Die Deutschen, Hitlers Opfer?
Entgegen der in vielerei Abwandlungen in Deutschland nach 1945 und bis heute hin so beliebten Meinung, es seien die als 'verbrecherisch' erkannten Eigenschaften nationalsozialistischer Politik im Handeln einer Minorität begründet, also Resultat des Handelns einer 'polit-kriminellen Bade', ist festzustellen: Die Verbrechen des `Dritten Reiches` waren ganz überwiegend Staatsverbrechen, d.h. eingebunden in das zwischen 1933 und 1945 in Deutschland offiziell geltende Macht- und Politiksystem, und sie waren historisch möglich nur, weil die damaligen Machteliten und Funktionsträger der deutschen Gesellschaft sie mehrheitlich miterdachten, ausführten oder absicherten, also praktisch und ideologisch die Handlungsbasis für diese Staatsverbrechen bereitstellten; diese historische Rolle der deutschen Herrschaftsapparate im Nationalsozialismus war wiederum nur möglich, weil das "Dritte Reich" trotz mancher Vorbehalte im einzelnen bei der Mehrheit der deutschen Gesellschaft eine strukturelle Akzeptanz gefunden hatte. Insofern hatte die nationalsozialistische Politik in Deutschland ihre 'Normalität'. Der Begriff 'Befreiung Deutschlands' geht, wenn er sich auf die politische Befindlichkeit der Mehrheit der deutschen Bevölkerung im Mai 1945 bezieht, in der Tat an einem historischen Sachverhalt vorbei: Die Schritte ins 'Dritte Reich' und die Wege des 'Dritten Reiches' sind nicht nur von den Führern gegangen worden (die nach 1945 als 'Abenteurer' erschienen), sondern auch von 'Gefolgschaften', Millionen von Mitgliedern der nationalsozialistischen 'Eliten', Verbänden, Institutionen und Gruppierungen unterschiedlicher und nicht nur parteikonformer Prägung; Mithilfe bei der Politik des 'Dritten Reiches' wurde vielfach auch dort praktiziert, wo in bestimmten Fragen Differenzen oder Gegenpositionen zur nationalsozialistischen Weltanschauung vorlagen. Dem 'Dritten Reich' fügten sich auch über das direkt nationalsozialistische Lager hinaus mächtige und traditionsgeschützte deutsche politische Gefühle oder Ideologien und sozial-ökonomische Bedürfnisse oder Interessen ein, die unter nationalsozialistischer Regie innergesellschaftlich und außenpolitisch zur Geltung kommen wollten; der Machtzugriff der Nationalsozialisten kam durch politische Bündnisse zustande (was in dem Koalitionscharakter des ersten Kabinetts Hitler seinen Ausdruck fand), aber auch nach der Monopolisierung parteipolitischer Betätigung zugunsten der NSDAP gründete sich das Herrschaftssystem des 'Dritten Reiches' auf gesellschaftliche Bündnispartner. Die Macht- und Mehrheitsfähigkeit der 'nationalen Revolution' wie auch des 'Dritten Reiches' war eben darin begründet, daß der Nationalsozialismus weit über sine unmittelbare Aktivisten- und Anhängerschaft hinaus Ideen und Interessen national bündelte - als 'nationalidentisch' auftreten konnte. Anzumerken ist hier, daß die von Fritz Fischer seinerzeit völlig zu Recht den üblichen Geschichtslegenden entgegengestellte These von der Kontinuität der machtpolitischen Entwürfe deutscher 'Eliten' die Stabilität des 'Dritten Reiches' gewiß nicht vollständig erklären kann; die Funktionsfähigkeit dieses Systems und die Durchführung der nationalsozialistischen Staatsverbrechen stützten sich eben auch auf die 'Zuverlässigkeit' der 'Mittelinstanzen'(Verwaltung, Polizei, Lehrerschaft, Ärzteschaft, 'niedrige' militärische Dienstgrade etc.) und auf die weitreichende Loyalität in den Massen. Eine Sichtweise des 'Dritten Reiches', die isolierend dessen extremste Ausformung, nämlich den organisierten Mord an als 'lebensunwert' definierten Bevölkerungsgruppen in Deutschland und in den besetzten Ländern in den Blick nimmt und diesen dann als kriminelle 'Abnormität' deutet, lenkt von der Einsicht in die Realität der deutschen Gesellschaft 1933 bis 1945 ab; zu fragen ist doch nach den damals 'gesellschaftsfähigen' politischen Strukturen und Verhaltensdispositionen, die ein System fundierten, dem Massenmord als legitimes Mittel der Politik galt - ohne daß die deutsche Gesellschaft im 'Dritten Reich' nun in ihrem Durchschnitt aus Mördern bestanden hätte. Insofern sind gerade auch die Vorgänge zu bedenken, die vor dem 'Holocaust' lagen, die Studen der Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen, die den 'sozialen Tod' schon vor dem Mord bedeuteten. Max Picard hat schon früh, in seinem immer noch bemerkenswerten Buch 'Hitler in uns selbst', auf die spezifischen Bedingungen der Politik der Menschenzerstörung im 'Dritten Reich' hingewiesen, auf die 'wissenschaftliche Grausamkeit' und die kalkuliert-industrielle, 'fabrikförmige' Produktion von Vernichtung, die hier entwickelt wurden. An der Vorbereitung und Ausführung der Staatsverbrechen des 'Dritten Reiches' waren zu ihrem jeweiligen Teil zahllose Menschen beteiligt, und sei es 'nur' im Sinne bürokratischer Handhabung ausgegrenzter, verfolgerischer und menschenzerstörender Politik. Der Massenmord erhielt so eine breite Basis individuell nicht mehr zurechenbarer 'verantwortungsloser Mitverantwortung'. Selbst hier ist die gewissermaßen idealistische Seite der Politik des 'Dritten Reiches' mitzubedenken; die Funktion von Verfolgung und Vernichtung lag nicht nur in der Machtdurchsetzung und in der 'Ausschaltung' tatsächlicher oder vermeintlicher politischer Gegenkräfte; der Massenmord an 'Gemeinschaftsfremden' galt auch als Mittel, 'volksgemeinschaftliche' oder 'rassische'Identität herbeizuführen, dem 'höherwertigen Leben' zu seiner ungestörten Entfaltung zu verhelfen.
Generell ist diese 'idealistische'Komponente in der Massenbasis der nationalsozialistischen Bewegung und des 'Dritten Reiches' nicht außer acht zu lassen; die Herausbildung menschenfeidlichere Ideologien vollzog sich eben auch als Umpolung zunächst durchaus verständlicher Bedürfnisse und Wünsche von Menschen, als Verkehrung sozialer Utopien. An dieser Stelle ein kritischer Hinweis auf Rezeptionswirkungen 'marxistischer' Faschismustheorien: Völlig zu recht haben Deutungen des 'Dritten Reiches', die sich als historisch-materialistisch begreifen, die Bedingungszusammenhänge von kapitalistischen Interessen und nationalsozialistischer Herrschaft herausgestellt und bewußt gemacht, daß die Unterdrückung des (im Sprachgebrauch des 'Dritten Reiches:) 'Marxismus', d.h. der Organisationen und der Überlieferung der Arbeiterbewegung, eine substantielle Zielsetzung nationalsozialistischer Politik war. Die 'Normalität' des 'Dritten Reiches' wäre aber verkannt, wenn aus diesen Einsichten sich ein Bild ergäbe, in dem es so erscheint, als sei das nationalsozialistische System nur durch den Terror einer Macht- und Interessengruppe von Parteiführern, Staatsmänner und Wirtschaftsgewaltigen gegen den Willen der großen Mehrheit der arbeitenden deutschen Bevölkerung aufrechterhalten worden. Manche 'marxistischen' Interpretation der Geschichte des 'Dritten Reiches' vernachlässigen die Voraussetzungen, die dieses System in der gesellschaftspolitischen Mentalität und Ideologie weiter Teile der deutschen Bevölkerung längst vor den dreißiger Jahren hatte; sie unterschätzen den Einfluß, den das vorherrschende 'nationalidentische'Denken auch in der Arbeiterbevölkerung hatte, sowie die ideologischen Erfolge des 'Dritten Reiches' auch bei einem Teil der ehemaligen Anhängerschaft der Arbeiterbewegung.
Arno Klönne Die Deutschen Hitlers Opfer in: Die neue deutsche Ideologie hrg. von W.Eschenhagen

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Most recent revision: April 07, 1998

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