Der Artikel enthält zwar einige zurückzuweisenden Thesen, wie die
Fehlinterpratation des Begriffs "auserwählten Volkes", der etwas ganz
anderes bedeutet d.h. er interpretiert in der Hinsicht antisemitisch
und ist nicht radikal antinational genug, weil der leninistische
Diskurs, noch nicht vollständig verlassen worden ist, aber enthält
auf der anderen Seite ganz interessante Aspekte und ist so unter
Vorbehalt zu genießen.
Ein Versuch über Nation und Emanzipation
Die Zeit der auserwählten Völker ist für immer vorbei
Von Franz Schandl
I. Der Begriff der Nation
",Nation' ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann
jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr
Zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die
ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewissen
Menschengruppen ein spezifisches Soldaritätsempfinden anderen
gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an."
Das schreibt Max Weber, und es ist ihm hier uneingeschränkt
beizupflichten. Nation ist keine objektive Kategorie. Definitionen,
die dementsprechende Kriterien (z.B. klassisch bei Otto Bauer und
Josef Stalin) suchen, müssen scheitern. Nation setzt allemal
Bekenntnis voraus.
Nationen haben keine ethnische Substanz - auch wenn sie es oft von
sich behaupten -, sie sind die Folge der Herrschafts- und
Kräfteverhältnisse in einem bestimmten Gebiet zu einer bestimmten
Epoche. Sie sind geschichtlich einordbar, primär zugehörig dem
bürgerlichen Staat der aufsteigenden Epoche des Kapitals.
"Nation - Terminus wie Sache - sind jungen Datums. Eine prekäre
zentralistische Organisationsform sollte die diffusen Naturverbände
nach dem Untergang des Feudalismus zum Schutze der bürgerlichen
Interessen bändigen. Sie mußte zum Fetisch werden, weil sie anders
die Menschen nicht hätte integrieren können, die wirtschaftlich
ebenso jener Organisationsform bedürfen, wie sie ihnen unabläßig
Gewalt antut." (Adorno)
Mit dem Begriff Nation reflektieren wir also nur einen kleinen
Ausschnitt der Menschheitsgeschichte. Sie ist keine ontologische
Kategorie, sie wurzelt weder in eingrenzbaren oder genau bestimmbaren
Stämmen und Sippen, noch ist sie für die Zukunft ein gültiges und
zuträgliches Konzept menschlicher Kommunikation. Das Nationale
verflüchtigt sich in der Zeit, ebenso wie es sich zum Beginn des
Kapitalismus verdichtete.
Womit wir es heute zu tun haben, sind Ablagerungen vergangener Tage,
wenngleich die subjektiven Überträger dieses späten Nationalismus
ihren historischen Abgang in ungustiöser und tollwütiger Manier
veranstalten.
Nationen sind also geworden und können somit auch wieder vergehen.
Sie sind nicht eherner Bestandteil der menschlichen Geschichte, sie
sind Ausformung, nicht Voraussetzung geschichtlichen Wirkens. Selbst
die Namensbezeichnung, die sich für eine bestimmt Gemeinschaft
durchgesetzt hat, ist oft bloß Folge regionaler Dominanzen, ja
Zufällen: die Franzosen hätten genausogut Burgunder werden können,
wie die Österreicher zu Steirern. Zu Beginn des Hochmittelalters war
da noch nichts entschieden. Keinem Steirer wäre damals eingefallen,
ein Österreicher zu sein, kein Burgunder sah sich als Franzose.
Nationen sind historische Gebilde. Die Vorformen der Nationsbildung
sind in der embryonalen Staatswerdung im Hochmittelalter (vor allem
Frankreich, England) und später im Absolutismus anzusetzen. In
Westeuropa wurde die Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert bzw.
mit Ende des Ersten Weltkrieges weitgehend abgeschlossen. Alles, was
später kommt, sind nur noch nachholende Versuche unter gänzlich
anderen Bedingungen, nämlich jener des durchgesetzten Weltmarktes und
des bereits einsetzenden Zerfalls des Nationalstaats. Die
internationale Kapitalherrschaft hat heute alle nationalen Schranken
relativiert, ja niedergerissen.
Das ist auch mit ein Grund, warum Politik sich nicht mehr weiter
primär im Nationalstaat gestalten kann, die Internationalisierung, ja
Auflösung der national orientierten Innen- und Außenpolitik
fortschreitet.
So gesehen sind die Kämpfe in Osteuropa um territoriale
Souveränität, aber auch die nationalen Befreiungskriege in der
sogenannten Dritten Welt objektiv bloß Karrikaturen, späte
Persiflagen längst vergangener Tage. So verständlich die Ansprüche
der sie tragenden Subjekte auch sein mögen. Sie blamieren sich auch
nicht in ihren Absichten, stets aber an ihren Zielen. Sie können
nicht mehr, was sie wollen. Selten waren Kämpfe so illusionsbeladen
wie diese.
II. Staat und Nation
Nation ist an den Staat gekoppelt oder zumindest an
Einen-Staat-Haben- Wollen. Eine Bevölkerung konstituiert sich durch
die Staatsunterworfenheit als Nation bzw. als Volk. Staaten schaffen
Nationen, haben erstere Bestand, dann auch letztere. Hier wäre auch
die Differenz zwischen Nationalität (bzw. zwischen Volk und
Völkerschaft) dingfest zu machen. Nation bedeutet realer Staat,
Nationalität imaginärer Staat. Das Wesenskriterium der Nation ist
letztendlich der Staat. Alle anderen Kriterien (Sprache, Sitte etc.)
bleiben sekundär, das heißt sie halten nicht, was sie empirisch
versprechen. Wann immer wir über Nation nachdenken, stoßen wir auf
den Staat. Er ist sie.
Der Staat ist eine Realabstraktion, die Nation eine
Gedankenabstraktion. Was aber weiteres heißt, daß mit letzterer viel
mehr "Staat" zu machen ist, als mit ersterem, da dieser in seinen
Wirkungen real ist, jene bloß Mythos, bei dem einem warm werden soll.
Die Nation ist das Vorgeschobene. WIR in allen seinen Deklinationen
ist ihr zentrales Fürwort: "unsere Wirtschaft", "unsere Demokratie",
"unsere Skinationalmannschaft" lauten die realen Übersetzungen.
Dieses unreflektierte WIR unterstellt eine zwangsfreie und
selbstverständliche Schicksalsgemeinschaft. Deren Leistungen können
als Substitute persönlichen Glücks gelten. Solch archaischer Glaube
an das Gemeinsame hat durchaus religiösen Charakter, was auch
erklärt, daß etwa die historischen Deutschnationalen zu den ersten
gehörten, die die traditionelle Stifterin Religion als Basisprinzip
in Frage stellten und sie durch die Nation ersetzten.
Die Nation, die gibt es nur im Gefühl, sie ist eine Einbildung. Aber
dieses Gefühl läßt einen nicht los, es ist so stark, daß es zu einem
realen Faktor wird. Nation ist die reale Fiktion, in die der Staat
seine Bürger zwingt. Aus dem Müssen der Unterworfenen muß jedoch ein
Wollen werden. Nation meint die pathetische Überhöhung des Staates,
sie ist dessen außerinstitutioneller Geist. Sie ist das, was den
Bürger freiwillig an den Staat binden soll. Das scheint der Vorteil
gegenüber anderen Bezügen (Recht, Sitte, Moral) zu sein. Diese üben
Druck aus, während die Nation diesbezüglich unschuldig erscheint.
Nichts soll ihr angelastet werden, was sie fordert, gleicht einer
"natürlichen" Pflicht. In der Nation glaubt man sich zwangfrei
wiederfinden zu können. Das durch sie Aufgeherrschte erscheint
selbstverständlich und vorgegeben, ja noch stärker: angeboren.
Der Nationalismus baut auf einem identitären "Wir-Gefühl", er setzt
auf Abgrenzung nach außen. Alles Fremde ist ihm außen, und alles
Äußere ist ihm fremd. Der Fremde hat daher draußen zu bleiben: Das
Nahe ist einem näher, weil es nahe ist, das Ferne ist einem ferner,
weil es ferne ist. Das eine ist da, das andere ist weg. Ist auf
einmal da, was normal weg ist, reagiert der Bürger mit Entsetzen,
ohne freilich zu fragen, warum es auf einmal da ist. Daß die Ferne
kommt, erfährt er nicht als objektive Gesetzmäßigkeit, sondern als
subjektive Böswilligkeit der Anderen, die es abzuwehren gilt. Sie
sollen daher das Weite suchen, und das in einer Epoche, wo das
Kapital sie geradezu anzieht.
Der Rassismus, womit die gezielte und bewußte Abwertung anderer
Völker gemeint ist, kann nur als eine logische Zuspitzung des
Nationalismus verstanden werden. Der Rassismus als besonders
aggressive Form des Nationalismus kennt idealtypisch zwei
Ausformungen: die defensive Variante der Ausgrenzung und Abschiebung
und die offensive Variante der Bekriegung und Ausmerzung.
Durch die Nation kommt der Staat zu uns, wie wir zu ihm, ohne es
bewußt wahrzunehmen. Sie ist eine mythische Rückbezüglichkeit. Am
deutlichsten offenbart sich dies im Krieg und seinem bedeutendsten
Surrogat, dem Leistungssport unter der jeweiligen Nationalflagge und
Nationalhymne. Nicht zufällig heißen die Staatsmannschaften
Nationalmannschaften, die Staatsliga Nationalliga und die
Staatsmeisterschaften Nationalmeisterschaften.
Was für die Nation gilt, gilt selbstverständlich auch für das Volk.
Ein Volk ist eine Bevölkerung zu einer bestimmten Zeit in einem
begrenzten Raum unter einer dezidierten Herrschaft. Das Volk ist nur
als Staat herstellbar, bzw. als eine Gruppe, die einen Staat haben
will, vorstellbar. Die allgemeine Ideologie eines Volkes ist die
Verkündigung seiner Besonderheit. "Jede nationale Gemeinschaft mußte
zu irgendeinem Zeitpunkt als ein 'auserwähltes Volk' dargestellt
werden.", schreibt Etienne Balibar. Die frühen Wurzeln hiervon finden
sich übrigens in den grundlegenden jüdisch-christlichen
Schriftzeugnissen.
Diese Besonderheit, die sich durch Absonderung, sowohl von den
anderen als auch der anderen, konstituiert und konsolidiert und eben
eine neue Einheit, den Nationalstaat, zu schaffen hatte, ist
historisch notwendig wie sinnvoll gewesen. Das Volk kam durch die
Nation als Staat zu sich. Aber Volk, Staat und Nation sind keine
Endpunkte, keine Ruhekissen, auf dem die Menschheit ausruhen kann.
Wer sich heute zu ihnen bekennt, bekennt sich zur Vergangenheit,
nicht zur Zukunft. Wer heute meint, den abgeschmackten Kanon "Wir
sind ein Volk!" mitsingen zu müssen, hat wenig verstanden von den
sich abzeichnenden gesellschaftlichen Entwicklungen. Ein abstrakter
und enthistorisierter, also positiv affimierter Volksbegriff ist
daher letztendlich völkisch.
Was ist das nun eigentlich, ein Deutscher? - Nichts anderes als ein
deutscher Staatsbürger oder einer, der es werden will. Der ansässige
Sproß eines chinesischen Vaters und einer nigerianischen Mutter ist
ein "reinrassiger" Deutscher. Alles andere ist Quatsch. Das Wesen des
Deutschen liegt in der Staatsbürgerschaft, so sehr die äußere
Erscheinung auch abweichen mag. Deutsche sind jene, die im
Staatsgebiet herumvölkern, dem Rechts,- Steuer- und Gewaltmonopol
unterworfen sind.
Um es ganz deutlich zu sagen: Die Menschen sind Ausgeburten, keine
Eingeborenen. Die Abstammung ist nichts anderes als ein rassistischer
Mythos. Der konkrete Mensch hat Wurzeln, keinen Stamm. Der bornierte
Nationalist würde sich wundern, wüßte er, wer durch die Jahrhunderte
alles für ihn herumgevögelt hat, damit er in seiner konkreten
Existenz überhaupt erst zu sich kommen konnte. Ekeln müßte ihn vor
diesem Potpourri der Völker und Stämme, der Nationalitäten und
Religionen, die ihn da ganz unabsichtlich genetisch kreierten. Der
biologische Rassismus blamiert sich also schon an seinen Exemplaren.
III. Identifikation und Identifizierung
Nation meint Abgrenzung politischer Herrschaftsgebiete basierend auf
eben nationalökonomischen Einheiten. Sie kennt Identität - sich
selbst - und Nichtidentität - die anderen. Diese Identität ist
jedoch keine fixe Kategorie, sondern eine labile Konfiguration in
Raum und Zeit. Die verschiedentlich sonst vorgebrachten Merkmale
(Sprache, Religion, Sitte, Kultur, Psyche) sind bloß Momente, aus
denen sich das Abgrenzungs- und Ausgrenzungspotential speist, sie
sind nicht a priori vorgegeben, sondern zugegeben. Sie sind der
unwesentliche Zusatz, auch wenn sie auf der Ebene des Scheins als
konstituierende Größen wahrgenommen werden. Die Nation hat ihr Wesen
nicht in sich, sondern außer sich.
Nationalismus ist jene Haltung, wo es gelingt, die reale
Staatsunterworfenheit in eine bejahende Identifizierung umzuwandeln.
Nationalismus ist somit sinngemäß das offene Bekenntnis und das
entschiedene Eintreten für die Nation. Die Staatsidentifikation ist
etwas Faktisches, Rationales und daher als Mobilisierungsfaktor nur
bedingt brauchbar. Der Staat ist zu griffig, in seinen Handlungen zu
wirklich, um geliebt zu werden. Die nationale Identifizierung ist
hingegen etwas Mythisches und Irrationales. Aus der realen
Gehörigkeit versucht der Nationalismus eine bedingungslose Hörigkeit
zu formen.
Wir unterscheiden daher zwischen Identifikation und Identifizierung.
Identifikation bedeutet Erkenntnis von etwas; Identifizierung
bedeutet Bekenntnis zu etwas. "Ich bin Österreicher", "ich bin
Deutscher", "ich bin Italiener" kann also verschiedentlich aufgelöst
werden. Der gleiche Satz stellt einmal nüchtern fest, was
Staatsbürgerschaft ist, im anderen Fall konstruiert und konstituiert
er eine Übereinstimmung mit dem Zugehörigen. Aus einem Da-Zu wird ein
Ja-Zu! Identifizierung meint Übereinstimmung des Subjekts mit seinen
objektiven Rollen, Identifikation meint hingegen nur die krude
Einstimmung derselben aufeinander, sie ist als gesellschaftlich
aufgeherrschte Bezüglichkeit dechiffrierbar, somit auch ob ihres
Charakters der Hinterfragung zugänglich.
Mit der Identifizierung setzt sich eine distanzlose Ideologisierung
der Identifikation durch, um sich schlußendlich als Identität
behaupten zu können. Identifizierung überführt objektive
Identifikation zur subjektiven Identität. Identität ist dann das
metaphysische Ziel der Identifizierung, Identifikation bloß die
notwendige Vorbedingung. Durch die positiv gesetzte Identifizierung
soll jede Relativierung und Kritik der Identität ausgeschlossen
werden.
Jede Bestimmung ist Identifikation, aber nicht unbedingt
Identifizierung. In diese schlüpft noch ein mächtiger Treibsatz, der
eben reflektiertes Erkennen in unreflektiertes Bekennen deformiert,
nicht den Gedanken erleben, sondern die Gesinnung ausleben will. Aus
Gehörigkeit wird eine Hörigkeit.
Seit Freud wissen wir, daß die Sucht nach Identität stets gepaart ist
mit der Verdrängung des Nichtidentischen. Identität und
Nichtidentität stehen also vielmehr in einem dialektischen
Zusammenhang, können nicht säuberlich voneinander getrennt werden,
sondern sind nur Momente ein und derselben Bestimmung. Dieser
unbedingte Zusammenhang von Identität und Nichtidentität
vorausgesetzt, bedeutet auf der banalen Ebene nichts anderes als:
Jeder Inländer ist ein Ausländer. Ditto umgekehrt.
IV. Rückschritt und Fortschritt
Wie ein konkreter Nationalismus einzuschätzen ist, ist eine Frage von
Zeit und Raum, in denen er sich entfaltet. Die Unterscheidung, ob der
Nationalismus progressiv ist oder nicht, lässt sich jedoch nicht
ausschließlich daran messen, ob es sich bei ihm um einen Befreiungs-
oder einen Beherrschungsnationalismus handelt. Es kann auch kein
abstraktes Bekenntnis zu einem Selbstbestimmungsrecht der Völker
geben.
Die selbstbestimmte Nation ist eine antiquierte Formel. Sie macht
Sinn als bürgerliches Etappenziel, aber keinen als sozialistische
Forderung. Gerade Lenin, der immer wieder als entschiedener Vertreter
des Selbstbestimmungsrechts herhalten muß, hielt explizit wieder
jedwedem bürgerlichen Nationalismus fest: "Das Ziel des Sozialismus
ist nicht nur die Aufhebung der Kleinstaaten, nicht nur Annäherung
der Nationen, sondern auch ihre Verschmelzung."
In einer Zeit, in der die Betriebsformen sich entgültig
internationalisieren, die Telekommunikation die Verkehrswege vom
Territorium ablöst, ganze Gebiete, dem Weltmarkt unterworfen aus dem
Weltmarkt hinausfallen, das Recht immer weniger greift, das
Steuermonopol der Nationalstaaten täglich weniger handhabbar, die
Politik immer hilfloser und für entscheidende Interventionen gänzlich
untauglich wird, in einer Zeit also, in der sich der Verfall
nationaler Souveränitäten abzeichnet, sich nach den
Nationalökonomien auch die Nationalstaaten auflösen, vorrangig
nationale Politiken einzufordern, ist unsinnig.
Was als taktische Variante nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann,
verbietet sich als strategische Option. Ansteht die Aushöhlung
jedweder nationaler Eigenständigkeiten und Spielräume. Diese
Sichtweise darf aber nicht mit einem nationalen Nihilismus oder einem
antinationalistischen Prinzipialismus verwchselt werden. "Nie wieder
Deutschland" ist keine sinnvollere Forderung als "Deutschland, einig
(oder gar: ewig!) Vaterland". So stellen nur euphorische und
enttäuschte Liebhaber die Frage.
Die Nation ist kein überhistorischer Rahmen. Nation und Nationalismus
sind ein Zwischenglied der menschlichen Selbstfindung, eine Art
Vorstufe des Internationalismus, Überwindung von Hinterweltertum und
Lokalborniertheit, regionaler Fürstenherrschaft und andauernder
Kriegsbereitschaft. Um sich auf diese Zwischenstufe menschlicher
Emanzipation zu erheben, mußte man sich sowohl gegenüber den
kleineren als auch den äußeren Einheiten abkoppeln. Nur das Glück,
das die Nation bescherte, glückt nicht mehr. Der Nationalismus hat
fortschrittliche Kraft endgültig ausgespielt. Er ist Hindernis in
Vielfältiger Hinsicht. Er hat keine positiven Alternativen zur
kapitalistischen Modernisierung und Internationalisierung zu bieten,
er verkommt zu seiner reaktionären Variante derselben. Wer hier
Bündnispartner sucht, wird scheitern.
"Die Zeit der auserwählten Völker ist für immer vorbei!", schrieb
Friedrich Engels in einem seiner letzten Artikel. Was heute notwendig
und erstmals auch wirklich möglich geworden ist, ist ein
"intransigenter Internationalismus", wie ihn etwa der Reichenberger
Marxist Josef Strasser, zuerst Sozialdemokrat, dann Kommunist, dann
Linksoppositioneller, in seiner lesenswerten Schrift "Der Arbeiter
und die Nation" bereits 1912 forderte. Ein Internationalismus, der
sich heute freilich letztendlich selbst aufheben muß, da er nicht so
sehr von den Nationen übergeordneten Interessen geprägt ist, sondern
von den sie transzendierenden.
Der einzige Patriotismus, der heute noch erlaubt sein darf, ist ein
planetarischer. Ein Universalismus, der wirklich ernst nimmt, daß wir
in bloß einer Welt leben und die gesamten Probleme nur mehr gemeinsam
und nicht gegeneinander angehen und lösen können. Nationale
Interessen, regionale Absicherungen, Konkurrenzfähigkeiten, optimale
Wirtschaftsstandorte, betriebswirtschaftliche Rentabilitäten, das
alles ist kontraproduktiv. Emanzipatorische Praxis muß sich gerade
aus der nationalen Borniertheit der Politik befreien. Mit
Kapitalismus und Marktwirtschaft ist da nichts mehr zu machen.
Franz Schandl, geb. 1960, ist Historiker und Publizist, er lebt in
Heidenreichstein und in Wien. Beim vorliegenden Essay handelt es sich um
ein gekuerzte Fassung eines Buchbeitrags in: Georg Fischer / Maria
Wölflingseder (Hg.), Biologismus - Rassismus - Nationalismus. Rechte
Ideologien im Vormarsch, Promedia Verlag, Wien 1995
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt