren damals selbstverständlich entsetzt über diese Äußerung,
wobei sie dieselbe keineswegs als Beleidigung auffaßten, sondern als Blasphemie.
Völlig zurecht. Denn die bundesrepublikanische Verfassung, das Grundgesetz,
ist keineswegs nur positives Recht, in der Grundrechte und Staatsaufbau niedergelegt
sind, sondern Ausdruck höherrangiger, nicht zur Disposition stehender "Grundwerte".
Hüter der Verfassung ist das Bundesverfassungsgericht: Seine Aufgabe ist es,
das Handeln sowohl des einzelnen Bürgers als auch das staatlicher Organe daraufhin
zu überprüfen, ob es mit den obersten existentiellen Verfassungswerten
je in Einklang steht und damit verfassungskonform ist. Als Institution, die abschließend
über die höchsten demokratischen Werte zu befinden hat, stellt das Bundesverfassungsgericht
ein Gremium gesalbter Hohepriester der Demokratie dar. Sein Wirken war deshalb stets
von der Aura des unantastbar Heiligen umgeben, seine Entscheidungen nicht einfach
nur gültig, sondern sakrosankt, Kritik daran zu üben nicht verboten, sondern
einfach tabu. Infragegestellt wurde das Bundesverfassungsgericht als Institution
nur von einer linksliberalen und linken Minderheit. Das Bundesverfassungsgericht,
so wurde angeführt, sei ein Bollwerk der Reaktion, indem es das Grundgesetz
gegen die seinem Wortlaut nach mögliche Ersetzung des kapitalistischen durch
ein demokratisch-sozialistisches Wirtschaftssystem abschirme durch seine Postulierung
höherer Verfassungswerte leiste das Gericht willkürlicher Gesinnungsjustiz
Vorschub; es spiele sich durch seine unanfechtbaren Entscheidungen als eigentlicher
demokratischer Souverän auf, der laut Grundgesetz aber allein das Volk und
seine parlamentarischen Vertreter seien - kurz: es "verfälsche" und
"verbiege" beständig die geschriebene Verfassung für die Zwecke
von Herrschaft.
Jetzt, Mitte der 90er Jahre, scheinen die politischen Lager völlig umgepolt
zu sein. Hatten schon das "Soldatenurteil" vom letzten Jahr sowie das
Sitzblockadenurteil vom Frühjahr diesen Jahres bei Konservativen und Rechten
gereizte Kommentare hervorgerufen -"In diesem Lande darf man jetzt ... jeden
Bürger in der aggressivsten Weise öffentlich beleidigen", wetterte
z.B. der Verfassungsrechtler Martin Kriele in der "Neuen juristischen Wochenschrift"
- so haben diese spätestens seit dem Kruzifix-Urteil vom August diesen Jahres
jegliche Ehrfurcht vor dem Bundesverfassungsgericht abgelegt. CSU-Größen
wie Hans Maier und Ingo Friedrich rufen unverhohlen zum Boykott des Urteils auf.
Verfassungsrechtler und Grundgesetz- Kommentator Rupert Scholz moniert: Das Gericht
tendiere dazu, "negative Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit des Einzelnen"
in Konflikt mit bestimmten Institutionen zu bringen ("junge welt" vom
16.8.95). Und Theo Waigel sieht das Bundesverfassungsgericht auf einem Weg, der
"zu einer Abkehr von den moralischen und sittlichen Wurzeln unseres Gemeinwesens
führen könnte" (ebd.).
Die entschiedensten Verteidiger nicht nur besagter Urteile, sondern des Bundesverfassungsgerichts
als solchem sind heute die Linksliberalen und die (Ex-)Linken: da wird gemahnt,
gewarnt und den Anfängen gewehrt, daß es nur so wabert. So gibt sich
Astrid Hölscher im Leitartikel der FR vom 15.8.95 jesusmäßig betroffen
darüber, "daß Politiker ohne Not eine Institution beschädigen,
die über alle weltanschaulichen Differenzen höchsten Respekt in unserer
Republik genießt ... Ein Kreuzzug wider Karlsruhe würde unseren Grundkonsens
tatsächlich bedrohen." Joachim Perels, Politologe und Juristensozialist
im Geiste Wolfgang Abendroths, sorgt sich sehr um den Rechtsgehorsam hierzulande,
wenn er in der FR vom 23.8.95 doziert: Die Verbindlichkeit der BVG-Urteile "aus
außerrechtlichen Gesichtspunkten zu negieren, stellt die Verfassung und das
sie garantierende Gericht zur Disposition politischer Dezision." Als Bedenkenträger
profiliert sich auch der Jura-Professor Uwe Wesel in einem Interview der"jungen
welt" vom 24.8.95, wenn er meint: "Einzelne Mitglieder der CDU/CSU übertreten
derzeit weit den Rand des Rechtsstaats", um anschließend erleichtert
festzustellen: "Heute ... hat sich der Ruf des Gerichts so gefestigt, daß
diese Angriffe nun Gott sei Dank überhaupt keine Chance mehr haben." Logische
Konsequenz: "Unsere Demokratie" ist in Gefahr: "Es wird Zeit, eine
Säule des gewalten-geteilten Systems vor Demontage zu schützen" so
Roderich Reifenrath in der FR vom 19.8.95, und die Humanistische Union sekundiert
am selben Ort ein paar Tage später: "Es geht um den Erhalt der freiheitlichen
und liberalen Verfassung und um die Geltung der Grundrechte" .(FR vom 24.8.95)
Von der affirmativen Kritik zur puren Affirmation
Was auf den ersten Blick als unvermittelte Kehrtwendung, als verblüffender
Gesinnungswandel erscheint, ist jedenfalls bezüglich der Linksliberalen und
Linken nichts anderes als die logische Konsequenz der früheren Position. Die
Kritik der Linken - Ausnahmen bestätigen wie immer die traurige Regel - war
keineswegs so grundsätzlich und radikal, wie dies gerne glauben gemacht wird.
Die These, daß das Bundesverfassungsgericht die originär demokratischen
Grundsätze des Grundgesetzes verfälschen in ihr Gegenteil verkehre etc.,
unterstellte immer schon, das Grundgesetz sei in seinem Kern bejahenswert und gut
- eine Auffassung, die mit dem Begriff Verfassungspatriotismus wirklich treffend
bezeichnet ist. In personalisierender Art und Weise wurde selbst von reflektierteren
Leuten irgendwelchen bösen "herrschenden Kreisen", in diesem Fall
dem Bundesverfassungsgericht, als Absicht und Wille in die Schuhe geschoben, was
das Grundgesetz bereits an sich, noch vor aller Interpretation und Rechtsprechung
festschreibt: die Institutionalisierung einer gegenüber dem geschriebenen Gesetz
höheren Werteordnung (vgl. dazu nur den Art. 18 GG, der die Verwirkung der
Grundrechte vorsieht, wenn sie zum Kampf gegen die "freiheitliche demokratische
Grundordnung" mißbraucht werden). Nicht hat das Bundesverfassungsgericht
die "freiheitliche demokratische Grundordnung" als den Inbegriff dieser
höheren Werte dem Grundgesetz willkürlich aufoktroyiert, sondern es ist
umgekehrt diese im Grundgesetz bereits enthaltene zweite, substantialistische Stufe
der Legalität, die als ihren Hüter und berufenen Ausleger eine Institution
wie das Bundesverfassungsgericht förmlich erzwingt. Anstatt diese "Substanz"
materialistisch zu dechiffrieren, was ohne eine Analyse des Nationalsozialismus
und seines Fortlebens nicht zu haben ist, wurde in gewohnt rationalistisch-positivistischer
Manier die FDGO als willkürliche Erfindung irgendwelchen reaktionäres
Dunkelmänner hingestellt. Das Bundesverfasssungsgericht als demokratieverfälschende
Institution anzuprangem, war nur ein Weg, um sich einen sachlich durch nichts begründeten
Reim zu machen auf das Grundgesetz als prima geeigneten Ausgangspunkt emanzipatorischer
Politik. Die Kritik an "Mißständen" im Namen des Ideals "wahrer"
Demokratie - dieser Evergreen wird auch heute noch in verändertem Arrangement
heruntergedudelt, wenn z.B. die Ab schaffung des ius sanguinis mit der Begründung
gefordert wird, es handele sich dabei um ein "Relikt" schlechter deutscher
Tradition. Diese "Kritik" war schon immer das, als was sie sich heute
offen zu erkennen gibt: Das Genörgel notorischer Staatsbürger, denen einige
angeblich obrigkeitsstaatliche Relikte sowie die mangelhafte "Aufarbeitung
der Vergangenheit" die so sehnlich gewünschte Identifizierung mit "ihrem"
Staat vermehrte.
Jürgen Habermas, den man, seit er vor drei Jahren die deutschen Lichterketten
als praktizierten "Verfassungsschutz von unten" bezeichnet hatte, wohl
mit Fug und Recht einen alternativen Verfassungsschutztheoretiker nennen darf, plaudert
diese widersprüchliche Kontinuität ganz unverblümt aus: "Heute
braucht man nicht mehr auf die Barrikaden zu gehen, wenn das Bundesverfassungsgericht
es dankenswerterweise übernimmt, die liberalen Selbstverständlichkeiten
zu verteidigen" (Focus 35/95). An der Kritik der Linksliberalen und Linken
war nichts antagonistisch als der blanke Gestus; gerade der Gestus aber verschleierte
lange Zeit, daß das postfaschistische System, das auf der Lückenlosigkeit
des Konsenses über geschriebene und ungeschriebene Spielregeln beruht, gerade
in ihnen seine zuverlässigste Sicherung und Vervollkommnung erfuhr. Dank Habermas
und Konsorten ist das Grundgesetz heute ein Fetisch geworden und damit Gegenstand
fragloser Verehrung. Das Kruzifix-Urteil bestätigt in diesem Zusammenhang nur
noch einmal, daß im Kapitalismus die Religion zum gesellschaftlichen Leben
sich verhält wie das Hobby zum Beruf: Ihr darf ein jeder nachgehen oder auch
nicht - vorausgesetzt er erfüllt brav seine Pflichten gegen das höhere
Unwesen, vorausgesetzt er übt tagtäglich seinen Kult für die Fetische
von Kapital und Staat aus. Was sind schon solch altfränkische Dinge wie Kruzifix
und Halleluja gegen den Unbedingtheitsanspruch und totalitären Charakter der
staatsbürgerlichen Religion. Benedictus qui venit in nomine constitutionis
et legis. (1)
Was es mit der heftigen Kritik der Konservativen und Rechten am Bundesverfassungsgericht
auf sich hat, ist schwerer zu ergründen. Unerfindlich scheint zunächst,
was die Angriffe überhaupt motiviert. Daß die Konservativen im Dreieck
springen, weil die fraglichen Urteile durch eine für das Bundesverfassungsgericht
ungewöhnliche "Liberalität" gekennzeichnet seien - diese gern
vertretene These ist bloßes Wunschdenken der Wehret-den-Anfängen- Fraktion,
das mit dem Tenor der Urteile herzlich wenig zu tun hat. Das Kruzifix-Urteil z.B.
bestätigt nur noch einmal den rechtsstaatlichen Grundsatz der Trennung von
Staat und Kirche, der vielleicht in stockkatholische Kuhweiden wie Bayern noch nicht
so recht vorgedrungen sein mag, aber schließlich ist Bayern in dieser Hinsicht
nicht repräsentativ für die gesamte Bundesrepublik, in welcher die christlichen
Kirchen keineswegs so konstitutiv für den gesellschaftlichen Konsens sind,
als daß Politiker sich nun unbedingt zu deren Verteidigung bemüßigt
sehen müßten. Und in der Begründung des vielgerühmten Soldatenurteils
wird in der Wertung des Satzes "Soldaten sind Mörder" als durch Art.
5 GG gedeckte Meinungsäußerung darauf abgestellt, daß damit "eine
scharfe Mißbilligung des Tötens im Kriege im allgemeinen" zum Ausdruck
gebracht werde und eben keine "Mißachtung gegenüber den Soldaten
der Bundeswehr", wie das zuständige Oberlandesgericht vorher angenommen
hatte. D.h. die Bezeichnung der Bundeswehrsoldaten als "Mörder" erfüllt
nach wie vor die Straftatbestände der Beleidigung und Volksverhetzung. Der
scharfen Polemik gegen das Bundesverfassungsgericht geht es nicht um den Inhalt
der Urteile. Vielmehr kommt in ihr ein Wandel im Aggregatzustand staatlicher Souveränität
zum Ausdruck. Dazu die nachfolgenden staatskritischen Spekulationen.
Zur negativen Dialektik des liberalen Rechtsstaats
Die bürgerliche Gesellschaft laboriert seit jeher an dem Problem, wie aus dem
Durcheinander sich wechselseitig durchkreuzender und einander widersprechender Interessen
der diversen Privatsubjekte gesellschaftliche Einheit erwachsen soll. Frühbürgerliche
Ökonomie und Staatstheorie postulieren diese Einheit als bereits gelungen,
ohne sie aber nach dem Maß ihres eigenen Anspruchs vernünftig und durchsichtig
begründen zu können. So wie Adam Smith die theologische Kategorie der
"unsichtbaren Hand" bemühen muß, damit seine harmonistische
Konstruktion am Ende auch aufgeht, so muß die Staatstheorie den im allgemeinen
Gesetz zum Ausdruck kommenden Konsens der Staatsbürger, den sie als abgeleitetes
Resultat vernünftiger Diskussion zu rechtfertigen sucht, stets wieder als deren
fundamentale Voraussetzung einführen. Worin die Qualität wesenhafter,
unteilbarer Einheit, die der volonté génerale gegenüber der bloßen
Addition der Stimmen, also der volonté de tous, zukommen soll, denn eigentlich
entspringt, bleibt im Dunkeln. Indem die juristische Vernunft alles erklären
kann, nur nicht die Bedingungen ihrer selbst, schlägt sie notwendig in Unvernunft
um: sie kann den einen und unteilbaren Gemeinwillen nur als quasi-natürliche
Gegebenheit, als eine Ordnung höheren Grades, unterstellen. Materialistisch
aufgeschlüsselt erweist sich die gesellschaftliche Allgemeinheit, statt Produkt
freier Übereinkunft zu sein, vielmehr als die zum objektiven Zwang geronnene
gewaltförmige Zurichtung der Individuen durch den Staat. Als allgegenwärtig
gewordener streift dieser Zwang schließlich die Male seiner Entstehung ab
und erscheint den Individuen als Naturtatsache.
Dieser Fetischcharakter des Allgemeinen bleibt im großen und ganzen bloße
Potentialität, solange der liberale Staat darauf vertraut, daß der sich
selbst überlassene ökonomische Prozeß in eine klassenlose Bürgergesellschaft
mündet und so den Gemeinwillen, d.h. das Interesse aller am Erhalt des Bestehenden
als seine wesentliche Voraussetzung automatisch mitreproduziert. Für den liberalen
Rechtsstaat besteht keine Notwendigkeit, sich in eine formell-abstrakte Gesetzesordnung
und eine "höhere", inhaltlich-konkrete "Werte"-Ordnung
zu zerlegen, da deren Einheit fraglos gegeben scheint. Das Gesetz abstrahiert konsequent
sowohl von der Privatsphäre des Einzelnen als auch von konkreten sozialen Verläufen:
Es fordert den Individuen lediglich formell-abstrakten Rechtsgehorsam ab, aber nur,
weil darauf vertraut wird, daß legales Verhalten gleichzeitig die legitimen,
d.h. gesellschaftlich opportunen und gewünschten Resultate zeitigt. Die Fetischisierung
des Allgemeinen muß aber in dem Maße ungeschminkt hervortreten, in dem
nicht die Übertretung, sondern gerade die strikte Befolgung der auch juristisch
garantierten Gesetze des freien und gerechten Äquivalententausches kraft immanenter
Dynamik eine ökonomische und gesellschaftliche Krise heraufbeschwört,
die den Bestand des bürgerlichen Gemeinwesens insgesamt zu unterminieren droht.
Legale Ordnung und ihr legitimer Zweck treten auseinander. Der Staat, dazu angehalten,
die aus dem Ruder laufende Gesellschaft neu zu fundamentieren, rekurriert dabei
auf jene höhere, naturhaft-unentrinnbare Ordnung, als welche das objektive
Zwangsverhältnis sich präsentiert. Indem der Staat gezwungen ist, das
Allgemeine nun unmittelbar als substanzhafte Ordnung höheren Grades zu exekutieren
und sich dafür die entsprechenden generalklauselhaften Formeln zurechtzulegen,
negiert er aber in der Konsequenz sich selbst - als liberaler Rechtsstaat.
Die äußerste Konsequenz, in die dieser Widerspruch mündet, ist der
Faschismus. Er zieht die barbarische Konsequenz aus dem Liberalismus, indem er ihn
zugleich negieren muß und negiert ihn nur insofern, als er dessen Konsequenzen
zieht. Der Faschismus ist die bürgerliche Gesellschaft als Zwangsverhältnis
pur, abzüglich der liberalen Vermittlungen. Im Faschismus regrediert die bürgerliche
Gesellschaft gewissermaßen auf ihre elementaren Voraussetzungen - Regression
aber nicht als Rückfall in Archaik, sondern als Fortzeugung des Archaischen
in der und durch die Zivilisation. Der Faschismus macht das gesellschaftlich Allgemeine
unmittelbar als Natur und höhere Ordnung geltend. Der Fetisch völkischer
Blutsgemeinschaft erzwingt eine totale Aktivierung aller Bereiche des gesellschaftlichen
Lebens, rückhaltlose Parteinahme und bedingungslose Aufopferung jedes Einzelnen.
Aus dem - den Privatbürger noch verschonenden - abstrakt-allgemeinen Gesetz
wird der Führerbefehl, der keinen distanziert-abstrakten Gehorsam mehr erheischt,
sondern inhaltsvolle Treue. Die Homogenisierung der Bevölkerung zur völkischen
Kampfgemeinschaft ist identisch mit der Aussonderung der"Volksfremden",
die in der Vernichtung der Juden als des Anti-Subjekts ihren barbarischen Endpunkt
findet. Die allgemeine Vernunft erweist sich im Faschismus als "objektiver
Ungeist" (Krahl).
Von der demokratisierten Volksgemeinschaft
Als spätkapitalistischer Staat mit Modellcharakter hat die BRD den unvermittelten
Gegensatz von Demokratie und Faschismus hinter sich gelassen. Sie ist der Versuch,
einen demokratischen Verfassungsstaat ohne seine selbstnegatorischen, im Faschismus
resultierenden Konsequenzen zu errichten. Um einer faschistischen Krisenlösung
vorzubeugen, wird der Staat von vornherein als wehrhafter Garant sozialen Friedens
und sozialer Partnerschaft etabliert. Um der unvermittelten Setzung völkischer
Allgemeinheit zuvorzukommen, wird die Legalordnung von vornherein als Emanation
einer höheren, substanzhaft-konkreten Ordnung festgelegt. Diese "freiheitliche
demokratische Grundordnung" ist gewissermaßen der legalistisch gezähmte
Faschismus, die demokratische Miniaturausgabe der völkischen Gemeinschaft.
In struktureller Korrespondenz zu dieser im pliziert sie eine Radikalisierung der
Kriterien für die Bewährung als taugliches Gesellschaftsmitglied: die
Transformation legaler Freiheit in die Verpflichtung zu ihrem legitimen, d.h. gesellschaftlich
erwünschten Gebrauch, die Transformation abstrakten Gehorsams in bedingungslose
Loyalität. Abgezielt wird auf die freiwillige und möglichst restlose Verinnerlichung
des im staatlichen Gesetz explizit verdinglichten und politisch verdoppelten "Sachzwangs"
der faktischen Verhältnisse. Der anvisierte totale "Konsens der Mitte"
impliziert unmittelbar die totale Feinderklärung gegen die "Extreme".
In diesem Gefüge spielt nun das Bundesverfassungsgericht eine spezifische Rolle.
Zwar sind in der BRD gesellschaftliche Kräfte und Abläufe - vom Parteiensystem
über die Gewerkschaften bis zum außerparlamentarischen Protest - mittlerweile
in einem Maße formiert und verstaatet wie nirgendwo sonst und damit immer
schon zugeschnitten auf ein System des totalen Konsenses. Ein solches System bedarf
aber immer noch einer expliziten Sicherung in Form einer Art letztinstanzlichen
Schiedsstelle, die von vornherein jenseits des wie auch immer formellen gesellschaftlichen
Pluralismus und seiner Unwägbarkeiten angesiedelt ist - eine Institution, der
die Überprüfung von Verfassungstreue als exclusive Angelegenheit zugewiesen
ist und deren diesbezügliche Urteile unanfechtbar sind. Jenseits der gesellschaftlich-politischen
Tagesauseinandersetzungen, aber gerade dadurch befähigt, ausschließlich
der Sicherung des gesellschaftlichen Ganzen zu dienen, hat das Bundesverfassungsgericht
je nach den Umständen des Einzelfalles den Inhalt der "freiheitlichen
demokratischen Grundordnung" festgelegt, aktualisiert, bekräftigt und
erweitert. Daß seine Entscheidungen sich weniger nach den Maßstäben
juristischer Methodenreinheit, sondern letztlich nach denen der gesellschaftlichen
Faktizität richteten, ist zwar richtig, aber im Gegensatz zum Gezeter biederer
Rechtsidealisten kein Widerspruch zum Rechtsstaat, sondern das Eingeständnis,
daß dessen Funktionieren notwendig von nicht-rechtlichen Voraussetzungen,
d.h. von einer befriedeten Gesellschaftsordnung und der Kaltstellung der Systemfeinde
abhängt.
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem frühen Urteil die "freiheitliche
demokratische Grundordnung" als Ordnung bestimmt, "die unter Ausschluß
jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung
auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts des Volkes nach dem Willen der jeweiligen
Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt". Die FDGO hat also keine
konkretere Bestimmtheit als die negative, das existentielle Gegenteil zu allem Un-Freiheitlichen
zu sein. Unschwer zu erkennen, daß dieser Definition und der in ihr implizierten
Feinderklärung eine politische Konstellation zugrundeliegt, die mittlerweile
vergangen ist. Sie setzt - weltpolitisch - die Existenz des "realen Sozialismus"
voraus sowie - innerstaatlich - die Existenz von Kräften, die jedenfalls dem
Anspruch nach eine grundsätzliche Systemüberwindung proklamieren und sich
damit von vornherein verdächtig machen, "Feinde der Freiheit" zu
sein.
Nach 1989 hat nicht nur der "reale Sozialismus" sowie eine Linke aufgehört
zu existieren - jeder auch nur formale Antagonismus, wie er sich z.B. in der Konkurrenz
der Volksparteien oder in den Tarifauseinandersetzungen um die Verteilung des Sozialprodukts
manifestierte, ist verschwunden. Die freiheitliche Ordnung ist absolut geworden,
der Konsens wahrhaft total. Aber indem er sich als totaler vollendet, zerfällt
er zugleich - zum einen mangels widerstrebender Kräfte, an denen er seine Integrationskraft
überhaupt bewähren könnte. Er zerfällt zum anderen, weil allmählich
diejenigen Organisationen an Bedeutung verlieren, deren Daseinszweck im System des
formierten Pluralismus an ihrem ihr Wesen verbergenden Scheincharakter haftete.
Im Klartext: eine SPD, die ihre mit der CDU im Wesen identische Politik nicht mehr
mit den Versprechen grundlegenden Wandels und des Aufbruchs zu neuen Ufern verzuckert,
sondern in allen Fragen einfach dasselbe feilbietet wie die Regierungspartei, ist
überflüssig - und in gewisser Hinsicht trifft diese Entwicklung eben auch
das Bundesverfassungsgericht. Als nicht nur mit einfachen Rechtsfragen befaßtes
Gremium, sondern als letztinstanzlicher Exekutor staatspolitischer Notwendigkeiten
steht das Bundesverfassungsgericht zwar strukturell dem Führerbefehl näher
als einem Gericht. Als Gericht, das es trotz alledem ja ist, muß es bei seinen
diesbezüglichen Entscheidungen zumindest den Schein juristisch-methodischer
Rechtsprechung wahren und kann einmal formulierte Grundsätze nicht einfach
über den Haufen schmeißen. Der Effekt, daß die Festlegung der Gemeinwohlbelange
nicht einfach nur politische Entscheidungen sind, sondern zusätzlich die Form
von Gerichtsurteilen annehmen, gegen die kein Einspruch mehr möglich ist, war
absolut notwendig zu einer Zeit, als es für die BRD noch um die Erlangung voller
Souveränität nach innen und außen ging: deshalb die Tabuisierung
jeglicher Kritik am Bundesverfassungsgericht. Nachdem dieses Ziel erreicht ist,
hängt der "Konsens der Demokraten" in der Schwebe und bedarf einer
nach Lage der Dinge neuen Festlegung. Nichts eint dabei eine Nation mehr als - wie
Max Weber wußte - das "im Ernst des Todes" liegende "Pathos".
Gerade das bislang hochgeschätzte legalistische Moment des Bundesverfassungsgerichts
wird eher hinderlich, wo es gilt, zur Beförderung der ausgebliebenen "inneren
Einheit" den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr nach 1945 vorzubereiten, und
gemessen daran ist z.B. selbst das voll und ganz FDGO-kompatible Soldatenurteil
noch zu spitzfindig und kompromißlerisch.
Entscheidend aber ist, daß das Bundesverfassungsgericht über kurz oder
lang deshalb ins zweite Glied rücken dürfte, weil dank der wiedergewonnenen
vollen Souveränität und angesichts faktischer Oppositionslosigkeit der
Staat in die glückliche Lage versetzt ist, die Definition staatspolitischer
Notwendigkeiten selber übernehmen zu können, ohne dazu unbedingt höchstrichterlicher
Bekräftigung zu bedürfen. Die bislang zwischen Staat und Bundesverfassungsgericht
aufgespaltene Souveränität weicht einer Konstellation, in der das Bundesverfassungsgericht
als Legitimitätsreserve fortexistiert, die Souveränität - die bekanntlich
bedeutet, über den Ausnahmezustand zu entscheiden - wieder bei Parlament und
Staatsbürokratie liegt. Im Effekt ist damit eine veritable Demokratisierung
der BRD eingetreten, zu der ideologisch mit beigetragen zu haben die Freunde der
wahren und unverfälschten Demokratie sich herzlich beglückwünschen
können. Das dazugehörige staatsbürgerliche Glaubensbekenntnis in
seiner aktuellen Fassung lautet aber im Gegensatz zur kirchlichen Liturgie nicht
"Credo in unum deum", sondern: "Gerade wir als Deutsche müssen
unserer besonderen Verantwortung gerecht werden". Zur Legitimation ausgesuchtester
Verbrechen eignen sich dieses Stoßgebet und Bundesadler so gut wie einst Brettlsepp
und Vaterunser.
Clemens Nachtmann
Anmerkung: 1) Gebenedeit sei, der da kommt im Namen
der Verfassung und des Gesetzes: leicht überarbeiteter Teil der katholischen
Messe.
[ Top | Zurück
]
Most recent revision: April 07, 1998
E-MAIL:
Martin Blumentritt