Die 'Konservative Revolution'- Kritik eines Mythos
Kritisiert wird der Versuch, verschiedene Autoren des rechten Spektrums der Weimarer
Republik unter dem Oberbegriff einer 'Konservativen Revolution' zusammenzufassen
und diese zu einer eigenständigen politischen Strömung zu stdisieren,
die dem Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus gleichrangig an die Seite zu
stellen wäre. Die einzige Gemeinsamke*, die Spengler, Schmitt, Jung, Freyer,
Moeller, Niekisch, Jünger und den 'Tat'-Kreis verbindet, ist die Kritik am
politischen Liberalismus; eben diese aberfindet sich auch bei anderen politischen
Strömungen. Ein Kernbestand sozialer, wirtschaftlicher und politischer Doktrinen,
der nur den Autoren der 'Konservativen Revolution' eigen wäre, ist nicht auszumachen.
Als ein polemischer, eine unverwechselbare Identität bezeichnender Begriff
läßt sich die 'Konservative Revolution' nicht aufrechterhalten.
Der Begriff'KonservaÜve Revolution' hat sich in der politischen Ideengeschichte
einen festen Platz erobert. In seinem Ursprung eher die Bezeichnung für eine
noch zu bewältigende Aufgabe, ist er vor allem durch die inzwischen in dritter
Auflage erschienene Studie von Armin Mohler zu einem wissenschaftlichen Ordnungsbegriff
avanciert, der zahlreiche Monographien angeregt hat und bis in die Handbücher
vorgedrungen ist - kein geringer Erfolg für ein Buch, das sich nur als "eine
vorläufige und notwendig unvollkommene Zusammenfassung" verstand und den
Schwerpunkt bewußt auf die bibliographische Erschließung legte. Obwohl
Mohler die beträchtlichen Differenzen zwischen den verschiedenen Exponenten
sah, war er doch fest davon überzeugt, es mit einem eigenständigen Gebilde,
einer Strömung politischen Denkens zu tun zu haben, die einen ähnlichen
Rang beanspruchen konnte wie der Altkonservatismus, der Liberalismus oder der Sozialismus
(Mohler 1989, I: 3).
Mohler gelangte zu diesem Ergebnis jedoch nur, wie er selbst einräumt, "auf
dem Wege der Abstraktion". Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn er die
richtigen Abstraktionen gefunden hätte - Abstraktionen, die es erlaubt hätten,
in schrittweiser Annäherung zum Konkreten aufzusteigen, liegt doch in diesem
Verfahren nach Hegel allein die Möglichkeit der Entwicklung. Davon sind die
von Mohler herausgearbeiteten Axiome indes weit entfernt: sie ermöglichen keinerlei
Entwicklung konkreter Positionen zu den politischen, sozialen und wirtschaftlichen
Fragen der Zeit, sondern bieten lediglich vage'Leitbilder', deren Verbindlichkeit
für die einzelnen Autoren obendrein höchst zweifelhaft ist (1). Einen Versuch, diese Leitbilder mit den konkreten "Auffassungen
von Sitte und Recht, von Staat und Gesellschaft, von Wirtschaft und Kultur"
zu vermitteln, hat Mohler gar nicht erst unternommen; ja er bekennt, daß außerhalb
der Axiome bereits "die durch Bedingtheiten mannigfachster Art ... verursachten
Unterschiede (beginnen)" - was nichts anderes heißt, als daß die
'Konservative Revolution' nur dann als Einheit erscheint, wenn man von all dem absieht,
was eine politische Theorie nun einmal ausmacht (Mohler 1989,1:126).
Ich denke allerdings, daß es auch mit besseren Abstraktionen nicht gelingen
wird, die 'Konservative Revolution' als ein, wenn schon nicht logisch konsistentes,
so doch wenigstens gegenüber anderen Strömungen abgrenzbares Gebilde zu
begründen. Die 'Konservative Revolution', so behaupte ich, ist ein Mythos,
eine Fiktion, die sich im gleichen Maße auflöst, in dem man die von Mohler
ausgegrenzten Stellungnahmen ihrer Protagonisten zu den politischen, sozialen und
wirtschaftlichen Fragen der Zwischenkriegszeit einbezieht. Dies soll im folgenden
anhand einiger zentraler Problemzonen erhärtet werden: der Stellung zum Liberalismus
(I, II); zum nationalistischen und völkischen Denken (III, IV); zur politischen
Binnengliederung (V) und zur Außenpolitik (VI). Um die Darstellung in einem
vertretbaren Umfang zu halten, war eine Beschränkung der Autorenauswahl unumgänglich;
ich hoffe aber, daß die Qualität der herangezogenen Autoren die mangelnde
Quantität wettmacht.
Keine andere Erscheinung des politischen Lebens nach 1918 hat auf der Rechten soviel
Haß und Verachtung auf sich gezogen wie der Liberalismus. Stein des Anstoßes
waren dabei nicht die liberalen Parteien, die schon im Kaiserreich einen kontinuierlichen
Schrumpfungsprozeß erlebt hatten und gegen Ende der Weimarer Republik gerade
noch drei Prozent der Stimmen für sich verbuchen konnten. Gegenstand der nicht
abreißenden Polemik war weit eher, was man als Geist oder Prinzip des Liberalismus
ansah: das parlamentarische System, die Herrschaft der Legislative, den Parteienpluralismus,
die Welt der Verträge und Abstimmungen. Liberalismus - das war Weimar mit seinem
Verfassungskompromiß, der der Sozialdemokratie Einflußmöglichkeiten
auf den Staatsapparat eröffnete; das war der sozialpolitische Fundamentalkompromiß,
der die Gewerkschaften zu Tarifpartnern der Unternehmer erhob; und das war nicht
zuletzt auch Versailles mit seinen allenthalben als demütigend empfundenen
Bedingungen.
Der erste, der diese an sich höchst disparaten Phänomene wirkungsvoll
zu verknüpfen und dem Liberalismus anzulasten verstand, war Oswald Spengler.
Für Spengler war der Liberalismus einerseits ein universelles Stadium, das
aus dem Ubergang von der 'Kultur' zur 'Zivilisation', der Herrschaft des Geldes,
der großstädtischen Massen und der Parteien folgte (Spengler 1973:1060-1064,1120-1130),
andererseits eine spezifisch englische Erscheinung, die nur unter den besonderen
Bedingungen Englands - Insellage, Wikingergeist, puritanische Selbstgewißheit
etc. - erfolgreich war. Während die liberal-parlamentarische Form in England
die Herrschaft einer geschlossenen society über den Staat sicherte, brachte
sie auf dem Kontinent, wo diese Voraussetzung fehlte, nur Anarchie und Zerstörung
hervor, eine Revolution in Permanenz, die zur Nivellierung der Gesellschaft und
zur Dekomposition des Staates führte (Spengler 1924: 55-64). Besonders in Deutschland,
wo der Staat von jeher das einheitsstiftende Prinzip war, wirkte sich die Nachahmung
des englischen Vorbilds verhängnisvoll aus. Die "unsichtbare englische
Armee, die Napoleon seit Jena auf deutschem Boden zurückgelassen hatte",
untergrub die Autorität des Staates, verwandelte die disziplinierte Arbeiterbewegung
in eine wilde Lohnpolitik einzelner Gruppen und bereitete endlich den Boden Mr die
Revolution, die mit der Friedensresolution der Mehrheitsparteien vom Juli 1917 begann.
Letzten Endes, so Spenglers Fazit, war es der Geist des Liberalismus, "der
das 'innere England' der Mehrheitsparteien zu jener parlamentarischen Revolution
von 1917 zusammenfaßte, die dem äußeren England der Ententemächte
durch den Sturz des Staates den Endsieg gesichert hat" (1924: 5, 46, 67).
Auch Moeller van den Bruck kritisierte die Revolution vor allem deshalb, weil sie
eine liberale Revolution war. Im Unterschied zu Spengler lehnte er zwar die Revolution
nicht schlechterdings ab, erschien ihm doch die vorangegangene wilhelminische Epoche
als durchaus hohl und leer, ja geradezu als abscheulich. Gleichwohl sprach auch
er von einer falschen und halben Revolution: falsch, weil sie in einer Ubernahme
westlich-parlamentarischer Muster bestand; halb, weil sie das Problem der nationalen
Integration nicht gelöst hatte. Eine solche Integration war nötig, da
Deutschland durch die Niederlage im Weltkrieg in das Lager der unterdrückten
Nationen geraten, mehr noch: zur unterdrücktesten Nation überhaupt geworden
war (Moeller van den Bruck 1938: 25,162). Sie war indes unter liberalem Vorzeichen
nicht möglich, weil der Liberalismus die Gemeinschaft durch Gesellschaft ersetzte,
Trennungen zwischen den Angehörigen desselben Volkes aufriß und das Land
in innenpolitische Konflikte stürzte, anstatt es zu einer machtvollen Außenpolitik
zusammenzuschweißen. Wenn Deutschland sich nicht vom Westen losriß,
wenn es nicht im Liberalismus den 'Feind' erkannte, war seine Proletarisierung und
damit sein Untergang unabwendbar. "An Liberalismus gehen die Völker zu
Grunde" (1938: 82, 131, 102).
Der dritte und sicherlich kenntnisreichste Angriff gegen den Liberalismus wurde
von Carl Schmitt vorgetragen. In seiner Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des
heutigen Parlamentarismus (1923) arbeitete Schmitt zunächst die zentrale Stellung
der Diskussion im liberalen System heraus und zeigte, wie daraus die Forderungen
nach Öffentlichkeit des politischen Lebens und nach Gewaltenteilung erwuchsen.
Seine weitere Argumentation zielte auf den Nachweis, daß durch die Beteiligung
der Volksvertretung an der Regierung die Gewaltenteilung und mit ihr die alte Idee
des Parlamentarismus aufgehoben werde. Echte diskursive Willensbildung, meinte Schmitt,
gebe es in der modernen Massendemokratie nicht mehr. Die gesellschaftliche Wirklichkeit
sei bestimmt durch organisierte Interessen, unter deren Regime sich "alle öffentlichen
Angelegenheiten in Beute- und Kompromißobjekte von Parteien und Gefolgschaften
verwandeln und die Politik, weit davon entfernt, die Angelegenheit einer Elite zu
sein, zu dem ziemlich verachteten Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse
von Menschen geworden ist" (Schmitt 1969: 8). Da man gleichwohl an der parlamentarischen
Regierungsform festhalte, bestehe die Gefahr, daß entweder Exekutive und Legislative
durch den Parteienpluralismus mehrheits- und handlungsunfähig würden,
"oder aber, daß die jeweilige Mehrheit alle legalen Möglichkeiten
als Werkzeuge und Sicherungsmittel ihres Machtbesitzes gebraucht, die Zeit ihrer
staatlichen Macht nach allen Richtungen ausnützt und vor allem dem stärksten
und gefährlichsten Gegner nach Möglichkeit die Chance zu beschränken
sucht, das gleiche zu tun" (Schmitt 1969a: 89).
Ein Blick auf die übrigen, gemeinhin zur 'Konservativen Revolution' gerechneten
Autoren zeigt, daß sie diesen Argumenten nichts Neues hinzuzufügen hatten.
Edgar Jung paraphrasierte lediglich die Ansichten Spenglers, Moellers und Schmitts,
wenn er als Folge des Liberalismus den Weg in die Anarchie oder den Absolutismus
der Mehrheit benannte (Jung 1930: 225-226). Der Tat-Kreis berief sich auf Schmitt
und Spengler, als er den Zusammenbruch der liberalistischen Formen und das Ende
der Parteien diagnostizierte (Die Tat 1932-1933, 1: 77, 1929-1930, II: 567-568).
Spengler verpflichtet blieb Hans Freyer, der die permanente Revolution - die 'Revolution
von links' - auf den Liberalismus zurückführte (1931: 9); und auch Ernst
Jünger zeigte sich nicht eben originell, als er das endlose bürgerliche
Gespräch verspottete und die Notwendigkeit einer "Vernichtung der liberalen
Deckschicht" postulierte, "die im Grunde nicht mehr als eine Beschleunigung
ihrer Selbstvernichtung" sei (1932: 26, 188). Wenn sich die 'konservativen
Revolutionäre' in etwas einig waren, dann in der Diagnose, daß sich der
Liberalismus in der Agonie befand und daß eben dies die Ursache der perennierenden
Krise war. Hier aktive Sterbehilfe zu leisten, war man nur zu gerne bereit.
II.
Diese Einmütigkeit endete allerdings schon bei der Frage, ob die Kritik am
politischen Liberalismus auch auf den Wirtschaftsliberalismus ausgedehnt werden
sollte. Zwar trat für den Kapitalismus kaum jemand offen ein. "Wir sind
Sozialisten", posaunte Spengler, und Moeller van den Bruck rief gar zum Krieg
gegen die "Weltbourgeoisie" auf (Spengler 1924: 103; Moeller van den Bruck
1938: 185). Sieht man jedoch näher zu, so entdeckt man rasch, daß nur
ein Teil der 'konservativen Revolutionäre' bereit war, aus den antikapitalistischen
Prämissen die notwendigen Konklusionen zu ziehen. Ein anderer Teil hatte dagegen
keine Schwierigkeiten, das sozialistische Vokabular mit Vorstellungen zu vereinigen,
die im Kern liberal, und zwar manchester-liberal waren. Zu dieser letzteren Gruppe
zählten Spengler, Moeller van den Bruck, Edgar Jung und Carl Schmitt. Spenglers
Kunstgriff bestand darin, den Sozialismus zu einer Form des Willens zur Macht, zur
Herrschaft über die Erde zu deklarieren und diese dann in Untertypen zu gliedern,
die sich nach den jeweils bevorzugten Mitteln bestimmten. Der spanische Ultramontanismus
wurde dadurch zum Sozialismus der Kirche, der englische Kapitalismus zum Sozialismus
des Geldes, das Preußentum zum Sozialismus des Staates (Spengler 1924: 88).
Für jemand, der keine Bedenken hatte, mit Blick auf die Yankees von 'Milliardärsozialismus'
zu sprechen, war es ein leichtes, der Arbeiterbewegung vorzurechnen, daß der
von ihr vertretene Sozialismus nur ein 'Kapitalismus von unten' sei, der sich vom
Börsen- und Finanzkapitalismus nur durch seine rein negativen Wirkungen unterscheide
(Spengler 1924: 45; 1933: 137). Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit
erschienen Spengler als direkte Folge dieses Arbeitersozialismus, der überall
in den Industrieländern zu Lohndiktat und'Steuerbolschewismus' geführt
und die Unternehmer in den Ruin getrieben habe (1933: 112, 119). Angesichts dieser
eindeutigen Schuldzuweisung wundert es nicht, daß der von Spengler verkündete
echte, d.h. preußische Sozialismus ausgesprochen liberale Züge trug:
setze dieser Sozialismus doch "eine Privatwirtschaft mit ihrer altgermanischen
Freude an Macht und Beute voraus" (1932, VIII-XI), welche nicht durch dirigistische
Eingriffe, teure Soziallasten und vor allem nicht durch erpresserische Gewerkschaften
beeinträchtigt werden dürfe. Der preußische Stil, so erläuterte
Spengler, fordere wohl den Vorrang der großen Politik vor der Wirtschaft,
jedoch keineswegs die "parteimäßige, programmatische Organisation
und Uberorganisation bis zur Aufhebung der Idee des Eigentums, welche gerade unter
germanischen Völkern Freiheit des wirtschaftlichen Willens und Herrschaft über
das Eigene bedeutet. 'Disziplinierung' ist die Schulung eines Rassepferdes durch
einen erfahrenen Reiter und nicht die Pressung des lebendigen Wirtschaftskörpers
in ein planwirtschaftliches Korsett oder seine Verwandlung in eine taktmäßig
klappernde Maschine" (Spengler 1933: 138).
Spenglers Uberzeugung, eine gesunde Wirtschaft sei nur auf der Basis der ungeschmälerten
Privatautonomie möglich, fand in den Kreisen der 'Konservativen Revolution'
breiten Widerhall. Für Moeller, der immerhin mit dem Gedanken einer körperschaftlichen
Gliederung der Wirtschaft spielte, stand der Primat des kapitalistischen Unternehmers
dennoch fest, weil die Gliederung der Menschheit in eine aktiv-führende und
eine bloß ausführende Klasse letztlich biologisch begründet sei
(1938: 67, 132). Eine ähnliche Heroisierung des Unternehmertums fand sich bei
M.H. Boehm, Wilhelm Stapel, Heinrich v. Gleichen oder Walther Schotte, die allesamt
die Rolle des Kampfes im wirtschaftlichen Leben betonten und damit nicht selten
eine heftige Ablehnung des Sozialstaates verbanden (Gerstenberger 1969: 54-58; Kondylis
1986: 485-490). Auch Carl Schmitt ließ, bei aller Kritik am liberalen Parlamentarismus,
an seiner grundsätzlichen Option für die liberale Trennung von Staat und
Gesellschaft und für die Freiheit des Privateigentums keinen Zweifel. So forderte
er etwa eine stabile Autorität, "um die notwendigen Entpolitisierungen
vorzunehmen und, aus dem totalen Staat heraus, wieder freie Sphären und Lebensgebiete
zu gewinnen", und so plädierte er für eine Stärkung derjenigen
Elemente der Weimarer Verfassung, die auf eine "substanzhafte Ordnung"
zielten - worunter nach Schmitt insbesondere die Institute der Ehe, der Religionsfreiheit
und des Privateigentums zu verstehen waren (Schmitt 1973: 340, 344, 198). Noch deutlicher
wurde das liberale Credo bei Jung, der eine drastische Reduktion des wirtschafts-
und sozialpolitischen Engagements des Staates befürwortete, die Sozialpolitik
durch Erziehung zur Selbstverantwortlichkeit ersetzen und Rechtsbezirke schaffen
wollte, "die mit solchen Schutzwällen umgeben sind, daß auch staatliche
Willkür ihre Ubersteigung nicht wagen dar£" Jung wollte zwar den
vor dem Staat geschützten gesellschaftlichen Raum durch allerlei 'natürliche
Verbände' organisch gegliedert wissen und nicht einfach dem laissez-faire überlassen;
seine Forderung nach der Erneuerung der "natürlichen Doppelung von Gesellschaft
und Staat" indes entsprach so weitgehend frühliberalen Vorstellungen,
daß das organizistische Vokabular als durchaus überflüssige Beigabe
erscheint (Jung 1930: 479, 448, 451-453,302-303, 157).
Communis opinio war diese Ansicht allerdings mitnichten. Eine weitaus positivere,
berücksichtigt man den Kontext: geradezu enthusiastische Einschätzung
des Soialstaates kam von Hans Freyer, der im Arbeitsrecht, im System der sozialen
Sicherung .nd der Tarifparteien ein neues Ordnungsprinzip entdeckte, das eine Uberwindung
er auf Abstraktion und Entfremdung gegründeten Industriegesellschaft ermöglichte.
)ie Sozialpolitik - und damit meinte Freyer nicht die von oben gewährte, sondern
~ie von unten erkämpfte - habe dem sinnlos gewordenen Ganzen einen neuen Sinn
erliehen und es geschafft, "dem Menschen sein Menschentum zu garantieren und,
wo es verloren gegangen ist, es ihm wiederzugewinnen" (Freyer 1931: 30, 28-29);
sie habe dadurch ein neues Subjekt der Geschichte erzeugt, das nicht mehr im egoistischen
'rivatinteresse wurzele, sondern das Ganze wolle: das Volk (1931: 36-37). Was Freyer
unter diesem neuen Subjekt verstand, war zwar nicht sehr klar; klar war jedoch,
daß die von ihm propagierte Revolution von rechts in der "Einswerdung
von Volk und Staat" (1931: 62) bestehen sollte, nicht in der Erneuerung frühliberaler
Trennungen. Und klar war auch, daß das "Soziale" nicht etwa abgebaut,
sondern eingebaut werden sollte. "Aber die Tatsache Sozialpolitik überhaupt
ist, einmal gewonnen, durch keine Reaktion wieder wegzubringen" (1931: 68).
Freyer sprach sich deshalb eindeutig für einen Staatssozialismus aus, der die
Voraussetzung dafür schaffen sollte, "daß das Kraftfeld des Volks
von den heterogenen Querschlägen der industriellen Gesellschaft reigemacht
wird, und daß dadurch das Volk, Herr seiner Welt, zum politischen Subjekt,
zum Subjekt seiner Geschichte wird" (1931: 67).
Besondere Zustimmung fand Freyer bei der Tat, die seit Ende der zwanziger Jahre
ähnliche Vorstellungen vertrat, in einzelnen Forderungen aber sehr viel weiter
ging Die Tat 1931-1932, 1: 241). Hans Zehrer, ihr leitender Redakteur, war fest
davon überzeugt, daß die notwendige Erneuerung der Staatsidee auf Kosten
der kapitalistischen Wirtschaft gehen, d.h. antikapitalistische und staatssozialistische
Züge tragen werde (1930-1931, I: 168). Für Zehrer schloß dies immerhin
die Verstaatlichung der D-Banken und der 'Urproduktion' (Eisen, Kohle, Kali, Chemie)
ein, außerdem eine grundlegende Neuordnung des Kapitalbesitzes durch Vermögens-
und Erbschaftssteuern und eine Aktienreform. Ferdinand Fried, der führende
Wirtschaftsredakteur, ergänzte diesen Katalog um die Forderung nach Zerschlagung
des Großgrundbesitzes, genossenschaftlicher Durchorganisierung der Bauernschaft,
staatlicher Aufsicht und Controlle über die gesamte Getreide- und Viehwirtschaft,
Einschränkung oder Aufhebung der Gewerbefreiheit und staatlicher Monopolisierung
des Außenhandels (1929-1930, 1: 39, 1931-1932, 1:383; Fritzsche 1976: 168,
175-176). Dies alles sollte nicht auf dem Wege der Revolution, sondern dem der Evolution
durchgesetzt werden; es sollte auch nicht dem Marxismus dienen, sondern im Gegenteil
den "Gegenschlag des Bürgertums gegen den Marxismus" vorbereiten.
Dazu aber war nach Zehrer eine völlig andere Politik vonnöten, als sie
die bürgerlichen Parteien bislang betrieben hatten:
"Man muß sich heute über eines restlos klar sein: wenn dieser bürgerliche
Gegenschlag nicht auf einer so breiten Front erfolgt, daß er einen Teil des
marxistischen Programms und damit auch einen großen Teil der Arbeiterschaft
mitumfaßt; wenn er nicht zugleich einen Teil dessen verwirklicht, auf das
die Sozialdemokraten im Jahre 1919 kampflos verzichtet haben, wenn er nicht eine
neue und typisch-deutsche Form der staatlichen und wirtschaftlichen Verfassung schafft,
dann erleben wir in zwanzig oder in dreißig Jahren einen Gegenschlag, den
wir uns heute noch nicht träumen lassen. Wenn die heutige Chance - vielleicht
die letzte! - verpaßt oder durch übereilte Aktionen überspitzt wird;
wenn heute von oben versucht werden sollte, was nur von unten heraufwachsen kann;
wenn heute nicht begriffen werden sollte, daß die Zukunft lediglich durch
den wirtschaftlichen Akzent entschieden wird, den man der heutigen Entwicklung gibt,
dann schaufelt sich die Mittelklasse ihr eigenes Grab!" (1929-1930, II: 654).
Wiederum anders, nämlich mit scharfer Spitze gegen die bürgerliche Welt,
argumentierten Niekisch und Jünger. Niekisch, der unter den Weimarer Intellektuellen
wohl über das größte Talent verfügte, sich zwischen alle Stühle
zu setzen, brachte es fertig, sowohl das Privateigentum zu negieren als auch den
Wohlfahrtsstaat als 'eiterndes Geschwür' zu attackieren, das den deutschen
Staat zernage und zerfresse (Niekisch 1930: 123-124, 65). Jünger, der eine
Zeitlang in Mekischs Zeitschrift Widerstand publizierte, räumte dem Sozialen
immerhin eine gewisse Funktion ein, da es durch Mvellierung und Mobilisierung dazu
beitrage, dem heraufziehenden Arbeitsstaat den Boden zu bereiten. Ob es in diesem
dann Privateigentum geben würde oder nicht, erschien ihm als untergeordnete
Frage. Zwar meinte Jünger mit Bezug auf die Erfahrungen der Sowjetunion, daß
die völlige Brechung der Privatinitiative einen Aufwand erfordere, der durch
keinen Ertrag gerechtfertigt werde; doch sei dieser Aufwand schon deswegen überflüssig,
weil das Privateigentum durch die staatlichen Arbeits- und Mobilmachungspläne
ohnehin in einer Weise funktionalisiert und relativiert werde, daß von Autonomie
keine Rede mehr sein könne. Im totalen Arbeitsstaat, der heute im Entstehen
begriffen sei werde "jeder Art der Initiative und des Eigentums die mehr oder
minder deutliche Eigenschaft eines Lehens gegeben" (Jünger 1932: 283).
Dies sei die überlegenste Art, es der liberalen Initiative zu entziehen: es
als eine untergeordnete Tatsache in einen Gesamtzustand einzubetten, der durch die
absolute Dominanz des Staates, seine Verfügung über die Produktionsmittel
höchsten Rangs, gekennzeichnet war: "entscheidend ist nicht, wer über
die elektrische Maschine oder das Automobil, sondern wer über die Talsperren-
und Autostraßensysteme verfügt" (1932: 283-284). Man muß nur
einmal die erbitterte Polemik M.H. Boehms gegen dieses "Programm eines abgewandelten
Bolschewismus" lesen, um zu erkennen, daß es hier um weit mehr als um
einen bloßen Konflikt zwischen zwei Flügeln der'Konservativen Revolution'
ging (Boehm 1933: 10).
III.
Die Polyphonie steigert sich, wenn man von den negativen zu den positiven Bezugspunkten
der 'Konservativen Revolution' übergeht. Beginnen wir mit dem Begriff Nationalismus,
den Kurt Sontheimer als Überschrift für seine Darstellung der verschiedenen
Gruppen der Weimarer Rechten gewählt hat (1968: 113). Versteht man unter Nationalismus
jene spezifisch neuzeitliche politische Religion, der die Bindung an die Nation
als oberster innerweltlicher Wert gilt (Alter 1985: 14), so trifft dies auf niemanden
genauer zu als Moeller van den Bruck. Die konservative Gegenbewegung, die Moeller
der liberalen Revolution entgegensetzen wollte, wurde vor allem anderen als Selbstbesinnung
der Nation vorgesteüt, als eine über die Parteien hinausgreifende Sammlungsbewegung,
die "den Gedanken an die Nation über jeden andern Gedanken, auch über
den monarchischen" stellte (1938: 174-175). Unter Nation verstand Moeller dabei
keine bloß biologische, aber auch keine rein politisch-staatliche Größe,
sondern, in durchaus Herderschem Sinne, etwas Moralisches und Metaphysisches: eine
Wertungsgemeinschaft. "Leben im Bewußtsein seiner Nation heißt
Leben im Bewußtsein ihrer Werte. Der Konservativismus einer Nation sucht diese
Werte zu erhalten: durch Bewahrung der überlieferten Werte, soweit sie Wachstumskraft
in der Nation behielten - und durch Einbeziehung aller neuen Werte, soweit sie die
Lebenskraft der Nation vermehren" (1938: 235, 231-232). Um welche Werte es
sich im Falle der deutschen Kultur handelte, wußte Moeller zwar nicht anzugeben.
Er machte jedoch aus dieser Not eine Tugend, indem er dem deutschen Nationalismus
die Aufgabe zuwies, aus der Geschichte heraus die wichtigsten Werte zusammenzufassen
und herauszustellen, "um der Nation deutlich zu machen, was ihr gehört,
weil es deutsch ist und weil es Wert ist: die deutsche Menschengeschichte"
(1938: 243). Seine paradoxe Formel, konservativ sei, Dinge zu schaffen, die zu erhalten
sich lohne (1938: 202), erhält von hier ihren Sinn. Die Behauptung, Moeller
habe alle Werte verworfen und dem blanken Nihilismus gehuldigt, trifft seine Position
nicht (Stern 1986: 2, 242, 318).
Dem nationalistischen Lager kann auch Carl Schmitt zugerechnet werden, dem es 1923
als ausgemacht galt, "daß der stärkere Mythus im Nationalen liegt"
(1969: 88). Allerdings war Schmitt kein Nationalist im oben definierten Sinne, erschien
ihm doch die Nation mitnichten als oberster Wert. Vor und über aller Wertbeziehung
konstituierte sich die Nation in seiner Sicht in einem existentiellen Akt: der Willenserklärung
eines Volkes, sein besonderes Sein in der Sphäre des Politischen zu behaupten.
Obwohl die Nation auf diese Weise zu einem Aggregatzustand des Volkes und somit
zu einer abgeleiteten Größe wurde, genoß sie in Schmitts Denken
doch einen deutlich höheren Rang als das Volk. Ein Volk nämlich, das nicht
als Nation existierte, war "nur eine irgendwie ethnisch oder kulturell zusammengehörige,
aber nicht notwendig politisch existierende Verbindung von Menschen" (1970:
79), welche ständig in der Gefahr stand, sich durch den Verzicht auf die politische
Selbstbehauptung einem überlegenen Herrschaftswillen auszuliefern. Als Gegenstand
sowohl der historischen als auch der juristischen Betrachtung kam für Schmitt
das Volk nur soweit in Betracht, als es "ein durch politisches Sonderbewußtsein
individualisiertes Volk" war, d.h. soweit es sich als Nation konstituiert hatte
(1970: 231). Dieser Konstitutionsakt erfolgte durch die Unterscheidung von Freund
und Feind, durch eine Willensbekundung, welche weder aus irgendwelchen Einzelentscheidungen
noch aus naturrechtlich vorgegebenen Normen abgeleitet war, vielmehr ihre Rechffertigung
ganz in sich selbst trug. War diese Entscheidung einmal gefallen, so kam ihr unbedingter
Vorrang gegenüber allen anderen Orientierungen zu. "Wenn die Nation als
Subjekt der verfassunggebenden Gewalt dem absoluten Fürsten entgegentritt und
seinen Absolutismus beseitigt, so setzt sie sich ebenso absolut an seine Stelle.
Die Absolutheit bleibt hier mit unveränderter, sogar mit gesteigerter Kraft
bestehen, weil das Volk sich jetzt mit sich selbst in seinem Staat politisch identifiziert"
(1970: 51).
Erheblich gedämpfter war die Haltung gegenüber dem Nationalen dagegen
im Tat-Kreis. Zehrer würdigte zwar das neue Nationalgefühl und sprach,
ganz im Moellerschen Geiste, von der proletarischen Nation (Die Tat 1929-1930, 11:
646, 1932-1933, 1: 200). Gleichwohl galt ihm das Nationale nicht als oberster Wert,
sondern nur als eines von drei Momenten, aus denen sich der Volkswille zusammensetzte.
Als Verkörperung des Behauptungs- und Geltungswillens eines Volkes sei es heute
wichtiger als das erste Element (das Religiöse), dessen Bedeutung durch die
Säkularisierung herabgemindert sei; jedoch nicht so wichtig wie das dritte
Element, das Soziale: die "Einheit der gesellschaftlichen Kräfte",
welche "heute das Stärkere und jeweils der Urgrund und die Quelle der
beiden anderen Elemente" sei (1932-1933, I: 372). Zehrer lehnte deshalb Schmitts
Vorstellung von der Uberlegenheit des nationalen Mythos ab. Worauf es heute ankomme,
sei nicht die Betonung des Nationalen, sondern dessen Durchdringung mit dem Sozialen
als der eigentlich dominierenden Kraft - eine Konstellation, welche die Tat bekanntlich
wie Schleicher in einem Bündnis zwischen Teilen des Nationalsozialismus und
den Gewerkschaften verwirklichen zu können glaubte (1932-1933, I: 382-383,
389; zum Bündniskonzept Schleichers: Schildt 1981).
Auf Distanz gegenüber dem Nationalismus gingen dagegen Spengler und, Anfang
der dreißiger Jahre, auch Jünger. In Spenglers Geschichtsbild nahmen
die Nationen wohl einen herausragenden Platz ein, jedoch in einem Stadium, das im
Abendland bereits Vergangenheit war: dem der Kultur. Nur Kulturvölker, die
von einer Idee regiert wurden, waren für Spengler Nationen; die Kultur des
Abendlandes aber war um 1800 zu Ende gegangen (1973: 761, 1924: 22). Der moderne
Nationalismus hatte damit nichts mehr zu tun. Er war ein Phänomen der Zivilisation,
"ein rationalistisches und romantisches Ideal", das auf eine atomisierte
und nivellierte Masse gemünzt war, "formlos und ohne Aufbau, herrenlos
und ziellos". Wie immer dieser Nationalismus sich gerieren machte - ob liberal
oder demokratisch, sozialistisch oder faschistisch er war eine Ubergangserscheinung,
eine Vorstufe des kommenden Cäsarismus, dem allein die Zukunft gehörte.
Die Epoche des Nationalstaates war zu Ende, "und auch der Nationalismus heutiger
Art wird verschwinden ... Das Schicksal, einst in bedeutungsschweren Formen und
großen Traditionen zusammengeballt, wird in der Gestalt formloser Einzelgewalten
Geschichte machen. Die Legionen Cäsars wachen wieder auf" (1933: 25-26,
140, 165).
Der zweite Teil dieser Prognose wurde von Ernst Jünger nicht übernommen;
aber daß der Nationalstaat eine überholte Erscheinungsform sei, glaubte
auch er. Noch in den zwanziger Jahren selbst ein glühender Nationalist(2), sah er 1932 im Nationalismus nur mehr eine Phrase, die, ähnlich
wie der Sozialismus, aus dem Liberalismus stamme. Die nach dem Weltkrieg überall
eingerichteten nationalen Demokratien erschienen ihm als Ubergangszustand, "dem
es an Gestalt und damit an echter Ordnung mangelt"; ihre Verwirklichung habe
nach innen das Vordringen eines kleinbürgerlichen, chauvinistischen Menschenschlags
gebracht, nach außen eine Emanzipation der Farbigen, die die Herrschaftsposition
der alten Nationalstaaten untergrabe (1932: 240-242). Die Zukunft gehöre nicht
Der zweite Teil dieser Prognose wurde von Ernst Jünger nicht übernommen;
aber daß der Nationalstaat eine überholte Erscheinungsform sei, glaubte
auch er. Noch in den zwanziger Jahren selbst ein glühender Nationalist(2),
sah er 1932 im Nationalismus nur mehr eine Phrase, die, ähnlich wie der Sozialismus,
aus dem Liberalismus stamme. Die nach dem Weltkrieg überall eingerichteten
nationalen Demokratien erschienen ihm als Ubergangszustand, "dem es an Gestalt
und damit an echter Ordnung mangelt"; ihre Verwirklichung habe nach innen das
Vordringen eines kleinbürgerlichen, chauvinistischen Menschenschlags gebracht,
nach außen eine Emanzipation der Farbigen, die die Herrschaftsposition der
alten Nationalstaaten untergrabe (1932: 240-242). Die Zukunft gehöre nicht
der nationalen Expansion, weil durch den Nationalismus eher Grenzen vertieft und
Gräben aufgerissen würden; außerdem sei der Nationalstaat außerstande,
die Technik zu mobilisieren, welche ihrem Wesen nach kein der Nationzugeordnetes
und auf sie zugeschnittenes Mittel sei (1Y32: 167). der kommende Arbeitsstaat sei
der Tendenz nach imperial und planetarisch. Um ihn zu erreichen, seien die Nationalstaaten
und Nationalimperien alten Stils gehalten, "sich in jene neue Verfassung zu
bringen, die in der organischen Konstruktion der Planlandschaft zum Ausdruck kommt"
(1932: 290). Es mag dahingestellt bleiben, ob diese organische Konstruktion sehr
viel mehr bedeutete als eine contradictio in adiecto. Ein Dokument des revolutionären
Nationalismus aber ist Der Arbeiter sicher nicht.
Noch ablehnender als Spengler und Jünger, die dem Nationalstaat immerhin eine
gewisse Ubergangsfunktion zugestanden, äußerten sich Freyer und Jung.
Nach Freyer steckten im Nationsbegriff "tausend Lügen der industriellen
Gesellschaft, und an allen Ecken und Enden guckt neunzehntes Jahrhundert hervor";
mit seinen Grenzen, seinem starren Besitzstand und seinem zusammengeerbten Land
habe der Nationalstaat das staatliche Denken verfälscht. "Dieser Begriff
ist gründlich abzubauen" (1931: 50, 65). Edgar Jung, der sich noch in
der ersten Auflage seiner Herrschaft der Minderwertigen (1927) für den Neuen
Nationalismus erklärt hatte, wandte sich in der zweiten Auflage (1929) nicht
nur von diesem, sondern vom Nationalismus überhaupt ab. Nationalismus sei eine
Schöpfung des romanischen Denkens, abstrakt und unorganisch, und eben deshalb
deutschem Denken von Haus aus fremd. Er entspringe aus der Staatsvergottung der
Franzosen, sei also "etwas künstlich Neugeschaffenes, kein urwüchsig
und unbewußt Gewordenes"; auBerdem sei er expansiv und imperialistisch
und führe zu einer selbstsüchtigen Politik. Jung setzte dagegen die bewußte
Abwendung vom westlichen Nationalstaatsgedanken, die Besinnung auf die übernationale
Sendung des deutschen Volkes, das die Aufgabe habe, "den abendländischen
Kulturkreis vor Zersetzung zu retten", "Träger der Wiederverchristlichung
zu werden und an Stelle der Anarchie geistige, gesellschaftliche und politische
Einheit zu setzen" (1930:114-117). Uber die politische Form, die den Nationalstaat
ersetzen sollte - das Reich - wird weiter unten noch zu sprechen sein. Zuvor aber
müssen wir uns Klarheit über den Begriff verschaffen, der sowohl bei Freyer
als auch bei Jung als eigentlicher Antipode zur Nation fungiert: das Volk.
IV
Der Volksbegriff Jungs erinnert auf den ersten Blick an Herder. Volk, so erfahren
wir, ist "stärkste metaphysische Gebundenheit des Einzelmenschen",
eine Individuation Gottes, ein "selbständiges, geisterfülltes Wesen,
das sich im Einzelmenschen immer nur teilhaft widerspiegelt" (1930: 118, 132).
Wie bei Herder jedes Volk als ein lebendiger Organismus, als Offenbarung des Heiligen
vorgestellt wird, das der Pflege und der Verehrung bedarf, erscheint es auch bei
Jung als eine primär seelisch bestimmte Gesamtpersölichkeit, als irdisches
Gefäß, "in dem der göttliche und sittliche Inhalt gefaßt
wird" (1930: 127). Völkische oder rassistische Argumente haben in diesem
religiös-metaphysischen Diskurs keinen Platz, und so ist es denn durchaus folgerichtig,
wenn Jung die Rassenlehre als biologistische und materialistische Verirrung zurückweist
und ihr eine Verleugnung; des Geistes und der Freiheit vorwirft.
Daß die völkische Ideologie gleichwohl ihren Eindruck auf ihn nicht verfehlt
hatte, zeigt sich schon wenige Zeilen später, wo Jung auf der "Tatsache
wertvoller und minderwertiger Rassen" insistiert und die Forderung nach Rassenschutz
als eine für das politische Leben "wohl annehmbare Erwägung"
bezeichnet. Wenngleich Jung eine Abstufung der staatsbürgerlichen Rechte nach
rassenmäßigen Gesichtspunkten ablehnt und den Antisemitismus als Politik
des Ressentiments kritisiert, lädt er seinen Volksbegriff doch so stark mit
völkischen Konnotationen auf, daß die Grenzen nahezu fließend werden.
Man könne nicht leugnen, heißt es, daß die rassische Zusammensetzung
der Völker Einfluß auf deren geschichtliche Entwicklung gehabt habe;
sei doch etwa der Niedergang der antiken Kulturen durch "rassische Zersetzung
mitverschuldet" worden. Und wenn heute fast überall der Ruf nach rassischer
Reinhaltung und Hochzüchtung erschalle, "so ist das ebenfalls ein Teil
der Auseinandersetzung zwischen Minderwertigkeit und Hochwertigkeit" (1930:
120-121). Wenn Mohler mit Blick auf Jung vom zurückhaltenderen und feiner organisierten
Wesen der Jungkonservativen spricht, neben dem den Völkischen der Geruch dumpfer
Blutmystik anhafte, so ist ihm offenbar der folgende Satz entgangen: "Maßnahmen
zur Hebung rassisch wertvoller Bestandteile des deutschen Volkes und zur Verhinderung
minderwertigen Zustromes müssen aber eher heute als morgen getroffen werden"
(1930: 126; Mohler 1989, 1: 141).
Jung war nicht der einzige 'konservative Revolutionär', der dem völkischen
Gedankengut Konzessionen machte. Ähnliche Tendenzen finden sich bei Max Hildebert
Boehm, der wie Jung die Fragwürdigkeit der Rassenlehren erkannte, nichtsdestoweniger
davor warnte, "den gesunden und vor allem auch volkstheoretisch wichtigen Kern
dieser Ansichten und Bestrebungen zu übersehen" (1932: 17-23); bei Wilhelm
Stapel, für den das ethische Sollen seine inhaltliche Bestimmung aus dem biologischen
Zustand einer Gemeinschaft erhielt (1932: 223); oder bei Ernst Niekisch, der in
seinen obsessiven Attacken gegen die romanische Uberfremdung Deutschlands immer
wieder auf die germanische Ursubstanz des deutschen Wesens rekurrierte und dabei
nicht vor Anbiederungen an Rosenbergs Mythos des 20. Jahrhunderts zurückschreckte
(1930: 19-20; Sauermann 1984: 116, 215-20, 230, 243). Sogar die Tat, die im Sinne
der idealistischen Tradition vom Volksgeist sprach und die Glaubens- und Willensgemeinschaft
des deutschen Volkes beschwor, würdigte am neuen Nationalgefühl vor allem
dessen völkische Orientierung, die "zum ersten Male nach der Verengung
der wilhelminischen Ära wieder mit der gesamten deutschen Nation deutschen
Blutes und deutscher Sprache" rechne (1932-1933, 1: 370, 1929-1930, 1: 565,
646). Auch wenn rassistische und antisemitische Parolen im Tat-Kreis keine zentrale
strategische Bedeutung hatten, tauchten sie doch mitunter auf - etwa, wenn Fried
die Einheit der Rasse als Grundlage eines neuen, bewußt nationalen Volkstums
pries, oder wenn deutlich gemacht wurde, daß Juden nicht zur neuen Volksgemeinschaft
gehörten (1930-1931, II: 868; Fritzsche 1976: 152-153).
Den Volksbegriff zum Dreh- und Angelpunkt der politischen Theorie zu erheben, ohne
ihn völkisch aufzuladen - dieses Kunststück hat vor 1933 nur Hans Freyer
fertiggebracht. Ihm galt das Volk nicht als Naturgröße, sondern ganz
und gar als das Ergebnis geschichtlicher Dialektik: der Vergesellschaftung der Gesellschaft,
wie sie der industrielle Kapitalismus herbeigeführt habe, aber auch der Sozialpolitik,
die aus der künstlichen Welt der Industriegesellschaft einen Lebensraum für
den Menschen geschaffen habe. Durch die radikale Vernichtung der vormodernen Welt,
durch die Eingliederung des Proletariats und die Anerkennung der Klasseninteressen
sei das Volk als eine "neue Bildung, eignen Willens und eignen Rechts"
entstanden, welche im Begriff sei sich den Staat und die Technik anzueignen. Eine
genauere Bestimmung dieses neuen Subjekts lehnte Freyer ab, ja er verwahrte sich
ausdrücklich gegen jeden Versuch, den Volksbegriff mit Inhalten zu füllen
und dadurch zu fixieren. "Jede Partei die das Volk bereits gefaBt zu haben
behauptet oder seine Sache vollgültig zu repräsentieren verspricht, lügt
... Es ist nicht möglich, dem werdenden Volk seine 'Volksordnung' auf den Leib
zu schreiben, seine'Struktur' vorherzubestimmen oder sonstwie seine 'Soziologie'
vorwegzunehmen"(3). So wie die radikale Linke sich
weigerte, den Bildungsprozeß des revolutionären Subjekts irgendwie zu
normieren, so wies auch Freyer jede Definition a priori zurück:
"Das revolutionäre Prinzip, das einem Zeitalter innewohnt, ist seinem
Wesen nach keine Struktur, keine Ordnung, kein Aufbau. Sondern es ist reine Kraft,
reiner Aufbruch, reiner Prozeß. Die Frage, zu welcher Form es sich fügen
wird, wenn es am Ziel seiner Bewegung ist, ist nicht nur falsch sondern feige. Denn
es kommt gerade darauf an, daß das neue Prinzip das aktive Nichts ~n der Dialektik
der Gegenwart, also die reine Stoßkraft zu bleiben wagt; sonst ist es über
Nacht eingebaut und kommt nie zu seiner Aktion" (Freyer 1931: 53).
Das Volk als das aktive NIchts - dies war Freyers Beitrag zu der anstehenden Revolution
von rechts. Wenn der so oft und meist zu Unrecht geäußerte Verdacht des
Nihilismus gegenüber der 'Konservativen Revolution' irgendwo zutrifft, dann
hier.
Nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielte der Volksbegriff hingegen bei
Moeller van den Bruck, Spengler, Schmitt und Jünger. Der letztere sprach zwar
hier und da vom 'aktiven Schlag' als der eigentlichen Rasse, betonte aber, "daß
Rasse innerhalb der Arbeitslandschaft mit biologischen Rassebegriffen nichts zu
schaffen hat" (1932: 145). Vom Volk war im Arbeiter kaum oder nur beiläufig
die Rede. Spengler wies nicht weniger entschieden als Jünger die - wie er meinte:
darwinistische - Rassenlehre zurück und räumte dem Volk nur eine zweitrangige
Position im Geschichtsprozeß ein (1973: 755, 1933: 157). Völker erschienen
ihm nicht als Subjekte der Geschichte, sondern als deren Folgen. "Alle großen
Ereignisse der Geschichte sind nicht eigentlich von Völkern ausgeführt
worden, sondern haben Völker erst hervorgerufen" (1973: 754). Auch Schmitt
war ein Volk erst dann interessant, wenn es seine Freunde und Feinde bestimmt hatte.
In diesem Moment aber befand es sich bereits in der Sphäre des Politischen
und war mehr als bloß Volk -: Nation (1970: 79, 231). Für Moeller schließlich
war das Volk wohl von gewisser Bedeutung, weil seine bloße Zu- oder Abnahme
Folgewirkungen für den Lebensraum und die geschichtliche Dynamik hatte; doch
war dies rein quantitativ gedacht. In qualitativer Hinsicht war das Volk für
Moeller nicht viel mehr als eine unbestimmte biologische Basis, die erst durch den
Geist Form und Bedeutung erhielt. Obwohl Moeller durchaus fähig war, rassistische
und antisemitische Ressentiments zu mobilisieren(4),
hatten diese für sein Denken keine konstitutive Funktion; dessen Alpha und
Omega war vielmehr die Nation als Wertungsgemeinschaft, deren Identität sich
erst aus dem Bewußtsein ergab. Auch hinsichtlich des Volksbegriffs können
wir also konstatieren, daß die 'Konservative Revolution' weit von einer einheitlichen
Auffassung entfernt war.
V.
Ein gewisser Konsens scheint sich dagegen in der Frage der politischen und sozialen
Gliederung aufzutun. Als gelehrige Schüler Nietzsches, der anstelle der Soziologie
eine Lehre von den Herrschaftsgebilden hatte treten lassen wollen (1966,111: 560),
waren die 'konservativen Revolutionäre' durchweg vom Primat der Herrschaft
überzeugt. Das entscheidende gesellschaftliche Faktum war ihnen die Ungleichheit.
Ungleichheit aber war gleichbedeutend mit Abstufung der Rechte und Pflichten, Rang,
Hierarchie. Spengler konnte deshalb mit breiter Zustimmung rechnen, als er es für
unmöglich erklärte, daB ein ganzes Volk gleichmäßig ein Kulturvolk
sein könne, und stattdessen statuierte, die Kultur einer Nation könne
immer nur durch eine Minderheit repräsentiert werden (1973: 764). Dasselbe
gilt für das Diktum Freyers, ein Volk könne nur im Banne einer Herrschaftsstruktur
zum Subjekt der Geschichte werden (1933: 30). Der alteuropäische Begriff der
Herrschaft, der die Repräsentation des Ganzen durch einen privilegierten Teil
prätendierte, war in der Tat eine der wichtigsten Achsen vielleicht die wichtigste-,
um die sich die 'Konservative Revolution' organisierte.
Mit dieser Feststellung ist jedoch die Gemeinsamkeit bereits wieder erschöpft.
Bei aller Ubereinstimmung über die Notwendigkeit von Herrschaft klafften die
Vorstellungen über die nähere Beschaffenheit derselben doch weit auseinander.
Da war, erstens, Spengler mit seiner Ansicht, in der Epoche der Zivilisation sei
es mit ständischer Gliederung und vornehmer Politik ebenso vorbei wie mit der
Achtung vor Tradition und Form; was bevorstehe, sei eine Heraufkunft formloser Gewalten,
ein "Zeitalter der großen Einzelnen inmitten einer formlos gewordenen
Welt" (1973: 1065, 1080). Spengler verschwendete daher keinen Gedanken an eine
Erneuerung der Aristokratie, wie sie etwa Jung vorschwebte. Auch die im italienischen
Faschismus kursierende Vorstellung, die Partei könne anstelle der alten Eliten
treten, erschien ihm anachronistisch. Wenn der Faschismus eine Bedeutung hatte,
so nicht dank seiner Organisation, sondern allein dank der Gestalt seines Schöpfers,
Mussolini, den Spengler als eine Wiedergeburt des Condottieri feierte. Der vollendete
Cäsarismus, verkündete er, sei Diktatur - "aber nicht die Diktatur
einer Partei, sondern die eines Mannes gegen alle Parteien, vor allem die eigene"
(1933:135). Partei, das war immer noch Masse. Die Zukunft gehörte dem Herrenmenschen,
dem großen Gewalttäter, der die materialistischen und plebejischen Mächte
in ihre Schranken verweisen und an die Stelle der parteimäßigen Anarchie
die unumschränkte Autorität einer überlegenen Persönlichkeit
setzen würde (1933: 61).
Da war, zweitens, Ernst Jünger, der in geradem Gegensatz zu Spengler jeden
einzelnen für ersetzbar hielt und in der persönlichen Diktatur bestenfalls
eine Ubergangsform sehen wollte(5). Gewiß war
auch für Jünger der Heroenkult ein Leitmotiv, wie seine Apologie der 'Stahlgestalten'
und 'Prachtmenschen' der Stoßtrupps und Freikorps belegt (1932: 107, 252,
1980: 72-73); und gewiß stand auch er zu sehr im Banne Nietzsches, als daß
er die Idee des Ubermenschen hätte verabschieden können. Seine präzise
Diagnose der Selbstzerstörung der bürgerlichen Ordnung, die vieles von
dem vorwegnahm, was später Horkheimer und Adorno unter freilich ganz anderem
Vorzeichen konstatierten, erlaubte ihm indes nicht, an der Kategorie des großen
einzelnen festzuhalten. Die Auflösung des Individuums, seine Ersetzung durch
den Typus in einer von der Technik geprägten Weltj erforderte eine Modifikation
des Heroismus, eine Umdefinition des Ubermenschen, die sich von den alten Modellen
des Genies oder des charismatischen Führers freimachte. Jünger glaubte
dies zu erreichen, indem er kurzerhand den Arbeiter selbst zum "Träger
der heroischen Grundsubstanz" erklärte und innerhalb dieser Grundsubstanz
noch ein weiteres, besonders heroisches Substrat herausstellte - den "aktiven
Schlag", eine Art Über-Arbeiter, bei dem es schwerfällt, nicht an
Stachanow zu denken (1932: 103, 44, 267). Was immer Jünger dabei im Sinn gehabt
haben mag, es unterschied sich jedenfalls nachhaltig von Spenglers Cäsarismus.
Anstatt des großen Gewaltmenschen, der ganz allein seinen Zwecken folgte,
stand hier eine Funktions- und Leistungselite, die ordensmäßig organisiert
sein und in mönchischer oder soldatischer Armut leben sollte:
"Erscheinungen wie der deutsche Ritterorden, die preußische Armee, die
Societas Jesu sind Vorbilder, und es ist zu beachten, daß Soldaten, Friestern,
Gelehrten und Künstlern zur Armut ein natürliches Verhaltnis gegeben ist.
Dieses Verhältnis ist nicht nur möglich, sondern sogar naheliegend inmitten
einer Werkstättenlandschaft, in der die Gestalt des Arbeiters die Welt mobilisiert.
Man kennt bei uns sehr wohl das Glück, das darin liegt, innerhalb von Organisationen
zu stehen, deren Technik jedem Einzelnen in Fleisch und Blut lebendig ist"
(Jünger 1932: 202)
Jüngers Aufforderung an die Person, zugunsten des Typus abzudanken und ihr
Glück in der Organisation zu suchen, erschien den traditioneller gestimmten
Geistern der 'Konservativen Revolution' als Ausdruck einer nachgerade luziferischen
Gesinnung. Max Hildebert Boehm erinnerte Jünger daran, daß Herrschaft
nichts mit Arbeit zu tun habe, vielmehr "im Größten und Kleinsten
immer eine sehr persönliche Aufgabe" sei, für die ihm der alte Adel
durchaus noch am qualifiziertesten erschien (1933: 12, 47, 23, 102). In die gleiche
Kerbe schlug Edgar Jung, der zwar nicht an den geschichtlich überkommenen Adel
anknüpfen wollte, sondern eher für eine sich ständig erneuernde Leistungselite
eintrat, als Auslesekriterium aber die Orientierung am unbedingten Wert des gesellschaftlichen
Ganzheitsgedankens vorschlug. Wie stark auch Jung von traditionellen Herrschaftsideologien
beeinflußt war, zeigte sich darin, daß er neben dem Ausleseprinzip auch
eine 'Vornehmheit des Blutes' kannte, durch welche sich der Adel von bürgerlichen
Leistungseliten abgrenze (1930: 328-332). Der Adel, so schrieb er in einem späteren
Werk, könne weder ernannt noch gezüchtet werden, sondern züchte sich
gleichsam selbst, indem er die zur Herrschaft befähigenden Eigenschaften auf
dem Vererbungswege weitergab. "Die Elite muß leisten ... Der Adel hingegen
herrscht durch sein überlegenes Sein" (1933: 51-52; Jenschke 1971: 147).
Mit seinem Beharren auf der Aristokratie bezog Jung innerhalb der 'Konservativen
Revolution' eine dritte Position, die von Spenglers Cäsarismus ebenso weit
entfernt war wie von Jüngers Ordens-Staat.
Eine vierte Variante läßt sich im Tat-Kreis ausmachen. Sozialer Bezugspunkt
war für Zehrer und seine Mitarbeiter die Mittelklasse, die man in der Gefahr
sah, zwischen den herrschenden Mächten - Kapital und Masse - zerrieben zu werden.
Diese Mittelklasse, die sich aus den proletarisierten Schichten des alten Mittelstandes
und aus den aufsteigenden Teilen des Proletariats rekrutiere, sei heute der eigentliche
Träger der Individualität und der Intelligenz. Aus ihr wachse jene neue
Führungsschicht hervor, die nach dem soziologischen Gesetz vom Kreislauf der
Eliten zur Herrschaft berufen sei. Während man diesen letzteren Gedanken von
Pareto entlehnte, dessen Lehren die Tat übrigens einen eigenen Artikel widmete
(1929-1930, II: 771-779), stammte die Betonung der Intelligenz aus der Soziologie
Karl Mannheims; in ihr sah namentlich Zehrer ein wichtiges Mittel um den, wie er
meinte, "leicht in den absoluten Nihilismus weisende(n) Eindruck dieses Kreislaufs"
zu korrigieren, weil sie ihm einen sittlichen Hintergrund verlieh. "Uber diesem
Kreislauf steht eine Schicht, die ihn in sich faßt, innerhalb deren er sich
abspielt: die Intelligenz, die die Selbstkorrektur des Zeitgeistes gewährleistet"
(1929-1930, II: 496,568). Da dies jedoch eine sehr langfristige Perspektive war,
geriet sie unter dem Druck der politischen Ereignisse bald aus dem Blickfeld. An
ihre Stelle trat die kurzfristige Suche nach Kräften, die imstande waren, das
Weimarer System abzulösen, ohne durch das "Zwischenstadium des Cäsarismus
oder der republikanischen Militär-Kommandantur" zu führen. Die Institution,
auf die man dabei verfiel, zeigte Ähnlichkeiten mit den Vorstellungen Jüngers.
Das "Menschenmaterial, das den komplizierten technischen Apparat des Staates
verwaltet und aus dem sich die führende Schicht dauernd ergänzt",
sollte in Form eines Ordens organisiert werden, der auf dem Prinzip des Opfers,
der Hingabe und der Ehre beruhte (1932-1933, I: 79).
Hinsichtlich der übrigen Autoren können wir uns mit einigen knappen Hinweisen
begnügen, da ihre Vorstellungen über die Herrschaftsstruktur weniger profiliert
sind. Hans Freyer sprach nur sehr vage von den neuen, aus der Tiefe des Volkes hervorwachsenden
Kräften, ohne diese näher zu spezifizieren; in einem früheren Text
war zwar mehrfach vom 'Führer' die Rede, doch wäre es überzogen,
darin mit Lukacs eine Vorwegnahme des Faschismus zu sehen: der Führer hatte
nur die beschränkte Aufgabe, das Volk auf den Staat auszurichten, der seinerseits
von der höheren Figur des 'Staatsmannes' bestimmt wurde (Freyer 1933: 39, 1925:
108-119, 199-207; Lukacs 1974, Ill: 96). Bei Carl Schmitt ergab sich die Option
für einen Führer oder wenigstens eine aktive Minderheit schon aus seiner
Feststellung, das Volk könne nur akklamieren, nicht deliberieren. Allerdings
blieb diese Aussage rein formal. Bezüglich der neuen Art aristokratischer Formen,
wie sie etwa mit der Herrschaft der Räte in Rußland oder derjenigen des
Fascio in Italien aufgetaucht seien, äußert sich Schmitt durchaus zurückhaltend
und spricht von Ubergangsformen, bei denen die endgültige Entscheidung über
Art und Form der politischen Existenz noch ausstehe(6).
Auch bei Moeller findet sich eine emphatische Bejahung des Führertums, sowohl
auf wirtschaftlichem als auch auf kulturellem und politischem Gebiet, doch ist dabei
der Führer nicht, wie in Spenglers Cäsarismus-Konzeption, Selbstzweck,
sondern Mittel zum Zweck der Nation (1938:214-215; Stern 1986: 234, 237). Quasi-religiöse
Elemente, wie sie etwa im George-Kreis oder in der NS-Bewegung anzutreffen waren,
fehlen bei Moeller wie auch bei Schmitt. Bei letzterem stellt der Führer dem
Volk Fragen, ohne selbst qua eigenem Charisma zu entscheiden; bei ersterem erscheint
die Aufgabe, die Nation zu politisieren, als so groß, daB sie nicht von einer
einzelnen, bestimmten Person bewältigt werden kann, sondern nur von einer 'sehr
langen und wechselnden Folge' von Führern (Moeller van den Bruck 1938: 214).
Die Idee des charisrnatischen Führers, soviel ist als Fazit festzuhalten, hat
lediglich Spengler vertreten. Alle übrigen Autoren lassen sich entweder pseudoaristokratischen
oder elitentheoretischen Auffassungen zuordnen, die ihrerseits wieder mit unterschiedlichen
politischen Organisationsformen kompatibel sind - mit einer einzigen Ausnahme: der
liberalen Demokratie.
VI.
Wer nach innen für eine Gliederung nach dem Herrschaftsprinzip eintritt, pflegt
dies auch nach außen zu tun. In der Tat waren die Völker und Nationen
aus der Sicht der 'Konservativen Revolution' keineswegs gleichwertig, sondern zur
Über- und Unterordnung bestimmt. Wie diese Beziehungen allerdings im einzelnen
zu gestalten waren und welchen Platz Deutschland dabei einnehmen sollte, darüber
bestand keine einheitliche Meinung. Sehr grob lassen sich zwei Strömungen unterscheiden:
eine erste, die für Deutschland den Status einer Hegemonialmacht in einem mehr
oder weniger locker strukturierten Reich vorsah; und eine zweite, die eine imperialistische
Expansion erstrebte, bei der die Unterworfenen ihre politische und kulturelle Identität
einbüßten.
Die hegemonialistische Position hatte ihre Anhänger hauptsächlich unter
jungkonservativen Autoren. Edgar Jung z.B. vertrat unter Berufung auf Constantin
Frantz ein föderalistisches Modell, in dem Provinzen, Länder, Bundesstaaten
sowie verbündete Staaten unter weitgehender Selbstverwaltung zu einem Reichsverband
zusammengeschlossen sein sollten, dessen institutionelle Spitze über die auBenpolitische,
militärische, wirtschafts- und bevölkerungspolitische Prärogative
verfügen würde; daß in diesem kommenden Reich den Deutschen als
dem 'Kernvolk' Mitteleuropas die Führung zufallen sollte, erschien Jung selbstverständlich
(1930: 360-361, 648; Jenschke 1971: 148-150). Ähnliche Plädoyers für
die Reichsidee als einer Alternative zum nationalistischen, 'ethnokratischen' Imperialismus
westeuropäischer Provenienz finden sich bei Boehm oder Freyer und haben auch
auf Carl Schmitts Konzeption einer völkerrechtlichen Großraumordnung
gewirkt, die allerdings erst in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre
systematisch entfaltet wurde(7).
Eng hiermit verwandt waren die Vorstellungen des Tat-Kreises zur Neugestaltung Mittel-
und Südosteuropas. In seinem Grundriß einer neuen Partei nannte Zehrer
als außenpolitische Fernziele den Anschluß Österreichs, die Minderheiten
und den Balkan, d.h. eine führende Stellung Deutschlands in Mittel- und Südosteuropa.
Realisiert werden sollten diese Ziele im Rahmen eines neuen Föderalismus, über
dessen nähere Ausgestaltung Zehrer indes keine Auskunft gab (Die Tat 1929-1930,
II: 646-647). Schon etwas genauer war 1932 vom 'bündischen Reich Mitteleuropas'
die Rede, das anstelle des liberalistischen Nationalstaatensystems treten sollte.
Dieses Reich sollte nicht wie dasjenige Bismarcks imperialistisch, militaristisch
und zentralistisch sein, vielmehr übernational, föderalistisch und autoritär;
ob damit freilich, wie Zehrer behauptete, die Vision Moeller van den Brucks vom'Dritten
Reich' getroffen war, erscheint fraglich, aus Gründen, die im nächsten
Abschnitt deutlich werden (1932-1933, 1: 14, 76, 371).
Als Zwischenlösung erstrebte die Tat die Schaffung einer mittel- und südosteuropäischen
Großraumwirtschaft auf der Basis eines Kontingentierungssystems mit Präferenzzöllen,
welche blockadesicher und vom Weltmarkt unabhängig sein sollte (Fried 1931:
255-256). Obwohl sich dieses Programm föderalistisch und antiimperialistisch
gab, ließen seine wirtschaftspolitischen Einzelheiten doch unschwer erkennen,
worauf es hinauslief: auf die ökonomische Unterordnung der Staaten Mittel-
und Südosteuropas unter das überlegene industrielle Potential Deutschlands,
dem auf diese Weise ein ähnlich großer geschlossener Markt verschafft
werden sollte, wie ihn England und Frankreich in ihren Kolonialreichen besaBen.
Die Autarkie-Ideen der Tat fügten sich damit bruchlos in die Kontinuität
kontinentalhegemonialer Zielvorstellungen, die seit dem ausgehenden 19. Jh. die
deutsche AuBen- und Wirtschaftspolitik beherrschten (Wendt 1987: 42-46).
Nicht mehr nur hegemonialistisch, sondern eindeutig imperialistisch waren dagegen
die Absichten Moeller van den Brucks. Nach Moelier hatten im Weltkrieg die Falschen
gesiegt, nämlich die 'alten' Völker, deren Bevölkerungszahl entweder
rückläufig oder von vornherein zu niedrig war, um Weltpolitik zu treiben.
Verloren hatten die'jungen' Völker, deren Bevölkerungsdruck eine expansive
Politik geradezu lebensnotwendig machte. Dazu gehörte an vorderster Stelle
Deutschland, das Land, das im Verhältnis zu seinem Territorium zwanzig Millionen
Menschen zu viel besaB (1938: 64). Der deutsche Vorkriegsimperialismus erschien
Moeller als ein grandioser Versuch, dieses Problem zu lösen. Er habe die Auswanderung
beendet, indem er Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland selbst schuf, er habe
Industrie, Handel und Verkehr gefördert und damit die Wachstumschancen des
Landes gesichert. Durch die militärische Niederlage sei diese Expansion unterbrochen
und Deutschland, wie die meisten anderen jungen Völker auch, auf einen Pariastatus
zurückgeworfen worden; der Versailler Frieden habe ihm die Rohstoffgebiete
entzogen, die Kolonien verwehrt, die Lebensnerven zerschnitten (1938: 61,1932: 115).
Diese Schmach zu tilgen und Deutschland in den Kreis der imperialistischen Mächte
zurückzuführen, war Moellers oberstes Ziel. Uberzeugt, "daß
der Krieg bevölkerungspolitischen Gründen entsprang, daß der bekämpfte
Imperialismus immerhin die beste Sozialform für ein Land der Ubervölkerung
war und daß wir dasjenige Volk Europas sind, das vor allen anderen diesen
Imperialismus brauchte", setzte sich Moeller dafür ein, die Nation wieder
zur Weltpolitik zu befähigen: durch Politisierung, durch Überwindung der
inneren Gegensätze, durch Orientierung auf die eigentliche Weltaufgabe - einen
sozialisierten Imperialismus, welcher neue Absatzgebiete und Rohstoffquellen schaffen
und dadurch den Arbeitern Arbeit geben würde (1938: 98, 66).
War Moellers Imperialismus noch von den Vorstellungen der Vorkriegszeit und ihren
Platz-an-der-Sonne-Parolen geprägt, so wollte Spengler sich damit nicht mehr
begnügen. Für ihn ging es nicht um einen Anteil an der Beute. Was vielmehr
anstand, war der weltgeschichtliche Ubergang von der Staatenwelt des 18. Jhs. zum
Imperium mundi "zur unbedingten Weltherrschaft im militärischen, wirtschaftlichen,
intellektuellen Sinne" (1933: 16, 1924: 22). Während alle bisherigen Imperialismen
sich auf begrenzte Räume bezogen hätten, sei der moderne Imperialismus
auf den ganzen Planeten gerichtet, auf das Erfordernis, "durch die Mittel faustischer
Technik und Erfindung das Gewimmel der Menschheit zu einem Ganzen zu schweißen"
(1924: 22). Auf die schon von Metzsche (1966, II: 554) aufgeworfene Frage: Wer soll
der Herr der Erde sein? sah Spengler zwei mögliche Antworten. Die eine bestand
im Sieg des 'englischen Sozialismus', der die Weltwirtschaft in eine Weltausbeutung
verwandeln und die Herrschaft über das künftige Imperium Milliardären
und Trusts übertragen würde. Die andere war der Sieg des 'preußischen
Sozialismus', der Weltorganisation nach den Prinzipien des Staates und der Autorität
(1924: 51, 67). Daß Spengler die zweite Alternative für historisch aussichtsreicher
hielt, wird niemanden überraschen; daß damit aber kein borussischer Imperialismus
gemeint war, wird nicht immer klar genug gesehen. "Nicht jeder ist Preuße,
der in Preußen geboren ist", schrieb Spengler, und er fügte hinzu:
"dieser Typus ist überall in der weißen Welt möglich, und wirklich,
wenn auch noch so selten, vorhanden. Er liegt der vorläufigen Form der nationalen
Bewegungen - sie sind nichts Endgültiges - überall zugrunde, und es fragt
sich, in welchem Grade es gelingt, ihn von den rasch veraltenden, populären,
parteimäßigdemokratischen Elementen des liberalen und sozialistischen
Nationalismus zu lösen, die ihn einstweilen beherrschen" (1933: 139).
Nicht die preußische Nation, sondern die "Idee des preußischen
Daseins" war nach Spengler zur Weltherrschaft berufen; das zukünftige
Imperium war deshalb auch kein Imperium Teutonicum, in dem sich "eine Nation
groß und glänzend über die andern erheben" und ihre Autorität
über die übrigen Nationen festigen würde (Stapel 1932: 252), sondern
eine Weltzivilisation jenseits aller nationalen Gliederung.
Noch ausgeprägter war dieser Gedanke eines supranationalen Imperialismus in
Jüngers Arbeiter, der sich bewußt jeder Option für einen bestimmten
nationalen Stil enthält. Zwar sah auch Jünger in den gegenwärtig
bestehenden Nationalstaaten und Nationalimperien die Träger einer totalen Mobilmachung,
die sich in der Konzeption und Durchführung großer Pläne, im allenthalben
zu boobachtenden Ausbau der Rüstung und der Verschmelzung organischer und mechanischer
Elemente äußere; doch sei die dadurch eingeleitete Bewegung zu umfassend
und allgemein, als daß sie sich noch in die Organisationsformen der bürgerlichen
Welt und ihrer nationalstaatlichen Gliederung einfangen ließe. Welche der
miteinander konkurrierenden Nationen schließlich die Weltherrschaft erringen
würde, erschien Jünger als eine empirische und letztlich sekundäre
Frage; entscheidend war, daß alle Konkurrenten sich des gleichen Mittels bedienten
- der Technik als des wirksamsten, unbestreitbarsten Mittels der totalen Revolution
-, und damit das gleiche Geschäft betrieben: die Verwirklichung der Gestalt
des Arbeiters. Am Ende dieser Entwicklung würde der universale Arbeitsstaat
stehen: ein Gebilde von planetarischen Ausmaßen, in dem die bestehenden Planlandschaften
ihren besonderen Charakter eingebüßt haben und in einen Staatsplan von
imperialem Rang eingeordnet sein würden (1932: 209-210, 277). "Das Ziel,
in dem sich die Anstrengungen treffen, besteht in der planetarischen Herrschaft
als des höchsten Symboles der neuen Gestalt. Hier allein ruht der Maßstab
einer übergeordneten Sicherheit, der alle kriegerischen und friedlichen Arbeitsgänge
übergreift" (1932: 291).
***
Die Reihe der Vergleiche ließe sich fortsetzen. Gleichwohl sind die bisher
erörterten Themen von derart zentraler Bedeutung für jede politische Theorie,
daß sich schon jetzt die Frage beantworten läßt, ob die 'Konservative
Revolution' als eine eigenständige Richtung im politischen Denken des 20. Jhs.
angesehen werden kann. Dafür spricht nichts. Im Bereich der Außenpolitik
konnten wir zwischen imperialistischen und hegemonialistischen Ambitionen unterscheiden,
im Bereich der Innenpolitik zwischen pseudoaristokratischen, elitentheoretischen
und cäsaristischen Konzeptionen. Manche Autoren neigten dem völkischen
Lager zu, andere bezogen nationalistische Positionen. Einige tendierten zu staatssozialistischen
Lösungen, andere wieder zu einem ausgeprägten Individualismus und Personalismus,
der eher zu liberalen Auffassungen gravitierte. Dieselbe Spannweite ließe
sich, was hier nur angedeutet werden konnte, im Verhältnis zur Technik ausmachen,
das von unbedingter Bejahung bei Spengler und Jünger bis zu entschiedener Ablehnung
- etwa im Tat-Kreis - reicht (8). Die einzige Position,
in der alle Autoren ohne Einschränkung übereinstimmen, ist das kompromißlose
Verdikt über den politischen Liberalismus als einer dem deutschen Wesen unangemessenen,
'westlichen' Erscheinung, deren Etablierung mitsamt ihren Folgen (Parlamentarismus,
Pluralismus) so schnell wie möglich rückgängig gemacht werden sollte.
Dieser Minimalkonsens reicht aber nicht aus, um der 'Konservativen Revolution' ein
eigenes Profil zu verleihen. Die Gegnerschaft gegen den politischen Liberalismus
war keine Domäne einer bestimmten Strömung, sondern an den Rändern
des politischen Spektrums gleichermaßen verbreitet. Antiparlamentarisch und
antirepublikanisch war die Deutschnationale Volkspartei, spätestens seit dem
Sieg Hugenbergs und der hiermit verbundenen Sezession sowohl des altkonservativen
als auch des gewerkschaftsorientierten Flügels (Holzbach 1981; Stupperich 1982).
Eine noch vehementere Gegnerschaft fand die liberale und pluralistische Demokratie,
in der Parteien und Verbände ihre Interessen vertraten, in Hitler, der in dieser
Verfassungsform nur ein Zeichen der Dekadenz und der Schwäche zu sehen vermochte.
Daß sich dieselbe Feindbestimmung, wenngleich in der Regel besser begründet,
auch in Teilen der Linken fand, ist zu bekannt, als daß es ausführlich
dargelegt werden müßte. In dem einzigen Punkt, in dem die Autoren der
'Konservativen Revolution' eine gewisse Gemeinsamkeit besitzen, stimmen sie zugleich
mit Strömungen überein, mit denen sie laut Mohler sonst wenig verbindet.
Ein Kernbestand politischer, sozialer und wirtschaftlicher Uberzeugungen, der nur
den Autoren der 'Konservativen Revolution' eigen wäre und sie von anderen Richtungen
unterschiede, ist nicht auszumachen. Als ein polemischer, eine unverwechselbare
Identität bezeichnender Begriff läßt sich die 'Konservative Revolution'
nicht aufrechterhalten (9).
Der 'Konservativen Revolution' fehlt jedoch nicht nur ein solcher Kern, sie ermangelt
überhaupt eines originären Gehalts, der ihr, und nur ihr, eigen wäre.
So auftrumpfend ihre Protagonisten sich aus der "Gegnerschaft gegen das 19.
Jahrhundert" definierten (Mohler 1989, I: 11), so wenig hinderte sie dies doch,
dessen ideologisches Arsenal nach Belieben zu plündern. Weit davon entfernt,
einen einzigen neuen Gedanken hervorzubringen, begnügten sie sich damit, Versatzstücke
zusammenzufügen und Vorgefertigtes zu rekombinieren. Wirtschaftsliberale Bauteile
wurden mit pseudoaristokratischen gekoppelt, staatssozialistische Bestrebungen mit
bündischen, nationalistische Elemente mit imperialistischen, diese wiederum
mit cäsaristischen und so fort - kein Motiv, das nicht schon im 19. Jahrhundert
oder früher zu finden wäre, keine Idee, die sich nicht bereits in einer
der drei vier klassischen Strömungen des politischen Denkens entdecken ließe.
Claude Levi-Strauss hat einmal das 'wilde', das mythopoetische Denken mit der Tätigkeit
des Bastlers verglichen, der auf eine bereits konstituierte Gesamtheit von Werkzeugen
und Materialien zurückgreift und vorübermittelte Botschaften reorganisiert
(1968: 31-36). Er hat damit genau jene mythopoetische Praxis getroffen, die im Deutschland
der Zwischenkriegszeit die vorhandenen ideologischen Bestände durchforstete,
ausschlachtete und umgruppierte, eben dadurch aber auch völlig innerhalb deren
Grenzen blieb. Man sollte diese Praktiken als das bezeichnen, was sie waren: intellektuelle
Basteleien von je unterschiedlicher Ausprägung, Reflexionshöhe und Wirkung.
Sie zu einer eigenständigen Lehre, gleichrangig dem Konservatismus, Liberalismus
oder Sozialismus zu stilisieren, hieße, ihnen zuviel Ehre anzutun.
Anmerkungen
1) Dies gilt z.B. für das Leitbild der'ewigen Wiederkehr',
dem etwa Moeller van den Bruck in seiner Spengler-Kritik dezidiert widersprochen
hat (1932: 22-23); für die postulierte Gegnerschaft zum Christentum, die weder
bei Edgar Jung noch bei Wilhelm Stapel anzutreffen und auch für Carl Schmitt
mit überzeugenden Argumenten bestritten worden ist (vgl. die Aussprache zu
Mohlers Referat in: Quaritsch 1988: 153-157), schließlich auch für den
Nihilismus, in dem Spengler ein Medium der Verpöbelung sah (1933: 69).
2) Charakteristisch etwa das Vorwort zur Schrift seines
Bruders Friedrich Georg Jünger 1926: VII-XIII. Die zahlreichen kleineren Artikel,
die Ernst Jünger zwischen 1925 und 1932 in Zeitschriften wie Standarte, Arminius
und Widerstand veröffentlicht hat, sind in die Werkausaben nicht aufgenommen
worden und deshalb heute nur schwer zugänglich. Eine informative Darstellung
gibt Hietala 1975; eine knappe Zusammenfassung Schwarz 1962, der allerdings dazu
tendiert, Jüngers Publizistik zu eng an den Arbeiter heranzurücken und
den Einfluß Spenglers zu überzeichnen (1962: 81, 87).
3) Freyer 1931: 44, 52-53. Da 'Volk' für Freyer
eine Willens-, keine Naturkategorie ist, erscheint mir die Bezeichnung 'völkischer
Denker' (Giere 1967: 158 u.ö.) unzutreffend. Zu Freyers Denken siehe auch Üner
1981, Muller 1987.
4) Vgl. etwa 1932: 193-206, wo Frankreich der Vorwurf
gemacht wird, es suche seine Hegemonie über Europa mit dem "dunklen und
wilden Blute von Fremdkörpern und Kolonialtruppen zu stützen (...), das
in die europäischen Blutbahnen die Zersetzung der Rassen hineinträgt"
(205). Auch die antisemitischen Ausfälle gegen Marx passen dazu - siehe Moeller
1938: 39. Umfassend zu Moeller jetzt Goeldel 1984.
5) Jünger 1932: 145. Jünger rückte damit
von seinen früheren Schriften ab, in denen der Führerkult eine zentrale
Rolle spielte: vgl. Schwarz 1962: 116; Hietala 1975: 54, 78.
6) Vgl. Schmitt 1970: 81-84. An anderer Stelle äußert
sich Schmitt allerdings wesentlich positiver über den Italofaschismus, so etwa
1969: 89, 1940: 109-115. Grundlegend hierzu jetzt Schieder 1989.
7) Vgl. Boehm 1932: 127, 184, 1933: 100-101; Freyer
1925: 120-129; Schmitt 1941; zum letzteren auch Neumann 1980: 188-198. Eine heftige
Polemik gegen den Reichsgedanken als "Transsubstantiation der antigermanischen,
imperialen, römischen Unterwerfungsabsicht in politische Metaphysik" findet
sich dagegen bei Nickisch 1930: 26. Zu Niekischs Polemik, die sich vor allem gegen
Wilhelm Stapel richtet, siehe auch Kabermann 1973:93 u.ö.
8) Vgl. Spengler 1973: 57, 1932a; Jünger 1932:
149-150. Jünger sieht sehr wohl auch die zerstörerische Seite der Technik,
bejaht sie aber unbedingt, denn: "Die Meistemng der Verhältnisse kann
nur durch Kräfte geschehen, die durch die Zone der Zerstörung hindurchgegangen
sind, und denen in ihr eine neuartige Legitimation zuteil geworden ist" (1932:
254-255). In der Tat hingegen war man überzeugt, daß das Zeitalter der
technischen Revolution abgeschlossen sei und die Herrschaft der Maschine durch die
des Menschen abgelöst werden könne (Fried 1931: 4-5, 42, 46). "Es
wird heißen: Zurück zur Natur! Zurück zum Menschen! Zurück
aufs Land! Zurück zu Gott!" (Die Tat 1931 1932, 1: 346). Eine Verbindung
dieser gegensätzlichen Haltungen findet sich in Niekischs Formel 'moderne Technik
vom barbarisch-primitiven Sein gehandhabt' (Niekisch 1930: 101).
9) Dieser Einwand gilt auch gegenüber dem Versuch
Prümms, die 'Konservative Revolution' durch die folgenden fünf Komponenten
zu bestimmen: das Bekenntnis zum Irrationalismus; die antiliberale, antidemokratische
und antiparlamentarische Grundhaltung; die Apperzeption eines dynamischen Revolutionsbegriffs,
der antikapitalistische Affekte einschließt; die Trennung vom wilhelminischen
Nationalismus und die Beschwörung der Schützengrabengemeinschaft (Prümm
1974,I: 6-7). Alle diese Kriterien treffen auch auf den Nationalsozialismus zu,
der sich zwar durch seine Organisationsform als Partei von der 'Konservativen Revolution'
absetzt, diesen Organisationstyp aber so stark in Richtung auf Führer-Gefolgschaftsstrukturen
transformiert, daß diese Differenz nicht ernstlich ins Gewicht fällt.
Damit soll nicht insinuiert werden, daß die 'Konservative Revolution' nur
eine besondere Erscheinungsform des Faschismus sei, wie die marxistisch-leninistische
Interpretation von jeher behauptet (Petzold 1978: 10). Wohl aber: daß jeder
Versuch, dem Konstrukt 'Konservative Revolution' eine eigene Identität zu verleihen,
auf unüberwindliche Abgrenzungsschwierigkeiten stößt.
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Stefan Breuer in: Politische Vierteljahresschrift 31.Jg. 1990 Heft 4 S.585-607
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Most recent revision: April 07, 1998
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