Nie wieder ein Matrosenaufstand
Auch 51 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sind Deserteure nicht rehabilitiert.
Ein Symposium in Hamburg widmete sich der skandalösen Kontinuität der
NS-Militärjustiz
Von Hans-Hermann Kotte
Hamburg (taz) - "Was damals Rechtens war, kann heute nicht unrecht sein."
Die Worte des früheren CDU-Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der 1945
als Militärjurist an der Verurteilung und Exekution eines Matrosen beteiligt
war, wurden zum sprachlichen Symbol der Unbelehrbarkeit. Filbinger mußte 1978
zurücktreten. Die Opfer der NS-Militärjustiz aber sind bis heute nicht
rehabilitiert und angemessen entschädigt. Eine entsprechende Erklärung
des Bundestages wird von CDU und CSU seit Jahren verhindert.
Die christlichen Parteien versuchen sich jetzt vielmehr daran, Hans Filbinger zu
rehabilitieren. Rechte Historiker, zum Teil von CDU und CSU als Sachverständige
in den Rechtsausschuß des Bundestages berufen, arbeiten fleißig an der
Umwertung der Geschichte. Sie lassen die Wehrmacht als "Befreiungsarmee"
erscheinen und die Deserteure als Verräter.
Ein Symposium der Hamburger Initiative "Anerkennung aller NS- Opfer" befaßte
sich am Wochenende mit der skandalösen Kontinuität der Urteile der NS-Militärjustiz.
Erstmals wurde dabei auch die wichtige Rolle der Frauen diskutiert, die den Deserteuren
halfen und sie versteckt hielten. Die Historikerin Christine Rothmaler machte darauf
aufmerksam, daß zahlreiche Frauen wegen Beihilfe zur Fahnenflucht und wegen
Wehrkraftzersetzung verurteilt wurden. Sie seien in Gefängnissen, Straflagern
und Konzentrationslagern Todesgefahren ausgesetzt gewesen.
Das terroristische Wirken der Wehrmachtsjustiz, die 20.000 Todesurteile vollstrecken
ließ, ist heute erforscht. Die Rechtfertigungslegenden der ehemaligen NS-Militärjuristen
sind widerlegt. Doch während sich bei der gesellschaftlichen Auseinandersetzung
über die Verbrechen und den Völkermord der Wehrmacht in den letzten Jahren
etwas zu bewegen scheint, ist die Diskussion um die Deserteure festgefahren. Was
treibt die konservativen Parteien zu dieser Blockade?
Ralf Surmann von der Hamburger Initiative wies darauf hin, daß die NS-Militärjustiz
eine "Hochburg" der Konservativen gewesen sei. Diese Konservativen wollten
auch heute noch die Legende aufrechterhalten, daß sie Distanz zum Nationalsozialismus
bewahrt hätten. In Wirklichkeit aber, so Surmann, "gab es niemals ein
klares Abrücken, auch nicht, als der Kurs des Verbrechens klar war". Die
Debatte sei auch keine historische. Es gehe darum, heute die "soziale Akzeptanz
des Krieges" zu bewahren und eine "spezielle Justiz im Kriegsfall"
zu rechtfertigen.
Auf eine "Interessenidentität von Nationalkonservativen und Nationalsozialisten"
verwies Detlev Garbe, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Beide Gruppen
seien sich einig darin gewesen, daß es nie wieder zu einem Matrosenaufstand
wie am 2. November 1918 kommen dürfe. Und: Die 48 Todesurteile, die die Militärjustiz
im Ersten Weltkrieg vollstreckte, seien einfach zu wenig gewesen. Auch deshalb hätte
das Militärstrafrecht des Nazi-Regimes "den Interessen des Staates und
den Kriegsnotwendigkeiten absoluten Vorrang eingeräumt". Garbe sprach
auch darüber, wie die früheren NS-Militärjuristen sich nach dem Krieg
gegenseitig exkulpierten, zu Geschichtsschreibern in eigener Sache wurden und schließlich
das Wehrstrafrecht der Bundesrepublik entwarfen. Eine ständige Militärgerichtsbarkeit
zu etablieren gelang den alten Kameraden jedoch nicht. Sie wird vom Grundgesetz
ausgeschlossen. Allerdings sieht die Verfassung vor, daß eine spezielle Militärgerichtsbarkeit
im Spannungsfall eingerichtet werden kann. Ein Einfallstor für eine solche
sieht Garbe in den weltweiten Einsätzen der Bundeswehr. Deshalb sprach er sich
dafür aus, den entsprechenden Paragraphen im Grundgesetz zu streichen.
Manfred Messerschmidt, ehemaliger leitender Historiker im militärgeschichtlichen
Forschungsamt der Bundeswehr, beleuchtete die in der Wehrmachtsjustiz verbreitete
Vorstellung des "inneren Feindes". Nach dem Ersten Weltkrieg hätten
Militärpsychiater Deserteure als "Asoziale", "Psychopathen"
oder "Linksintellektuelle" gekennzeichnet. Später, als die auch von
den Nationalkonservativen erträumte Volksgemeinschaft Wirklichkeit wurde, ergab
sich eine Identität von äußerem und innerem Feind. Außen der
Bolschewismus, innen die Juden, Kommunisten, Revolutionäre.
Hannes Heer vom Hamburger Institut für Sozialforschung, dessen Ausstellung
über die Verbrechen der Wehrmacht für heftige Reaktionen von rechts sorgte,
sprach über "Möglichkeiten und Schranken der aktuellen Debatte über
die Verbrechen der deutschen Militärs". Der Deserteur werfe "die
Frage der Moral in aller Entschiedenheit auf". Bei einer Anerkennung der Deserteure
sei die übliche Vertauschung der Rollen von Täter und Opfer nicht mehr
aufrechtzuerhalten. Die Bundeswehr wolle sich der Debatte über Moral und Befehlsverweigerung
entziehen. Dabei sei diese besonders notwendig, da die Armee bei ihren Auslandseinsätzen
zunehmend in "Entscheidungssituationen" komme. Heer: "Über Logistik
und internationale Gemeinschaft wird diskutiert - aber nicht über die Moral."
aus: TAZ 03.06.1996
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Most recent revision: April 07, 1998
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