Robert Bösch
UNHEIMLICHE VERWANDTSCHAFT
Anmerkungen zum Verhältnis von Marxismus-Leninismus und Antisemitismus
(Anläßlich eines Referates von Thomas Haury, gehalten am 25.2.94
in der Roten Fabrik, Zürich). (1)
Die Frage, ob es so etwas wie einen 'linken Antisemtismus' gibt, oder ob diese Verbindung
eine logische Unmöglichkeit sei, ist weder neu noch bislang überzeugend
gelöst.
Sie entzündet sich nicht zufällig immer wieder an der Existenz des Staates
Israel und seiner Politik im Nahen Osten, stellt dieser Staat, dessen Entstehung
untrennbar mit der jahrhundertelangen Verfolgung der Juden und ihrer vom Nationalsozialismus
betriebenen Vernichtung verbunden ist, doch eine besonders widersprüchliche
Erscheinung dar: einerseits ein bürgerlicher Nationalstaat (noch dazu in beinahe
permanentem Kriegszustand) mit allen damit verbundenen Implikationen, andererseits
der Fluchtpunkt von Menschen, die seit jeher das bevorzugte Objekt der gesellschaftlichen
Ausagierung und Abreaktion von Affekten und Ressentiments sind, und als solcher
der einzige Nationalstaat, dessen moralische Legitimation unmittelbar einsichtig
ist.
Der mit dieser Situation verbundene kategorische Imperativ, den Hitler den Menschen
aufgezwungen hat und der darin besteht 'ihr Denken und Handeln so einzurichten,
daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe' (Th.W.
Adorno, Negative Dialektik) (2), macht es notwendig,
die Frage nach den Beziehungen von Antikapitalismus und Antisemitismus neu zu stellen.
Freilich sind die Unterscheidungen von 'links' und 'rechts' dabei kaum noch hilfreich,
zeigt es sich doch immer mehr, daß rinks und rechts heute durchaus zu velwechsern
sind, weil sie sich fast bis zur Ununterscheidbarkeit einander angenähert haben.
Um zu verstehen, weshalb der Antizionismus als linke Variante des Antisemitismus
eine geradezu pathologisch erscheinende Fixierung auf Israel besitzt, die zwischen
der trotzig-infantilen Frage, ob man Israel bzw. 'die Juden' denn nicht kritisieren
dürfe, und der idiotischen Behauptung, Israel sei schlechthin faschistisch,
keine Nuancen zuläßt, soll im nachfolgenden Text versucht werden, thesenhaft
zu begründen, daß im Befangenbleiben des mainstream der Linken in der
Ideologie des Marxismus-Leninismus das Umkippen in den Antisemitismus strukturell
angelegt ist.
Seit der Oktoberrevolution hat sich die westliche Linke in bezug auf den Marxismus-Leninismus
definiert, sei es positiv oder negativ. Die Erfahrung einer Revolution, in der objektiver
Geschichtsverlauf und revolutionäre Bereitschaft der Massen zusammenzufallen
schienen, wurde vom kommunistischen mainstream in einer Weise absolut gesetzt, die
den Leninismus als die einzig mögliche Form des Marxismus erscheinen ließ.
Aber bereits das Ausbleiben der 'revolutionären Kettenreaktion' im Westen stürzte
den Marxismus-Leninismus in eine Krise, von der er sich nie mehr wirklich erholen
sollte. Die Erfahrung des Auseinandertretens von 'subjektivem Faktor' und angeblich
'objektiv' revolutionärer Situation konnte in leninistischen Kategorien nie
anders als durch die Frage nach dem Klassenbewußtsein und seiner adäquaten
Organisierung verarbeitet werden. Es reflektiert sich darin die Problematik, daß
die konkreten Proletarier als vereinzelte Individuen, die sich in der Produktionssphäre
zueinander ebenso in Konkurrenz sehen wie gegenüber dem ihre Arbeitskraft anwendenden
Kapital, während sie in der Zirkulationssphäre nur als gleichgültige
Geldbesitzer aufeinander treffen, die auf die Kapitalien als Eigentümer der
benötigten Konsumgüter verwiesen sind, nie jenem ideellen, an-sich-seienden
Klassenindividuum entsprachen, dessen Zu-sich-kommen in der kommunistischen Partei
bereits organisatorisch vorweggenommen sein sollte.
Dies deshalb, weil die Kategorie der Lohnarbeit mit zunehmender gesellschaftlicher
Entwicklung ihre Verallgemeinerung erfährt und der Proletarier dadurch seine
anfänglich noch prekäre rechtliche Stellung überwindet und sich zum
politisch gleichberechtigten Staatsbürger erhebt (dies verbunden mit seiner
zunehmenden Bedeutung als Konsument (4). Diese 'Verbürgerlichung'
des Lohnarbeiters (5) ist nur der Ausdruck einer Entwicklung,
in der das Kapital als sich selbst verwertender Wert seine ihm adäquate Form
annimmt, reines gesellschaftliches Produktionsverhältnis wird, was sich auf
der Kapitalseite als tendenzielle Auflösung der bürgerlichen Klasse darstellt,
d.h. als die zunehmende Bedeutungslosigkeit der Person des Kapitalisten im Produktionsprozeß,
seine Ablösung durch einen, das Verwertungsinteresse repräsentierenden,
bezahlten Agenten.
Dem auf die Erscheinungsebene des Kapitalverhältnis (d.h. auf die soziologischen
Klassenkategorien) fixierten Marxismus-Leninsmus stellt sich die Entwicklung zum
Aktien- und Finanzkapital als negative Aufhebung eben dieses Kapitalverhältiüsses
dar, und zwar insofern, als sich die Kapitalisten angeblich in reine Geldkapitalisten
und damidt in bloße Zirkulationsagenten verwandeln, die nicht mehr im direktem
Gegensatz zur Lohnarbeit stehen, sondern ohne Verhältnis zu dieser erscheinen.
Der Produktionsprozeß und die Kapitalverwertung einen auseinanderzutreten
und einander äußerlich zu werden. In dieser entwickeltsten Form der Kapitalmystifikation
stellt sich das Kapital de facto als anonyme Macht dar, die jenseits der Produktion,
scheinbar losgelöst von ihr, an der Börse als Zentrum der Kapitalzirkulation,
ihre undurchschaubaren, von bloßen Profitinteressen geprägten Entscheidungen
trifft.
Im Marxismus-Leninismus wird diese Entwicklung bekanntlich in Lenins Theorie vom
Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus reflektiert. Der Übergang
zum Aktienkapital wird von Lenin als Ablösung des freien Konkurrenzkapitalismus
durch einen Monopolkapitalismus interpretiert, der durch die Bildung großer
Trusts gekennzeichnet sei, deren Kontrolle in den Händen einiger weniger 'Finanzoligarchen'
liege.
Diese Monopole, so Lenin, ermöglichten es, das 'blinde Wüten des Wertgesetzes'
partiell aufzuheben, da es den wenigen Großbetrieben nun leicht falle, die
Produktion untereinander abzusprechen. Der Produktionsprozeß als technisch
rationale Basis erscheint Lenin als im Grunde bereits sozialistisch, so daß
lediglich seine weiterhin 'privatwirtschaftliche Hülle' aufgehoben werden masse.
Die 'Fäulnis' des Kapitalismus besteht für ihn also im Widerspruch zwischen
der vergesellschafteten Produktion, die den überwiegenden Teil der Bevölkerung
in Lohnabhängige verwandelt hat, und der privaten Aneignung des Reichtums durch
einige wenige unproduktive Kapitalisten ('parasitäre Schmarotzer'), die zugleich
die Beseitigung dieses Widerspruches hintertreiben und also 'künstlich verzögern'.
Das Kapital in seiner 'fetischartigsten Form' (Marx), als zinstragendes Kapital,
in dem der Bezug der Verwertung zur materiellen Reproduktion der Gesellschaft ausgelöscht
erscheint (6) kann von Lenin nicht als vollendete Gestalt der Verdinglichung der
gesellschaftlichen Verhältnisse erkannt werden, sondern muß sich seiner
Theorie gemäß in ein unmittelbar personalistisch verstandenes 'Herrschaftsverhältnis'
übersetzen. 'Herrschaft' erscheint bei Lenin als bewußte Verfügung
über die Zusammenhänge der gesellschaftlichen Reproduktion als solche
und keinesfalls als das, was sie realiter ist: Verfügungsgewalt über den
wertförmigen Reichtum, dessen Form den 'Herrschenden' allerdings selbst bereits
bewußtlos vorausgesetzt ist, und von der sie dementsprechend ebenso 'beherrscht'
werden wie die über ihre Eigentumslosigkeit definierten 'Beherrschten'. In
dieser subjektivierten Sichtweise mutiert 'Herrschaft' zu einer bloßen Willenskategorie,
aus der heraus nun sämtliche gesellschaftliche Friktionen als Resultate individueller
Böswilligkeit oder maßloser Profitgier begriffen werden müssen.
(7)
Diese folgenschweren theoretischen Verkürzungen haben ihre Ursache in der mangelnden
begrifflichen Durchdringung der Wertform. (8)
Dies deshalb, weil der Wert von Lenin in erster Linie als Zirkulationskategorie
begriffen wird, die vermittels des Marktes die gesellschaftliche Distribution des
Reichtums ermögliche(9). Der durch die abstrakte
Arbeit konstituierte Wert als historisch bestimmte Form dieses Reichtums wird so
zu einer 'der Arbeit' bloß äußerlich anhaftenden Bestimmung, von
der getrennt sich diese in 'reiner', nicht länger von der 'Anarchie des Marktes'
verzerrter Form entfalten könnte (10). Der Sozialismus,
verstanden als die warenförmige Planung der industriellen Produktion (die als
'neutrale', vom Verwertungsprozeß unberührte 'Produktivkraft' erscheint),
wird zum Verwirklichungsmedium der als proletarische Kategorie schlechthin verstandenen
und verherrlichten Arbeit.
Dieses Äußerlichsetzen von Produktions- und Zirkulationsprozeß
läuft über die Ontologisierung der 'produktiven' Arbeit (11)als 'konkret-positives' Gegenprinzip zur 'unproduktiv-negativen'
Zirkulationssphäre mit ihren abstrakt-universalistischen Kategorien von Geld,
Zins und Recht beständig Gefahr, bloß die nazistische Propaganda von
'schaffendem' versus 'raffendem' Kapital zu reproduzieren. Denn so wie dem Marxismus-Leninismus
erscheint auch den Nazis das (als Vorwegnahme des heutigen Weltkapitals per se internationalische)
Finanzkapital als Hauptgegner, welches von ihnen unmittelbar mit 'den Juden' identifiziert
wird, die als Verkörperung von 'Rast- und Wurzellosigkeit (Ahasverus), Internationalität,
'Abstraktheit', als 'parasitär von fremder Arbeit lebend, alle Werte zersetzend,
als geheime Macht hinter dem Rücken der Menschen das Schicksal der Gesellschaften
bestimmend' (Th. Haury) gesetzt werden.
Während sich der Rassismus dadurch auszeichnet, daß er seine Opfer durch
eine an Stereotypen orientierte 'gesteigerte Sichtbarkeit' (G. Jacob) selektiert
verfolgt der Antisemitismus die Juden (und die, die er für solche hält)
(12) aufgrund der Unsichtbarkeit, die er ihnen zuschreibt
aufgrund der imaginierten Fähigkeit 'des Juden', sich unkenntlich zu machen,
sich hinter Masken zu verbergen, was es ihm erst ermögliche, seine Schliche
und Verschwörungen zu planen. (13)
Daraus ergibt sich die fundamentale Bedeutung einer Kritik des Antisemitismus, da
dieser als Form einer verkürzten und ideologisch verzerrten Kapitalismuskritik
(die der Marxismus-Leninismus in wesentlichen Momenten teilt) gleichwohl beansprucht,
die gesellschaftliche Realität als Totalität zu begreifen.
Exkurs
Als Lenins 'philosophisches' Hauptwerk gilt die 1908 erschienene Schrift Materialismus
und Empiriokritizismus. Vordergründig gegen die Theorien von Ernst Mach gerichtet,
ist sie in erster Linie Ausdruck eines innerbolschewistischen Richtungsstreites,
in dem Lenin einen seiner bekannten Kämpfe gegen 'linke Abweichler' führt,
in diesem Fall vertreten durch den 'Linksbolschewisten' Bogdanov, der, entgegen
Lenins Position, einen Wahlboykott der Duma befürwortet. Die 'philosophische'
Widerlegung des 'Empiriomonisten' Bogdanov ist das Vehikel für die Ausschaltung
des antilegalistischen Politikers Bogdanov.
Lenin will also beweisen, daß der Empiriokritizismus von Mach und Bogdanov,
der die Identität von Geist und Materie behauptet, lediglich einen 'typischen
philosophischen Revisionismus' darstelle, denn, so Lenin im Geiste von Engels: der
Gegensatz von Materialismus und Idealismus sei ewig, folglich bleibe für den
Marxisten nur die Möglichkeit, das richtige Lager zu wählen, das des Materialismus.
Die Wahl des richtigen Lagers besteht für Lenin in der Theorie der 'aktiven
Widerspiegelung', einer Widerspiegelung also, die keine passive Einschreibung des
Seins in den Geist sein soll, sondern die praktische Aneignung der Außenwelt
durch das Bewußtsein. Das Unerkannte in der Außenwelt ist so lediglich
das noch nicht Erkannte (man könnte auch sagen: das noch nicht Beherrschbare),
weshalb das unerkennbare Ding-an-sich Kants, jenes 'intelligible Substrat', 'welches
der äußeren Erscheinung, die wir Materie nennen, zugrunde liegt' (Kritik
der reinen Vernunft), das sowohl Engels wie Lenin als Einfallstor der Religion in
die Philosophie erscheint, dementsprechend liquidiert wird.
Diese kritische Liquidation des Dings-an-sich knüpft an die Kant-Kritik Hegels
an. Dieser hatte die transzendentale Einheit der Apperzeption bereits dafür
kritisiert nicht inhaltliches Prinzip, sondern leere Einheit zu sein: 'Das Ding-an-sich
ist... nicht eine jenseits seiner äußerlichen Existenz befindliche bestimmungslose
Grundlage, sondern ist in seinen Eigenschaften als Grund vorhanden - aber zugleich
als bestimmter Grund, d.h. ... es ist nur insofern in sich reflektiert und an sich,
insofern es äußerlich ist' (Wissenschaft der Logik II). Hegel wendet
sich also gegen das 'völlige Abstraktum', als welches sich das Ding-an-sich
Kants darstellt, und als das es als reine, vermittlungslose Setzung den Bedingungen
von Raum und Zeit entzogen scheint und demnach jeder Veränderung. Dieser Gedanke
Hegels, daß das Ding-an-sich als unerkennbares jede Prozessualität des
Bewußtseins sistiert, wird von Lenin (und vor ihm von Engels im Anti-Dühring)
aufgegriffen. Während jedoch Hegel diese Prozessualität als den mit sich
selbst vermittelten Gott bestimmt als absolute Idee, deren Explikation Aufgabe der
Philosophie sei, wird sie von Lenin als 'die ewige unendliche Annäherung' (Philosophische
Hefte, LW 38) des widerspiegelnden Bewußtseins des Menschen an die Erkenntnis
der Natur verstanden. Die erkenntnistheoretische Vorstellung des Dings-an-sich entfällt
somit dadurch, daß Bewußtsein letztlich empiristisch in die Materialität
der Welt aufgelöst wird: 'Die Praxis des Menschen, milliardenmal wiederholt,
prägt sich dem Bewußtsein des Menschen als Figuren der Logik ein' (LW
38)(14).
Diese an Engels orientierte Deutung der Hegelschen Philosophie als eines 'auf den
Kopf gestellten Materialismus' (Philosophische Hefte, LW 38) enthält zwei entscheidende
Prämissen: 1. Arbeit als ontologisches Prinzip der Vermittlung von Bewußtsein
und Materie; 2. Die These von der Begreifbarkeit der Natur dadurch, daß die
Materie sich nach den Gesetzen der Dialektik bewegt.
Diese Positionen, die seither zum dogmatischen Grundbestand des Marxismus-Leninismus
gehören, fallen in entscheidender Weise hinter die Kantsche Theorie des Dings-an-sich
zurück. Die Unterscheidung von Ding-an-sich und Erscheinung bei Kant, die Engels
durch das Experiment und die Industrie, vermittels derer der Mensch sich den Naturvorgang
zu seinen Zwecken dienstbar macht für widerlegt hält, zielt nicht auf
die Erkenntnis partikularer Naturvorgänge, deren Beherrschbarkeit in der menschlichen
Geschichte beständig zunimmt, sondern auf den universalen Zusammenhang der
Naturvorgänge und das Prinzip, welches ihn konstituiert, d.h. auf die Methode
naturwissenschaftlicher Erkenntnis, die als solche nicht selbst Objekt der Naturwissenschaft
sein kann. Die Konstitution der Bewußtseinskategorien wird dementsprechend
im Marxismus-Leninismus empiristisch-sensualistisch fundiert. Diese werden behandelt
als Abstraktionen aus der vorgefundenen empirischen Realität.
Die Problematik, daß das Bewußtsein so lediglich als passiver Abdruck
der Außenwelt erscheint, versucht der Marxismus-Leninismus dadurch zu umgehen,
daß er Arbeit als vermittelnde Kategorie zwischen Bewußtsein und Materie
setzt, die es ermöglicht, deren Verhältnis zu prozessualisieren, indem
die Veränderung der Natur gleichzeitig den
Menschen selbst verändert. Dies impliziert aber eine analog zur Dialektik von
Mensch und Natur gesetzte Naturdialektik, (15) da
nur eine solche letztlich die Konstitution der Bewußtseinskategorien durch
die materielle Realität verbürgt. Die Widerspiegelungstheorie setzt die
Natur als dialektisch, während die Materialität der dialektischen Natur
die Adäquatheit der Widerspiegelungstheorie verbürgt; ein Zirkelschluß,
der die Subjekt-Objekt-Dichotomie nicht aufhebt, sondem verewigt. Diese Verewigung
schlägt sich ihrerseits im enthistorisierten Arbeitsbegriff des Marxismus-Leninismus
nieder, der 'Arbeit' als stoffliche Interaktion zwischen Mensch und Natur im Kontext
der Widerspiegelungstheorie zu jener bestimmungslosen Abstraktion gerinnen läßt,
die in der kapitalistischen Ökonomie erst zu ihrem Begriff kommt und dabei
jene 'technokratischen Züge' enthüllt, 'die später im Faschismus
auftreten werden' (W.Benjamin, Über den Begriff der Geschichte).
Aus der Sicht des ontologischen Arbeitsbegriffes, der letztlich mit dem der bürgerlichen
Nationalökonomie zusammenfällt, muß deshalb die Marxsche Kategorie
der abstrakten Arbeit als Vermittlungsbegriff der kapitalistischen Totalität
unverständlich bleiben, (16) denn der Marxismus-Leninismus
erblickt im Verhältnis der zirkulativen Bestimmungen von Lohnarbeit und Kapital
das konstitutive Element. Abstrakte Arbeit wird dabei ontologisch-empirisch als
quantifizierbare Wertsubstanz der sich nach Äquivalenten austauschenden Waren
bestimmt, und deren innerer Widerspruch als Gegensatz von Wertsubstanz (als Einheit
von Wertgrund und Wertmaß) einerseits und Lohnarbeit (als preisbestimmte Ware
und äußerliches Wertmaß) andererseits begriffen, d.h. als 'Unverträglichkeit
von gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung' (Anti-Dühring).
Diese 'Unverträglichkeit' erscheint also in der Ablösung der Zirkulationssphäre
vom Produktionsprozeß begründet, spezifischer durch die juristische Form
des Privateigentums gesetzt, dessen Ausrichtung auf die Profitmaximierung verhindere,
daß die Zirkulationssphäre zum produktionsgerechten Austauschmedium der
inzwischen vergesellschafteten Arbeit werde. (17)
Im Bemühen, das Kantsche Ding-an-sich erkenntnistheoretisch zu vermeiden, ist
der Marxismus-Leninismus gezwungen, Arbeit als substantiell zu setzen, da nur durch
sie eine Vermittlung zwischen Bewußtsein und Materie möglich ist. Das
Ding-an-sich kehrt so, materialistisch gewendet, durch die Hintertüre wieder
zurück, da die Arbeit als Wertsubstanz 'gleiche menschliche Arbeit' (Marx)
darstellt, die als solche nicht unmittelbar erscheinen kann, sondern nur in der
Geldform. Die als Sozialismus propagierte ökonomische Planung auf der Grundlage
von Arbeitszeitrechnung kann also die gesellschaftliche Objektivität nicht
aufheben, sondern lediglich als aufgehobene behaupten.
Dies verdeutlicht auch die Vorstellung vom Proletariat als der KIasse-an-sich: 'Der
moderne Sozialismus ist weiter nichts als der Gedankenreflex dieses tatsächlichen
Konflikts (zwischen Produktivkräften und Produktionsweise), seine ideelle Rückspiegelung
in den Köpfen zunächst der Klasse, die direkt unter ihm leidet, der Arbeiterklasse'.
Unter den Prämissen der Widerspiegelungstheorie müssen die empirischen
Proletarier aber notwendig hinter den an sie gestellten Anforderungen zurückbleiben,
so daß es 'die Aufgabe des theoretischen Ausdrucks der proletarischen Bewegung,
des wissenschaftlichen Sozialismus' sei, 'der zur Aktion berufenen, heute unterdrückten
Kdasse die Bedingungen und die Natur ihrer eigenen Aktion zum Bewußtsein zu
bringen' (Anti-Dühring). Den wissenschaftlichen Sozialismus und damit das idealtypische
proletarische Klassenbewußtsein repräsentiert die kommunistischhe Partei
als intelligibles Subjekt dessen Beschlüsse der empirische Arbeiter lediglich
post festum nachvollziehen kann.
Insofem knüpft der Marxismus-Leninismus mit seiner Theorie von der 'Avantgarde
des Proletariats' erkenntheoretisch an das absolute Ich in der Philosophie Johann
Gottlieb Fichtes an, das die Verschmelzung des transzendentalen Subjekts mit dem
Ding-an-sich darstellt und politökonomisch an die volonté génerale
Jean Jacques Rousseaus, der die Unterordnung des empirischen bourgeois unter den
ideellen citoyen verlangt. In der UdSSR wird letzterer in den Fünfjahresplänen
aufgehen und das absolute Ich Stalin heißen.
Die Widerspiegelungstheorie hebt die Dichotomie von Theorie und Empirie also nicht
auf, sondern verschärft sie noch.
Weil sie Empirie auf die sinnlich wahrnehmbare Außenwelt reduziert, das Bewußtsein
also nur inhaltlich thematisiert und nicht als Formproblem im Sinne des Kantschen
Ding-an-sich, vermag sie über die abstrakte Negation des Transzendentalen hinaus
dieses nur zu reproduzieren.
Die Notwendigkeit, die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori
historisch-empirisch zu beantworten,"(18) verhindert
also, das Kapitalverhältnis als sinnlich-übersinnliches zu begreifen,
und danüt auch ein Verständnis von Dialektik als Widerspruch zwischen
Ding und Begriff, Erscheinung und Wesen. Im Bedürfnis nach Unmittelbarkeit,
wie es sich in der Ontologisierung der Arbeit niederschlägt, enthüllt
sich die affirmative Tendenz des Marxismus-Leninismus, der die kapitalistische Gesellschaft
nicht in ihrer Totalität zu bestimmen und aufzuheben versucht, sondern lediglich
ein Moment innerhalb dieser vertritt und es als entgegengesetztes bzw. transzendentes
bestimmt.
Der Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft entkommt er so jedoch nicht, vielmehr
kehrt sie im widersprüchlichen Verhältnis von Arbeiterklasse, die unmittelbar
der Realität gegenübersteht, und kommunistischer Partei als ihrer abstrakten
Instanz, die diese bloße Unmittelbarkeit in Theorie übersetzt, als Verdrängte
zurück. Da der Marxismus-Leninismus die Widerspruchslosigkeit als Prädikat
der Unmittelbarkeit nicht aufgeben kann, so wie die bürgerliche Ideologie überhaupt
das Wesen ihrer Gesellschaft nicht als Wesenlosigkeit akzeptieren kann, ist er wie
diese gezwungen, in Krisenmomenten den Schein gewaltsam herzustellen.
Während bei Marx die Methode der Entwicklung der Kategorien der politischen
Ökonomie zugleich die Kritik dieser Kategorien ist, worin er die erscheinende
Unmittelbarkeit der Empirie als vermittelt begreifbar macht, Empirie bei ihm den
Kategorien weder äußerlich noch auf diese reduzierbar ist, das übersinnliche
also eine materielle Struktur besitzt, werden im Marxismus-Leninismus die Kategorien
mit dem Empirischen zusammengedacht bzw. gegen dieses ausgespielt. Das Wesen wird
auf die Erscheinung reduziert und die Kritik bleibt eine äußerlich an
die bürgerliche Gesellschaft herangetragene Methodik.
Es ist dieser bürgerliche Charakter der Erkenntnis- und Gesellschaftskritik
des Marxismus-Leninismus, der sie höchst anfällig für den Antisemitismus
als originär bürgerliche Ideologie macht. Denn so wie der Marxismus-Leninismus
die Abstraktheit, Mobilität, Internationalität, Ausbeutungspotenz etc.
des Kapitals vermittels der juristischen Form des Privateigentums aus der Zirkulationssphäre
erklärt, d.h. der Empirie als ebenso äußerlich wie auf diese reduzierbar
behauptet, erzielt der Antisemitismus das gleiche Resultat mit weitaus geringerem
theoretischen Aufwand vermittels der Figur 'des Juden'.
Mit der Leninschen Imperialismustheorie und der durch sie kanonisierten Vorstellung
vom 'Finanzkapital, das in wenigen Händen konzentriert ist' und die Welt mit
seinem 'Parasitismus' und seinen 'amerikanischen Sitten' überziehe, erreicht
der Marxismus-Leninismus seinen Scheitelpunkt. (19)
Die mit der Ontologie der Arbeit verknüpfte Idee der Befreiung der gesellschaftlichen
Produktion von der kapitalistischen Aneignung als 'geschichtlichem Beruf des modernen
Proletariats' (Anti-Dühring), mußte in dem Maße fragwürdig
werden, wie die Arbeiterklasse nicht nur mit wehenden Fahnen in den Ersten Weltkrieg
zog, sondem sich auch als unfähig erwies, den Faschismus in Europa zu stoppen.
Endgültig obsolet wurde sie mit der Integration des metropolitanen Proletariats
in die fordistische Nachkriegsgesellschaft.
Und wie bereits die Entwicklung der Zwischenkriegszeit verdeutlicht hatte, daß
die zirkulationsfixierte marxistisch-leninistische Revolutionsvorstellung, einmal
in die Defensive getrieben, durchaus mit antisemitischen Denkmustern konvergieren
kann (20), brachte ihre 'maoistisch eingefärbte'
Verfallsform, 'das antiimperialistische Weltbild' in Form des Antizionismus, die
ganze Wahrheit über die antisemitische Potenz des Marxismus-Leninismus ans
Licht wird hier doch 'die strukturelle Affinität zur teilweisen inhaltlichen
Affinität' (Th. Haury).
Der Antizionismus, gemeinhin als die einzig mögliche Form von Antisemitismus
nach Auschwitz bezeichnet, verdankt seine Verbreitung der Tatsache, daß seit
dem Zweiten Weltkrieg der Marxismus-Leninismus die antikolonialen Befreiungsbewegungen
in den 'AAA-Staaten' (Afrika, Asien, America latina) zum 'revolutionären Subjekt'
ausersehen hat und dabei spezifisch die 'arabischen Völker', bei denen 'das
Anwachsen des antiimperialischen Bewußtseins' besonders spürbar sei (21). Exemplarlisch findet sich dieser Standpunkt bei
Karam Khella, der in seiner Schrift Imperialismus heute ausdrücklich auf Lenins
Imperialismusanalyse rekurriert, die sich 'theoretisch durchgesetzt und in der revolutionären
Praxis bewährt' habe. Den Begriff 'Finanzkapital', den Lenin bekanntlich vom
SPD-Theoretiker Hilferding übernommen hat, hält Khella für 'durchaus
treffend gewählt'. Lenin wolle 'gerade als Besonderheit des Finanzkapitals
den Aspekt des 'Parasitismus' hervorheben'. Die Finanzoligarchie produziere nicht,
dennoch kassiere sie die Profite ein: 'sie ist parasitär'.
Ihre Herrschaft beruhe nicht mehr wie in Zeiten des Kolonialismus auf dem Export
von Waren, sondern auf der Kapitalausfuhr. 'Die personalen Träger des Monopolkapitalismus'
würden dabei zwar durch den Konzentrationsprozeß 'immer weniger, aber
mächtiger'. Denn 'die überragende Bedeutung des Finanzkapitals ... bleibt
nicht auf den nationalen Rahmen beschränkt, sondern strebt nach Weltherrschaft'.
Im Zentrum dieses Strebens stünden die USA (22),
die im Rahmen ihres Kampfes gegen den 'antiimperialistischen Befreiungskampf' (23) eine 'Einkreisungsstrategie' gegenüber den
'sozialistischen Staaten' verfolgten, die diese sowohl 'von außen ... bedrohen
und von innen ... destabilisieren' wie auch 'die weltweite antiimperialistische
Solidarität... erschweren' solle.
'Zur Durchsetzung und Ausübung ihrer militärischen Kontrolle über
die arabische, insbesondere ölreiche Region', die aufgrund des 'antiimperialistischen
Widerstandes' ein 'besonders empfindlicher Abschnitt' der US-Einkreisungsstrategie
sei, wäre deshalb Israel 'ins Leben gerufen worden', das 'ein wichtiger Stützpfeiler
imperialistischer Interessen im Nahen Osten' sei, da es 'als Hauptaufgabe die Unterjochung
von Völkern und die Niederschlagung von Befreiungsbewegungen' habe. 'Der Schwerpunkt
des Zionismus' liege dabei auf der 'totalen Vernichtung der PLO'.
Daß 'der US-Imperialismus' 'mit der Kapitalausfuhr' auch gleich den Faschismus
exportiere, dessen 'Begleiterscheinungen ... Massenvernichtung und Völkermord'
seien, zeigt sich für Khella exemplarisch am 'Fallbeispiel' Israel, dem er
auch gleich seine 'neue Faschismusthese' widmet, die aus der Imperialismustheorie
abzuleiten sei.
Der 'demokratisch' legitimierte Faschismus' Israels verdanke seine 'Genese' 'dem
Hintergrund der allgemeinen Krise des transnationalen Kapitals', das Israel 'ins
Leben gerufen' habe, 'um Klassenkämpfe national und übernational (,) ...
im arabischen Raum und in benachbarten Regionen zu zerschlagen'. Wenn dieser Behauptung
das Argument entgegen gehalten wird, daß Israel eine parlamentarische Demokratie
mit einem Mehrparteiensystem ist, so sei dieser Einwand rein formal, weil er 'die
zionistischen Parteien strukturell oberflächlich (?) betrachtet und nicht mehr
analysiert. Die zionistischen Parteien - und mit Ausnahme von Rakah (24) handelt es sich in Israel nur um zionistische Parteien - sind
sich in der Sache absolut einig. Sie haben weiterhin absolut identische objektive
Interessen ...: Erhalt der Siedlungsgesellschaft und Zerschlagung des antizionistischen
und antiimperialistischen Widerstands der Palästinenser und anderer arabischer
Völker. Eine (andere) faschistische Bewegung würde in Israel kaum ein
anderes Programm haben als die bestehenden faschistischen Parteien.... Vergleichen
wir die Politik der beiden Blöcke (Likud und Mirach; R.B.), so stellen wir
kaum prinzipielle Unterschiede fest. Sie überbieten sich im Terror, Vertreibung,
Aggression und Massermord. ... Da Israel kein natürlich gewachsener (!) Staat
ist, sondern eine Auswahl (!) von Siedlern die aus aller Welt nach Israel gekommen
sind, werden diese Siedler niemals (!) eine demokratische Gesinnung an die Macht
bringen, sondern nur die Parteien, die ihre kolonialen Interessen vertreten. Deshalb
kann sich der israelische Faschismus den Luxus von Wahlen erlauben'.
Schließlich gehöre 'zum Faschismus ... eine ihm eigene Ideologie'. Die
Ideologie des israelischen Faschismus sei der Zionismus: 'Der Zionismus ist sogar
ein Musterbeispiel von faschistischer Ideologie. ... Der Faschismus verspricht die
Realisierung nationalistischer Ziele. Er allein sei berufen und sei fähig,
sie zu verwirklichen. Durch ihn erhebe sich das 'Volk' zu einer unbesiegbaren Macht.
Dies sind geradezu die Elemente des politischen Zionismus. Die Gedanken von 'Volk'
und 'Natur' werden im Faschismus nicht humanistisch, sondern rassistisch verstanden.
Deshalb rechtfertigen sie die Unterdrückung anderer Völker. Dieses Merkmal
ist ein tragendes Element der zionistischen Ideologie. Bezeichnend für den
Faschismus ist die Aggression und Expansion. Der Zionismus liefert die theoretischen
Voraussetzungen dafür: a) Israel ist nicht durch umschriebene Grenzen definiert.
Dafür beruft es sich auf das Prinzip Erez Israel ('Das Land Israel'), das ihm
grenzenlose (!) Expansion erlaubt. b) Israel hat keine eigene Verfassung und braucht
deshalb die Grundrechte nach der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch
die Vereinten Nationen ... nicht anzuerkennen. ... Israel fühlt sich an kein
Gesetz gebunden, wenn es fremde Territorien erobert, in Ruinenlandschaft verwandelt,
Völkermord, Kinderraub und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht'.
Das Fazit von Khellas 'Analyse': 'Der israelische Staat ist mit aller Konsequenz
faschistisch'.
Die Juden sind die Nazis unserer Tage: dies das eindrückliche Resultat eines
'Fallbeispiels' humanistischer Interpretation von 'Volk' und 'Natur', wie sie der
zeitgenössische Marxismus-Leninismus betreibt.
Khella darf aber nicht als isolierter Extremfall abgetan werden. In solchen Aussagen
erscheint nur unverhüllt, was erkenntnistheoretisch und kapitalanalytisch in
jenem verkürzten 'Materialismus' angelegt ist, wie er den Marxismus-Leninismus
insgesamt kennzeichnet und bis auf Friedrich Engels und eine entsprechende Lesart
der Marxschen Theorie zurückreicht, die 'arbeitsontologisch' fixiert ist.
Anmerkungen
1) Das Referat von Haury war im wesentlichen identisch
mit seinem Beitrag Zur Logik des bundesdeutschen Antizionismus, enthalten in dem
im (Ca ira-Verlag (Freiburg/Brsg.) erschienen Buch Vom Antizionismus zum Antistmitismus
von Léon Poliakov.
2) Anders als Adorno jedoch, der diesen Imperativ als
'so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheit des Kantischen'
(Negative Dialektik) ansieht, also letztlich als ein 'abstraktes Sollen', erscheint
mir die Möglichkeit seiner Fundierung in der widersprüchlichen Struktur
des Kapitalverhältnisses selbst angelegt.
3) Der Marxismus-Leninismus hat die Marxsche erkenntniskritische
Unterscheidung von Wesen und Erscheinung niemals nachvollzogen, weshalb er wie jede
andere Form von bürgerlichem Bewußtsein nie über eine dichotome
Betrachtungsweise der kapitalistischen Realität hinausgekomrnen ist deren Radikalisierung
als praktisch 'weltanschauliche' (ob nazistich oder marxistisch) den für den
Antisemitismus unabdingbaren Manichäismus konstituiert.
4) Im 'Revisionismus' erhält diese Situation lediglich
ihren adäquaten politischen Ausdruck, weshalb der Marxismus-Leninismus der
Spaltung der Arbeiterbewegung außer hilflosen Verratsvorwürfen an die
Adresse der Sozialdemokratie auch wenig entgegenzusetzen wußte.
5) In der Leninschen Theorie ist dies mit dem Begriff
der 'Arbeiteraristokratie' verbunden. Interessanter für den 'westlichen Marxismus'
sind die Überlegungen des zwischen Faschismus und Sozialismus oszillierenden
französischen Theoretikers Georges Sorel, der mit der 'Verbürgerlichung'
des Proletariats bereits in den 90er Jahren des 19ten Jahrhunderts die 'Krise des
Marxismus' anbrechen sah. Diese 'Verbürgerlichung' erschien ihm als Resultat
einer Strategie der Bourgeoisie, die durch ihre Herrschaft über Schulen und
Medien dem Proletariat sein quasi natürliches Klassenbewußtsein plamäßig
wegerziehe, eine Vorstellung die später vor allem von Gramsci aufgenommen wurde.
6) Bis sich in einem Börsencrash und die durch
ihn erfolgende Entwertung des 'fiktiven Kapitals' (Marx) die scheinbare Abkoppelung
des zinstragenden Kapitals von der Produktionssphäre als eine bloß zeitlich
begrenzte Möglichkeit erweist.
7) Es ist klar, daß es einer solchen Theorie letztlich
nur mittels manipulations- und verschwörungstheoretischer Konstrukte gelingen
kann zu erklären, weshalb es einige wenige Kapitalisten schaffen, ihre Entmachtung
durch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und damit die Abschaffung
des bereits 'verfaulten' Kapitalismus zu verhindern.
8) Wobei diese Verkürzungen weniger der subjektiven
Unfälligkeit des Theoretikers Lenin geschuldet sind, als dem noch unentwickelten
Zustand der Mellschaftlichen Verhältnisse selbst.
9) Es widerspiegelt sich darin die Konstitution des
Tauschwerts (spezifischer: des Geldes als seiner Erscheinungsform: historisch-genetisch
entspringt dieser der Zirkulationssphäre, logisch aber der Produktionssphäre.
10) Dieser zirkulationsbornierten Vorstellung von
der 'Anarchie des Marktes' fällt die Existenz kleiner, zersplitterter Warenproduzenten
mit der freien Konkurrenz zusammen; d.h. der von Marx entwickelte Begriff der 'freien
Konkurenz' wird mit einer realhistorischen, nun vergangenen Phase des Kapitalismus
identifiziert, die nun im Imperialismus durch die Herrschaft weniger Monopole überwunden
sei.
11) Vgl. dazu den folgenden Exkurs.
12) Für den Antisemitismus gilt: 'Wer Jude ist
bestimme ich' (Karl Lueger). Als neuere Beispiele dafür seien erwähnt,
daß nach dem Fall der Mauer das Grab von Brecht mit antisemitischen Schmieereien
geschändet wurde und im heutigen Rußland ein Großteil der Bevölkerung
Hitler ebenso für einen Juden hält wie die antisenütische 'Pamjat'
den Antiseniiten Schirinowsky.
13) Moishe Postone hat auf die Identifikation des
Wertbegriffes mit 'dem Juden' im Denken der Nazis hingewiesen. 'Der Jude' wird zum
Repräsentanten des Werts: dieser ist eine Abstraktion, aber eine Realabstraktion:
in seiner entwickelten Form als Kapitalverhältnis, in der er erst die Gesellschaft
als Totalität ihrer Momente umfaßt, besitzt er keine empirische Wahrnehmbarkeit,
aber subsumiert sich gleichwohl die konkrete Realität; zum 'ewigen Juden: 'ewig',
denn das Kapital erscheint als eine sich nicht bewegende Bewegung, als Enthistorisierung
der Zeit als tote Arbeit, ewige Naturnotwendigkeit, und zwar deshalb, weil das Resultat
seiner Bewegung immer nur die Reproduktion des Identischen ist, des Werts. Weil
'der Jude' eine Abstraktion ist die aber in den konkreten Juden personalisiert sein
soll, muß der Antisemit dazu gelangen, die Individuen zu dem Stereotyp zu
entmenschlichen, das der Abstraktion 'des Juden' zu entsprechen verspricht. Der
Antisemitismus bedarf also (seiner Neigung gemäß Wesen und Erscheinung
nicht als vermittelt zu begreifen, sondern unmittelbar zusammenfallen zu lassen)
beständig der empirischen Beweise für die Richtigkeit seiner Behauptungen
über das 'Wesen' 'des Juden', was in 'ruhigen' Zeiten 'nur als eine wahnhafte
Wahrnehmungsstörung an den 'Rändern' der Gesellschaft erscheint, die jeden
Gegenbeweis als Beweis nimmt. Im Moment der Krise aber erweist sich diese als konstitutives
Merkmal der 'Mitte' der Gesellschaft und radikalisiert sich dahingehend, die eigenen
Abstraktionen nun unmittelbar in der Realität geltend machen zu wollen was,
wie schon Hegel wußte, deren Zerstörung bedeutet.
14) Ich denke, es ist hier schon angedeutet, daß
die erkenntnistheoretischen Vorstellungen Lenins in den Philosophischen Heften (wie
im hier zitierten Konspekt zu Hegels Wissenschaft der Logik) durchaus denen von
Materialismus und Empiriokritizismus entsprechen, die beliebte Abgrenzung der 'dialektischen'
Hefte vom empiristischen Materialismus-Buch also äußerst fragwürdig
ist. Ebenso wäre zu zeigen, daß der absolute Idealismus eines Hegel nur
die andere Seite des Objektivismus eines Lenins ist denn so wie bei Hegel das als
weltgeschichtlicher Prozeß existierende Absolute letzlich wieder in die Natur
als seinen Anfang zurückkehrt, taucht es über die Theorie der Widerspiegelung
bei Lenin als 'subjektloser Prozeß' (Althusser) wieder auf.
15) Vgl. dazu die Analogbildung bei Engels am Beispiel
der 'Negation der Negation' des Gerstenkorns: die natürliche Verwandlung des
Gerstenkorns in eine Pflanze erscheint analog zur durch menschfiche Praxis vermittelten
Umwandlung der Gerste in Bier.
16) Der ontologische Arbeitsbegriff des Marxismus-Leninismus
ist allerdings bei Marx selbst angelegt, da auch bei ihm ein Verständnis von
abstrakter Arbeit ausgesprochen ist, das diese als genuin-zeitlose Kategorie erscheinen
läßt; etwa wenn er in den Grundrissen davon spricht, daß die Vorstellung
von 'Arbeit' als 'Arbeit überhaupt' uralt sei. Dagegen wären die Auffassungen
des 'Fetischkapitels' im I. Band des Kapital zu setzen, in dem die abstrakte Arbeit
als Realabstraktion als Resultat der privaten Organisation der Produkbon der vereinzelten
Einzelnen bestimmt ist, d.h. als Produkt des Kapitalismus selbst, das dieser in
seiner Entfaltung beständig reproduziert und erweitert, und das damit zugleich
seine historische Schranke darstellt. Die Kategorie der abstrakten Arbeit ist so
gekoppelt an eine Auffassung von linearer Zeit und der damit verbundenen Auflösung
der Einheit von Produktion und Reproduktion, wie sie sich in der Ablösung des
Feudalismus und der ihn prägenden zyklischen Zeit durch den Kapitalisrnus durchsetzte.
17) In den ökonomischen Krisen wird nach Engels
dieser Widerspruch offensichtlich: 'Die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschweise';
die Lösung könne nur darin bestehen, 'daß also die Produktions-,
Aneignungs- und Austauschweise in Einklang gesetzt wird mit dem gesellschaftlichen
Charakter der Produktionsmittel', d.h. daß 'die Gesetze ihres eignen gesellschaftlichen
Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden,
... dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht'
würden (Anti-Dühring). So wie Engels eine vorkapitalistische einfache
Warenproduktion konstruiert, in der 'die Wertbestimmung durch die Arbeitszeit ...
auf der Oberfläche des Warenaustauschs sichtbar erschien', das Wertgesetz im
prämonetären Warentausch also als verifizierbar setzt und diese Durchsichtigkeit
erst durch den 'Übergang zum Metallgeld' zerstört sieht, da sich nun 'durch
die Gewohnheit des Geldrechnens' 'das Bewußtsdn von der wertmessenden Eigenschaft
der Arbeit verdunkelt. MEW 25), postuliert er für die sozialistische Gesellschaft,
daß die Menschen in ihr wieder genau 'berechnen' könnten, 'wieviel Arbeitsstunden
in einer Dampfmaschine, einem Hektoliter Weizen in hundert Quadratmeter Tuch...
stecken. ... Allerdings wird auch dann die Gesellschaft wissen müssen, wieviel
Arbeit jeder Gebrauchsgegenstand zu seiner Herstellung bedarf.... Die Nutzeffekte
der verschiednen Gebrauchsgegenstände, abgewogen untereinander und gegenüber
den zu ihrer Herstellung nötigen Arbeitsmengen werden den Plan schließlich
bestimmen. Die Leute machen alles sehr einfach ab ohne Dazwischenkunft des vielberühmten,Werts'
(Anti-Dühring). Aber abgesehen davon, daß diese Vorstellung einer gesellschaftlichen
Arbeitszeitrechnung auf der Grundlage von unmittelbarer Arbeitszeit letztlich wieder
zu genau jenen Aporien führt, die Marx im Elend der Philosophie an der Theorie
Proudhons (der nicht nur utopischer Sozialist, sondern auch ein glühender Antisemit
war) aufgezeigt hat. Der unvermittelte Übergang von der einfachen zur kapitalistischen
Warenproduktion, bei dem der 'fahrende(n) Kaufmann, de(r) merchant adventurer' als
'das revolutionäre Element' erscheint damit ihm 'das Geld ... aus der Fremde
komme (MEW 25), gerät in gefährliche Nähe zu Theorien vom 'semitischen
Geldwesen', in denen das Geld aus 'der Zeit der Babylonier, Hebräer, Griechen
und Römer' stammt, wie der im Dunskreis der Proudhonschen Theorie angesiedelte
'Freiwirtschaftler' Silvio Gesell erläutert. In dessen Buch Natürliche
Wirtschaftserdnung taucht zwar 'das Wort Jude kaum... auf. Er spricht vornehmer
vom - Zinsnehmer' (V. Woelk, Natur und Mythen, DISS-Texte Nr. 21). Auch an der Marxschen
Abhandlung Zur Judenfrage ('Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher.
Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld') läßt sich beobachten, daß
der Antisemitismus als pseudorevolutionäre Ideologie in dem Maße droht
wie sich eine Gesellschaftskritik auf die Zirkulationssphäre konzentriert.
18) Gerade weil der Marxismus-Leninismus die Trennung
von Subjekt und Objekt (vulgo: Geist und Materie) ebenso als ontologisch setzt wie
der philosophische Idealismus, die Frage der sozialen Konstitution dieser Kategorien
also ungelöst bzw. überhaupt unbeachtet läßt, muß er
wie dieser das zu lösende Problern im Verhältnis der Kategorien zueinander
sehen, bzw. darin, welcher der beiden Pole den Vorrang hat. Als 'Materialismus'
behauptet der Marxismus-Leninismus logischerweise den Primat der äußeren
Welt gegenüber dem Bewußtsein, was ihn aber wie gezeigt in ein vergleichbar
zirkuläres Argumentationsdilemma stürzt wie es schon bei Kant auftaucht,
der das Vermögen zur Erkenntnis (das 'transzendentale Apriori') der Erkenntnis
als vorausgesetzt behaupten muß, diesen Widerspruch allerdings als einen für
ihn unlösbaren aushält und nicht in platten Empirismus auflöst wie
der Marxismus-Leninismus, zu dessen 'Verdiensten' es ja u.a. zählt, die Frage
nach der Konstitution des bürgerlichen Subjekts und seiner (Un)Bewußtseinsformen
gründlich verschleiert zu haben.
19) Bereits Engels hatte darauf hingewiesen, 'daß
die Börse die hervorragendste Vertreterin der kapitalistischen Produktion'
zu werden verspreche, 'die bei der ferneren Entwicklung die Tendenz hat die gesamte
Produktion, industrielle wie agrikulturelle, und den gesamten Verkehr, Kommunikationmittel
wie Austauschfunktion, in den Händen von Börsianern zu konzentrieren'
(MEW 25), so daß 'der Kapitalist keine gesellschaftliche Tätigkeit mehr
(habe), außer Revenuen-Einstreichen Kupon-Abschneiden und Spielen an der Börse'
(Anti-Dühring).
20) Vgl. dazu etwa die Äußerung des ZK-Mitglieds
der KPD, Ruth Fischer, in ihrer Berliner Rede 1923: 'Wer gegen das Judenkapital
aufruft..., ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß Tretet
die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie!' (zit.
nach Eva Groepler, 'Zertrampelt die Judenkapitalisten, Konkret 1/91)
21) Diese und alle folgenden Zitate aus: Karam Khella,
Jederzeit, überall, mit allen Waffen. Imperialismus heute, Theorie und Praxis
Verlag, Hamburg 1987. Die Schrift stammt wie ersichtlich aus der Zeit vor dem Zusammenbruch
des sogenannten Realsozialisinus, doch hat dieses Ereignis keinesfalls zu einer
grundsätzlichen Revision der antiimperiafistischen Sichtweise geführt,
sondern eher noch deren verschwörungstheoretische Neigung verstärkt (Imperialismus
heute und Die Macht der Hundert waren übrigens Titel von DDR-Lehrbüchern
über den '-staatsmonopolistischen Kapitalismus').
22) Weil sich in den USA aufgrund der historischen
Bedingungen die Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft in atypisch 'reiner'
Form vollzogen hat, fungiert sie auch seit jeher als eine Art Brennspiegel aller
antikapitalistischen Ressentiments. (Vgl. dazu neuerdings: Dan Diner, Verkehrte
Welten, Eichborn-Verlag)
23) Khellas Revolutionsphrasiologie ist so orthodox
marxistisch, daß es schon fast rührend ist. 'Insgesamt nimmt der Machtbereich
des Imperialismus ab. Sozialistische Staaten, Volksdemokratien und befreite Gebiete
bilden sich immer mehr (!) heraus und werden stärker (!!). ... Die Produktionsverhältnisse
unter den Bedingungen des fortgeschrittenen Monopolkapitalismus widerspiegeln sich
gesellschaftsanalytisch (!) in der Weise, daß einer hauchdünnen Monopolkapitalistenklasse
die besitzlosen Massen gegenüberstehen. ... Der staatsmonopolistische Kapitalismus
ist die unmittelbare Vorstufe des Sozialismus. Das Finanzkapital bedingt, weil parasitär,
die Fäulnis des Kapitalismus. Darum ist der Monopolkapitalismus sterbender
Kapitalismus. ... Die Imperialisten sind arm dran. In ihren Heimatzentren sind sie
mit dem anwachsenden Widerstand (!) der Arbeiterbewegung konfrontiert. In den Ausbeutungssphären
der Dreikontinente machen ihnen die Befreiungsbewegungen die HöHe los. Die
AAA-Staaten sind zu Sturmnetzen der Weltrevolution geworden (!)'.
24) Bei Rakah handelt es sich um die kommunistische
Partei Israels. Abgesehen davon, daß Khella es offenläßt inwieweit
Rakah überhaupt kommunistisch sei, kommt ihr seiner Meinung nach ohnehin nur
eine 'Alibifunktion' zu, da 'eine Siedlergesellschaft niemals eine kommunistische
Partei an die Macht bringen (werde). Insofem erlaubt sie sie, wählt sie aber
nicht'. Wobei wir bei der tiefsinnigen Erkenntnis angelangt wären, daß
Parteien wie Wahlen, würden sie etwas verändern, abgeschafft würden.
aus: Krisis 16/17