Volkstum und Volksgemeinschaft
Die vom Bürgertum schmerzlich erfahrene und verzögerte Entwicklung zum
Nationalstaat im 19.Jahrhundert verführte zur Suche nach einer Einheit jenseits
von staatlichen und politischen Strukturen und Verhältnissen. Die Fragen nach
nationaler Herkunft, völkischer Identität und angeborenen Wesensmerkmalen
ließen einen Volksbegriff entstehen, der seit seinem Aufkommen um 1800, trotz
der ursprünglichen Besetzung mit aufklärerischen, humanistischen und fortschrittlichen
Idealen, einer fortschreitenden Mystifizierung unterlag, die im Nationalsozialismus
einen Höhepunkt erreichte. Der Begriff Volk samt seinen Komposita wurde in
nationalsozialistischen Wortschatz so wahllos und verschwenderisch gebraucht, daß
er sich jeder rationalen und objektivierbaren Definition entziehen konnte. Fast
zur reinen Worthülse degradiert, wurde er aber wieder frei für die ideologische
Vereinnahmung. "Volkstum" und "Volksgemeinschaft" konnten damit
zentrale Funktionen bei der Errichtung und Stabilisierung des nationalsozialistischen
Herrschaftssystems erfüllen: Durch Vorgabe Vorgabe zugkräftiger Identifikationsmöglichkeiten
nach innen und durch den Entwurf von auf dubiose völkisch- biologistische Kriterien
gegründeten Feindbildern nach außen wurde die Bevölkerung zusammengeschweißt.
Volkstum war nach Maßgabe der Nationalsozialisten Manifestation von deutsch
sein, deutsch denken und deutsch handeln und umfaßte daher weit mehr als die
empirisch untersuchbaren Produkte kultureller Tätigkeiten wie Brauch, Tanz,
Lied, Dichtung und Kunsthandwerk. Mit der Festlegung des Ursprungs des deutschen
Volkes in der idealisierten Lebenswelt der "alten Germanen" standen die
Nationalsozialisten in einer langen Tradition. Sie beriefen sich darauf, daß
die germanische Lebenswelt noch frei von den angeblich zersetzenden Einflüssen
romanischen, christlichen, semitischen und aufklärerischen Ideenguts gewesen
sei, und daß der germanische Charakter durch Heroismus, Disziplin, Tugend,
Einfachheit, Einsatz- und Opferbereitschaft bis zum Tode gekennzeichnet sei. Der
Mythos von der Überlegenheit dieses nordischen Bauern- und Kriegervolkes, des
letzten Sprosses der der arischen Herrenvölker, wurde von den Nationalsozialisten,
die mit ihren Rufen nach Regeneration und Vollendung des Deutschtums in der Gegenwart
auf erstaunliche Identifikationsbereitschaft stießen, machtpolitisch eingesetzt.
In der Blut-und-Boden-Ideologie, mit der die tatsächlichen sozialen und wirtschaftlichen
Mißstände auf dem Lande ignoriert wurden, manifestierte sich die agrarromatische
Vorstellung vom bodenverwurzelten, gesunden Bauern, der zum Urbild quasi naturhafter
Verwurzelung der Deutschen im Germanentum erhoben wurde. Die imaginierte Kontinuität
mißachtet allerdings, daß das deutsche Volk weder der Sache noch dem
Namen nach nach etwas unveränderlich Naturgegebenes war, sondern durch die
fortschreitende Assimilation fremdstämmiger Menschen, entstehende gesellschaftliche
Mobilität und später durch die Industrialisierung ein Produkt historischer
Prozesse war.
Die Teilhabe an der irrationalen, deutsch-germanischen Volksseele war somit nunmehr
durch die Subjektivität des Empfindens nachvollziehbar.
Hier konnte auch die Austreibung des angeblich undeutschen Geistes aus Kultur, Wissenschaft,
Justiz und Politik ansetzen. Volkstümlichkeit, die oft nichts anderes als leichte
Konsumierbarkeit bedeutete, wurde zum Wertmaßstab bei der Beurteilung von
Literatur, Musik und bildender Kunst. Das "gesunde Volksempfinden", auch
heute noch gerne herbeizitiert, sollte entscheiden, was gut und wertvoll war; so
konnte alles Ästhetisierende, Avantgardistische, Kritische oder auch Anspruchsvolle
aufgrund von Engstirnigkeit, kleinbürgerlicher Rechtschaffenheit und Intoleranz
verbannt werden.
Besonders fatal wirkte sich die Änderung des Strafgesetzbuches (28.Juni 1935)
aus, mit der Verstöße gegen das gesunde Volksempfinden auch strafrechtlich
geahndet werden konnten. Das nicht in Rechtskategorien zu fassende "Empfinden"
entpuppte sich in letzter Instanz allerdings als der unantastbare Wille des "Führers".
Mit dem Begriff der "Volksgemeinschaft" beschworen die Nationalsozialisten
die neue staatliche Verfaßtheit: Sie war dem deutschen Volk angeblich wesensgemäß,
weil sie dem fiktiven germanischen Ständestaat nachgebildet war. Die gesellschaftliche
Position, so wurde versprochen, sollte nicht mehr von Bildung, Vermögen, Besitz
oder Nicht-Besitz von Produktionsmitteln abgeleitet werden, sondern auf einer postulierten
natürlichen Ungleichheit der Menschen beruhen. Die bestehende Klassengegensätze
der kapitalistischen Industriegesellschaft wurden per definitionem einfach für
nicht mehr existent erklärt, soziale Widersprüche verschleiert. Im Namen
der mythisch überhöhten Einheit des Volkes erfolgte die Gleichschaltung
des politischen und gesellschaftlichen Lebens, die Zerschlagung der Arbeiterorganisationen.
Das Führer- Gefolgschaftsprinzip löste den Pluralismus- und Gleichheitsgedanken
ab. Völkisches Gedeihen erhielt Vorrang vor individuellen Glücksanspruch,
die Rechte des Einzelnen gewannen nur über den Umweg durch den Dienst an der
Gemeinschaft Geltung: "Gemeinnutz geht vor Eigennutz!"
Das Unbehagen am Zustand der Gesellschaft im Kaiserreich und besonders an der politischen
und wirtschaftlichen Instabilität der Weimarer Republik, die Erfahrung der
Entfremdung und Atomisierung in der modernen Industriegesellschaft ließen
die Volksgemeinschaft als das nun wiedergewonnene Paradies von Geborgenheit und
Sicherheit erscheinen. Willig akzeptierte man die permanente Kontrolle bis in den
Privatbereich hinein, übte blinden Gehorsam und willenlose Treue dem Führer
gegenüber. Schlagworte wie "Du bist nichts, dein Volk ist alles!"
beschworen die Eingliederung in eine opferbereite Leistungsgemeinschaft, die die
Aufrüstung zum Krieg widerspruchsvoll mittrug. Diese Ziele standen zum Beispiel
sowohl hinter dem Erziehungsprogramm der Hitlerjugend, der Verklärung der deutschen
Frau als Garantin für die Aufzucht erbgesunder, arischer Kinder wie auch hinter
den Sammelaktionen des Winterhilfswerks, deren "Eintopfsonntage" zudem
propagandistisch die Gleichsetzung von Direktoren und Arbeitern in der Deutschen
Arbeitsfront herbeigeredeten harmonischen Betriebsgemeinschaft demonstrierten.
Um die Volksgemeinschaftsideologie wirksam ins Bewußtsein zu verankern, mußte
permanent der Beweis ihrer Existenz angetreten werden. Ein Mittel dazu waren die
von den Nationalsozialisten durchgeführten Massenveranstaltungen, zu denen
die Fest- Gedenk- und Feiertage gegenüber Anlaß gaben. Die Volksgemeinschaft
wurde unüberseh- und hörbar inszeniert: Fackelzüge, Aufmärsche,
Reden schmolzen die Menge zu einem gefügigen Block zusammen und bewirkten Rauschzustände,
in denen jegliches kritisches Denken ausgeschaltet war. Da die Volksgemeinschaft
aller rationalen und realen Grundlagen entbehrte, entwickelte sie so den sakralen
Charakter einer Kult- und Weihgemeinschaft, die sich im Krieg mühelos in eine
eingeschworene Kampfgemeinschaft wandelte.
Wer zu dieser Gefühlswelt keine Beziehung herstellen konnte, keine Identifikationsansätze
fand, war folglich kein deutscher Volksgenosse und wurde als Volksschädling
zum Schutz der Volksgemeinschaft verfolgt. Die konstruierten Feindbilder basierten
unter anderem auf unhaltbaren rassebiologischen Kriterien. Für Andersartige
und Abweichler verloschen jegliche Rechtsgarantien, sie wurden mißhandelt,
ermordet oder, wie die größte Gruppe der Gemeinschaftsfremden, systematisch
vernichtet.
Das Andauern der kompromißlosen Zustimmung zur Volkgemeinschaft war dennoch
weitgehend davon abhängig, inwiefern die Versprechungen eingehalten, tatsächliche
oder suggerierte Erfolge vorgezeigt und die Befriedigung der alltäglichen Bedürfnisse
geleistet werden konnten. Die militärischen Mißerfolge machten deutlich,
daß die "Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes" nur durch
nationale Erfolge hatte zusammengehalten werden können.
Astrid Voß, In: W.Benz, Legenden, Lügen, Vorurteile
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Most recent revision: April 07, 1998
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