Jürgen Ebach
Erinnerung gegen die Verwertung der Geschichte
I.
"Gedenk! Erinnere dich! Thiskor!" In drei Sprachen klang es mir von frühester
Kindheit ins Ohr: ,Was deinen Ahnen irgendeinmal an Unrecht geschehen ist, vergiß
es nie; was sie anderen Böses angetan haben, denk daran und an die Gerechtigkeit
der Strafe, die sie erlitten haben. Was ihnen Gutes zugestoßen ist, behalt
es im Gedächtnisse; wer dir einen Trunk Wasser gereicht hat, lösch die
Erinnerung an ihn nie aus, denn er hat gehandelt wie Rebekka, die dem fremden Elieser
den labenden Trunk gereicht hat. Jedes Mal, wenn du den Fuß auf die Stelle
setzt, an dem du jemandem Unrecht getan hast, sollst du das Weh empfinden, an dem
du schuldig warst, bist, sein wirst." M. Sperber, Die Wasserträger Gottes,
München 1978, S. 46
Diese Sätze stehen in Manes Sperbers Autobiographie, in deren erstem Teil der
Autor seine Kindheit in einem galizischen Dorf am Rande der K. u. K.-Monarchie beschreibt.
Das Judentum ist, so läßt Sperber eine seiner Romanfiguren sagen, "die
Religion des guten Gedächtnisses". Welche Weise der Erinnerung, des sich
und andere Erinnerns, macht dieses Gedächtnis aus? Sperbers Sätze markieren
einen Hintergrund, vor dem sich die im "Historikerstreit"(1) propagierten und bestrittenen Geschichtsprojekte abheben. Vor
dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatten um den Besitz der Geschichte wird
umgekehrt die besondere Weise biblisch-jüdischen Erinnerns deutlich. Von zwei
Weisen der Erinnerung wird also die Rede sein: gegen die Geschichtsprojekte, deren
Zweck es ist, die Vergangenheit und ihre Deutung zu "besetzen", zu "entsorgen",
und zu funktionalisieren, steht eine Weise des Erinnerns, die darin zweckfrei ist,
daß sie keinem Zweck als Mittel dient, sondern als Teil des menschlichen Lebens
selbst Zweck ist. Eine *zweckfreie* Erinnerung, die gerade deshalb keine *folgenlose*
Erinnerung ist, steht, wie ich zeigen möchte, quer und widerständig gegen
Positionen, die einander im "Historikerstreit" scheinbar nur gegenüber
stehen.
Was bedeutet heute die Erinnerung an die Verbrechen, die zwischen 1933 und 1945
nicht. wie es oft heißt "im deutschen Namen" - so als hätte
sich eine Art "Scheckfälscher" unseres guten Namens bedient -, sondern
von Deutschen und unter deutschem Befehl verübt wurden? Was bedeutet die Erinnerung
an diese Vergangenheit heute in der Arbeit einer deutschen Universität? Kommt
"Erinnern" überhaupt vor in der Aufgabenbeschreibung geisteswissenschaftlicher
Fächer einer Universität? Wer sich der Erinnerung an die NS-Zeit, ihre
Vorgeschichte und ihre in vielem noch andauernde Nachgeschichte aussetzt, wird nicht
"sine ira et studio" sprechen können. Trauer, Wut und Scham sind
in diesem Fall keine Hinderungsgründe der Reflexion, sondern ihre Voraussetzung.
Das gilt gerade für den, der die "Gnade der späten Geburt" erfahren
hat. Ich bin in den letzten Wochen des 2. Weltkrieges geboren; meine bewußte
Lebenszeit ist die Zeit der Bundesrepublik. Für mich *gibt* es die Gnade der
späten Geburt. Ich nehme diese Formulierung (die Günter Gaus gebrauchte,
bevor sie requiriert wurde) ernst. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten
hätte... ich habe noch nicht erweisen müssen, wo ich stehe, wenn ich wirklich
etwas riskieren muß. Deshalb verstehe ich das Datum meiner Geburt als Gnade,
als Bewahrung. Eins aber muß ganz deutlich sein, gleich, ob man "Gnade"
theologisch oder juristisch versteht: Gnade gibt es statt der *Urteilsvollstreckung,*
nicht statt der Schuld. Wer Gnade reklamiert und sich damit von der Schuld freisprechen
will, verwechselt Gnade mit dem, was man "ein gutes Alibi" nennt.
Die doppeldeutige Rede von der "Gnade der späteren Geburt" gehört
selbst zu dem Aspekt des "Historikerstreits", bei dem ich ansetzen möchte.
Es geht um die Besetzung von Begriffen, den Besitz der Geschichte und die *Aneignung*
der Vergangenheit. Wahlkämpfe werden mit der erfolgreichen Besetzung von Begriffen
gewonnen. Der Erfolg der Begriffsbesetzung ist unabhängig von der realen Aussagekraft
des Begriffs oder vom Realitätsgrund des Behaupteten. Die Werbung lebt von
der Suggestion, es müsse das, wofür man einen Begriff hat, wirklich geben.
Zugleich schwingen bei den Begriffen, um deren Besetzung es geht, jeweils verschiedene
Bedeutungen mit, die offen oder verdeckt wirken. Ein solches Werbewort, das von
der Macht des "Realscheins" lebt, ist der Begriff "Reinheit".
"Rein" ist bekanntlich eine gesteigerte, eine "deutsche" Form
der Sauberkeit. Die Erinnerung an ein Wort wie "judenrein" zeigt, daß
es hier nicht allein um Waschmittelwerbung geht. Der Begriff der Reinheit ist in
eben den Grauzonen von und zwischen Werbung, Politik, Mythos und Religion angesiedelt,
in denen der Kampf um den Besitz der Begriffe geführt wird. Als eine "akademische"
Variante des Wortes "Reinheit" begegnet - nicht nur im "Historikerstreit"
- der Begriff "Identität". Es sei daran erinnert, daß die Suche
nach *nationaler* Identität eine der stärksten Triebfedern des neueren,
speziell des deutschen Antisemitismus war. Vor einem Jahrhundert ging es im neuen
Kaiserreich um die Frage, was denn "eigentlich" deutsch sei. Diese Frage
war nur durch die Abgrenzung gegen ein anderes, ein Nicht-Deutsches zu beantworten.
Deutsch, was immer das sonst noch sein machte, war zumindest und vor allem eins:
*nicht-jüdisch.* Es bedurfte der Erfingung eines angeblichen jüdischen
Charakters, einer angeblich jüdischen Rasse, eines angeblichen jüdischen
Blutes, einer "jüdischen Identität" um gegen sie das "Deutsche"
zu behaupten. Der Haß auf alles Jüdische war die Kehrseite des einzigen
Zweifels, der Antisemitismus eine Sicherung der eigenen Identität. Identität
heißt hier *Einheit und Reinheit;* ihre Praxis ist die der Austilgung des
Nichtidentischen, des anderen. Ohne dieses andere, Fremde, Feindliche bliebe man
selbst identitätslos. Gegen das andere, das Jüdische zumal, konnte eine
kollektive, nationale, völkische, rassische Identität ausgebildet werden,
die zugleich die bestehenden Gegensätze zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen,
Reichen und Besitzlosen überdecken sollte. Die Austilgung des Nichtidentischen
war ein Reinigungsakt, eine Hygienemaßnahme. In der Nazi-Zeit wurde aus dem
identitätssichernden Abgrenzungsakt die physische Auslöschung des Fremden.
Auch sie galt als Herstellung und Sicherung von Reinheit. So wurden die Gaskammern
als Duschen, als Reinigungsräume, nicht nur getarnt, sondern auch verstanden.
Die Vollzugsmeldung, eine Stadt, ein ganzes Land sei nun "judenrein",
verkündet die gelungene Selbstreinigung.
Identität ist heute wieder zum politischen Kampfbegriff geworden. Fügt
man den Worten "Geschichte" und "Identität" das in den
letzten Wahlkämpfen seinerseits zum Kampfbegriff gewordene Wort "Zukunft"
hinzu, so erscheint das semantische Gerüst eines Programms. Es ist vor allem
erkennbar bei Michael Stürmer, einem der Protagonisten des "Historikerstreits",
der einen Umgang mit der Geschichte propagiert, den Hans Mommsen referierend so
zusammenfaßt, "daß der, der Herr der Geschichte ist. auch die Zukunft
für sich habe."(2) Stürmer selbst stellt
fest, daß "in geschichtslosem Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung
füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet."(3) Viel hängt davon ab, ob diese Feststellung eine ideologiekritische
Aufdeckung der Funktionalisierung von Geschichte ist ( *so* wäre sie zutreffend!)
oder ob sie ihrerseits ein Programm bezeichnet. In der Wende von der Ideologiekritik
zum Programm liegt das Neue in den Äußerungen einiger Historiker zur
jüngeren deutschen Geschichte. Es geht um das politische Konzept der legitimatorischen
Verwertung der Vergangenheit zur Stabilisierung und Absicherung der gegenwärtigen
politischen, ökonomischen und technologischen Machtstrukturen. Historiker,
die ihre Arbeit affirmativ in dieses Programm einbringen, haben die von den wirtschaftlichen
und dann von den politischen Repräsentanten immer lauter geforderte Transformation
von der institutionalisierten kritischen Einrede zur Legitimationslieferung, von
der "Diskussionswissenschaft" zur "Akzeptanzwissenschaft", in
vorauseilendem Gehorsam selbst vollzogen. Für die legitimatorische Indienstnahme
der Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele. Geißlers Behauptung, die Pazifisten
trügen die Schuld an Auschwitz, sei in Erinnerung gerufen, weil sie, wie sich
im nachhinein zeigt, als Auftakt zur öffentlichen Revision der deutschen Geschichte
erscheint. Das Modell ist freilich älter. Man denke z. B. an die Entscheidungsprobleme
der NS-Historie, ob sie an Karl oder an Widukind und die Sachsen anknüpfen
solle. Je nach Tunlichkeit gab es nach 1933 wechselnde Sprachregelungen für
Geschichtslehrer, die bald "Karl der Große" bald "Karl, der
Sachsenschlächter" zu sagen hatten. Die offizielle Geschichte der KPdSU
schreibt in ihren verschiedenen Auflagen die Geschichte der Sowjetunion jeweils
so, wie es den aktuellen Machtkonstellationen entsprach. Wer in Ungnade fiel, war
nicht nur immer schon im Unrecht, sondern wurde buchstäblich zur "Unperson".
Namen wurden gestrichen, Personen aus Bildern wegretuschiert. Der Unterlegene wird
noch um seine Niederlage betrogen; es gibt ihn nicht. In Orwells "1984"
sind die neuen Historiker die, deren Aufgabe es ist, geschichtliche Informationen,
z.B. in alten Zeitungsausgaben jeweils auf den neuesten Stand zu bringen, d. h.
so zu ändern, daß immer schon war, was jetzt gilt. Im Staat von "1984"
heißt die Parole des "Wahrheitsministeriums": "Wer die Vergangenheit
beherrscht, beherrscht die Zukunft; wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die
Vergangenheit."(4) Es ist nicht ohne Reiz, daß
Ernst Nolte in dem "ungehaltenen Vortrag", der den "Historikerstreit"
eröffnete, ein Motiv Orwells (den "Rattenkäfig"(5)) dazu benutzt, seine These zu belegen, Hitler habe mit seiner
Gewalt lediglich auf die vorgängige *asiatische* Gewalt der Sowjetunion reagiert.
Die Arbeit der Historiker "1984" und einiger heute zu vergleichen, ist
ergiebiger. Was heute gilt, soll auch in der NS-Zeit das Entscheidende gewesen sein
und Kontinuität und Identität stiften: die Kontinuität und Identität
des Antikommunismus.(6) Die Indienstnahme der Geschichte
ist also nicht neu. Heute wird sie bei einigen Historikern zum Bestandteil eines
Programms, das sich mit dem Zukunftsslogan der Wahlkämpfe verbindet. Was mit
der Zukunft gemeint ist, um deren Besitz es geht, wird an der ergänzenden Parole
deutlich: "Weiter so, Deutschland!" Der doppelte Leitsatz aus Orwells
"Wahrheitsministerium" benennt zynisch-offen, was auch heute hinter dem
Bemühen der politischen Strategen und ihrer akademischen Verbündeten um
die Vergangenheit und die Zukunft steht. Denn es geht weder um die Erinnerung noch
um die Zukunft, sondern um die Erhaltung der *gegenwärtigen* Macht.
II.
Gibt es gegen die Vergangenheitsbesetzung zur Stabilisierung und Sicherung der herrschenden
Machtstrukturen eine Weise des Erinnerns, in der die Vergangenheit *lebendig* ist,
ohne daß sie *verwertet* wird? Solches Erinnern wäre eine Praxis und
keine Technik, eine Lebensweise und kein Programm. Was als Erkenntnisinteresse historischer
Wissenschaft schwer vermittelbar ist, "zweckfreie Erinnerung", gehört
als etwas für die meisten Menschen Selbstverständliches zu ihrem Leben.
Gilt im Bereich der Wissenschaftsplanung die Verwertbarkeit, die Zukunftsrelevanz
geradezu als Maßstab für die "erinnernden Wissenschaften",
so wäre die Frage nach dem Zweck, der Verwertbarkeit der Erinnerung, an einen
Menschen gestellt, der Ausweis der Unterwerfung der Lebenspraxis unter die Regeln
des Marktes. Man stelle sich vor, man fragte jemanden, der sich mit Trauer und Freude,
mit Glück und Schmerz an seine verstorbenen Großeltern erinnert, welchen
Zweck er mit solcher Erinnerung verfolge und ob sie ihn zukunftsfähiger mache
. . . Aber läßt sich, was für private Erinnerungen gilt, auf die
Vergangenheit eines Volkes, eines Staates oder auf die historische Arbeit an einer
Universität übertragen? Und handelt es sich bei der NS-Vergangenheit nicht
um eine so singuläre Geschichte, daß die Verbindung mit alltäglichen
Familienerinnerungen eine gefährliche Verharmlosung darstellt? Ich versuche,
auf einem scheinbaren Umweg diese Einwände aufzunehmen.
Eine Aufgabe historischer Forschung ist die detektivische Aufdeckung vergangener
und gleichwohl offen oder verdeckt weiterwirkender Geschehnisse. Wie der Detektiv
muß der Historiker Spuren sichern, Funde deuten, geradezu Verhöre durchführen.
Zuweilen muß er, um die Wahrheit zu finden, mit den Gefühlen der Beteiligten
(Täter und Opfer) rücksichtslos umgehen. C. Lanzmann hat in seinem Film
"Shoah", einer aus zahlreichen Gesprächen bestehenden Collage von
Erinnerungen der Vernichtung der europäischen Juden(7),
gezeigt, wie weit man gehen muß, um die Frage "Wie war das bloß
möglich?" nicht nur zu stellen (und den Gestus der grenzenlosen Verwunderung
für die Antwort zu nehmen), sondern, soweit es möglich ist, zu beantworten.
"Shoah" zeigt in zuvor nicht gesehener Weise die Aufgabe eines Detektivs
des Grauens. Was seine Enthüllungen bewirken, hängt freilich davon ab,
ob der Zuschauer erkennt, daß es seine Geschichte ist, die dort aufgedeckt
wird. In seiner Exaktheit, im unerbittlichen Zwang zur Erinnerung der Täter,
der Augenzeugen und der wenigen Überlebenden der Todeslager löst der Film
mehr als Betroffenheit aus. Dem Distanzierten aber erlaubt derselbe Film, unbetroffen
zu bleiben, als deutscher Zuschauer andere am Werk zu sehen. "Shoah" zeigt
an Beispielen, was Raul Hilbergs Forschungen(8) als
Regel erwiesen haben: Eine gigantische Mordmaschinerie deutscher Politiker, deutscher
Industrie, deutscher Militärs, deutscher Verwaltung organisierte den Massenmord,
indem die meisten nichts anderes verrichteten als ihre "normale" Arbeit.
Die Reichsbahn wickelte die Deportationen in die Vernichtungslager genauso ab wie
Urlaubssonderzüge; Juden wurden mit (von ihrem Geld) ordnungsgemäß
bezahlten Fahrkarten transportiert. Die Mordmaschinerie war so perfektioniert, daß
das unmittelbare Töten in vielen Fällen fast ohne deutsche Beteiligung
ablaufen konnte. Der in Treblinka an führender Stelle tätige SS-Unterscharführer
Suchomel sagt im Gespräch mit Lanzmann - vermutlich glaubwürdig -, er
als Deutscher wisse nicht, wie viele Menschen auf einmal in die Gaskammern paßten.(9) Polnische Zeugen berichten mehrfach von den Greueltaten,
die Ukrainer an den Zügen verübten. Wer nicht weiß, wer die Befehle
gab, könnte meinen, Deutsche hätten damit nichts zu tun gehabt. Demjenigen,
der "Shoah" im Bewußtsein deutscher Schuld sieht, wird durch die
Aufdeckung der Mechanismen diese Schuld noch unermeßlicher nicht zuletzt,
weil er fortan auch seine Arbeit nicht ohne diese Erinnerung wahrnehmen wird. Der
aber, der immer noch oder schon wieder "reinwaschen" will, wird in demselben
Film Entlastungen der Deutschen und Belastungen der anderen, der Ukrainer, der Polen,
der Uberlebenden und der ermordeten Juden selbst finden.
Mehr schockartige Erfahrungen des Beteiligt-Seins erreichte in Deutschland die in
Hollywood-Manier gedrehte Familiengeschichte "Holocaust". Zusammengeballt
auf die im einzelnen fiktive Geschichte zweier Familien, der Täter- und Opferseite,
brachte "Holocaust" mehr in Bewegung als alle Tatsachenberichte zuvor.
Das Schicksal zweier Familien rührte mehr Menschen an als das Geschick von
Millionen Ermordeter. Für sich genommen könnte diese Beobachtung mehr
über die Macht des Kitschs besagen als über die durch "Holocaust"
veränderte Erinnerung. Man könnte hinzufügen, das Schicksal der Familien
Ewing und Carrington berühre heute mehr Menschen als das Geschick der Libanesen,
Kurden, Tamilen und der vielen anderen, die in unserem Land Asyl suchen. Doch wäre
das nur die halbe Wahrheit. Denn es gab nicht nur die, die bei "Holocaust"
dieselben Tränen vergossen wie bei der "Love-Story", sondern auch
die - und es waren manchmal dieselben Menschen -, die sich nun ihren Erinnerungen
stellten, die Fragen stellten und Konsequenzen zogen. An vielen Orten in Deutschland
bildeten sich Gruppen, die nach dem Geschehen in ihrem Dorf, ihrer Stadt fragten.
Auch bei diesen Nachforschungen ist Detektivisches gefragt. Wie oft z. B. verbirgt
sich hinter den zahlreichen 50jährigen Geschäftsjubiläen der letzten
Jahre die 50. Wiederkehr des Tages der "Arisierung", der Beraubung jüdischen
Eigentums? Warum sind so viele der entsprechenden Akten verschwunden? Wer verhindert
heute noch die Offenlegung anderer? Und doch ist diese Erinnerungsarbeit mehr als
historische Detektivarbeit. Sie ist zugleich der Ausweis der Suche nach der eigenen
Geschichte. Gegenüber solcher Erinnerung wird die Frage nach dem Zweck und
der Verwertbarkeit ebenso platt wie gegenüber der eigenen Familiengeschichte.
Ähnlich schief wird auch die Frage nach der Singularität der Verbrechen
(eines der Hauptthemen des "Historikerstreits"). Der historische Vergleich
ist legitim. Massenmorde aus politischen, religiösen, rassistischen Motiven
gab es vor und gibt es nach Hitler. Es bleibt wichtig, nach Mechanismen faschistischer
Gewalt zu fragen - nicht allein auf Deutschland bezogen. Gerade die These von der
Singularität der NS-Verbrechen kann ihrerseits verharmlosend wirken, wenn man
damit jene zwölf Jahre als einmaligen Fall bzw. Un-fall aus der Kontinuität
historischer Entwicklungen herauslöste und mit der Singularität zugleich
die Unwiederholbarkeit erweisen wollte. Was jedoch die Bedeutung partiell möglicher
und legitimer Vergleiche angeht, so hängt sie von der Frageebene ab. Wer nach
der NS-Zeit als Teil seiner Geschichte fragt, dem ist sie singulär wie seine
Geschichte. Wer nach dem Schicksal seines verschwundenen jüdischen Mitschülers
fragt ("weggekommen" heißt es meistens in den Erzählungen)
und zur Antwort erhält, auch in anderen Zeiten und Ländern seien Menschen
verschwunden, wird diese Antwort als unverschämt zurückweisen. Losgelöst
von der Frage nach dem Ziel der einen oder der anderen Antwort ist die Debatte über
die Singularität der NS-Verbrechen abstrakt. Sie waren singulär - das
kann besagen sollen: es gibt für uns nichts, was diese Verbrechen relativieren
kann. Sie waren singulär- das kann aber auch besagen sollen: es war ein einmaliges
Unheil; es ist abgeschlossen und hat mit unserer Gegenwart und Zukunft nichts zu
tun. Die NS-Verbrechen waren nicht singulär - das kann besagen sollen: "der
Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch . . .", wir müssen
wachsam sein, wo immer Menschen klassifiziert, deklassiert, diffamiert werden, wo
immer der Staat "Opfer" fordert, wo immer um der Erhaltung der Macht willen
Geschichte gefälscht wird. Sie waren nicht singulär- das kann aber auch
besagen sollen: sie waren schlimm, aber das alles gab's und gibt's auch sonst, "KZs"
z. B. gab es bei anderen vorher, wir brauchen uns unserer Geschichte nicht zu schämen,
auch andere Völker haben "Dreck am Stecken".
Auf die Frage, ob die NS-Verbrechen singulär waren, sollte deshalb stets zunächst
die Gegenfrage gestellt werden: Warum fragst du das? Was würde die eine oder
die andere Antwort für dich und dein Verhalten bedeuten?
Gegenüber den Verrechnungen und Verwertungen kann das Beharren auf der Singularität
der Geschichte als der eigenen Geschichte etwas Widerständiges haben. Uber
den Mord an Millionen kann diskutiert werden; Auschwitz wurde zum Partythema. Es
gibt zwei Möglichkeiten, auf die Unverbindlichkeit solcher Gespräche nicht
allein schweigend zu reagieren. Die eine ist die Fragehaltung von "Shoah",
die die Gemütlichkeit beendet. Die andere - die die Fragen von "Shoah"
aufnimmt und mit einem Aspekt des "Holocaust-Films" verbindet - ist die
Suche nach meiner Geschichte, nach meinem Ort, den Nachbarn, Mitschülern, Lehrern.
Dabei geht es nicht nur um Betroffenheit (als "Gefühl" kann Betroffenheit
eine andere Form der Gemütlichkeit sein), es geht darum, gegen jede Form der
Verrechnung, der Relativierung auf der Unvergleichlichkeit jeder einzelnen Untat
zu bestehen. Denn das Verschwinden der einzelnen im Ganzen ("Gemeinnutz geht
vor Eigennutz"), gehört zu den Mechanismen, die die Massenmorde ermöglichten.
III.
Mit dem Wort "erinnern" ist eine weitere Bedeutung verbunden. "Erinnerung
einlegen", auch kurz "erinnern" bedeutet im juristischen Sprachgebrauch
soviel wie "Einspruch einlegen", "widersprechen". Erinnerung
kann Einrede sein, Widerspruch gegen Identität und behauptete Kontinuität.
Gegen die behauptete Kontinuität steht die Erinnerung, daß es nicht immer
so war, daß nichts Gegebenes ein Immer-schon-Gegebenes ist. Solche Erinnerung
und mit ihr und von ihr her ein Leben in Tradition und Brüchen, Anknüpfungen
und Aufkündigungen, Treue und Abschied kennzeichnet das Judentum als "Religion
des guten Gedächtnisses". "Du sollst dich erinnern, daß du
auch Sklave gewesen bist in Ägypten und daß JHWH, dein Gott, dich befreit
hat . . .". So heißt es in 5. Mose 5, 15 im Gesetz über die Sklavenbefreiung.
Diese Erinnerung ist Einrede gegen die Vorstellung, es sei schon immer so gewesen
wie es jetzt ist. "Einen Fremdling sollst du nicht bedrücken noch bedrängen,
ihr seid ja auch Fremdlinge gewesen in Ägypten". So steht es in 2. Mose
22, 21, und 2. Mose 23, 9 begründet ausführlicher: "Einen Fremdling
sollst du nicht bedrücken! Ihr wißt, wie dem Fremdling zumute ist; denn
Fremdlinge wart ihr selbst im Lande Ägypten." Die Solidarität mit
dem Fremden ist weder "naturrechtlich" noch durch die Autorität des
göttlichen Gesetzgebers begründet. Sie ruht auf der Erinnerung und der
Verbindung mit den früheren Generationen. Die Erinnerung an das eigene Fremdling-Sein
wird zum Grund, den Fremdling seinerseits nicht zu bedrücken.
Dabei waren die Angeredeten selbst nie Fremdlinge in Ägypten. Die Erfahrung
von Sklavenhaus und Befreiung war die einer kleinen Gruppe unter den vielen, aus
denen Israel wurde; sie lag viele Generationen zurück. Doch erkennen die hier
Angeredeten ein halbes Jahrtausend nach den Erfahrungen der vergangenen und darin
eben nicht vergangenen Generationen ihre eigenen Bedrückungen, ihre eigenen
Befreiungen wieder. So sehr sind die Angeredeten mit den Vorfahren verbunden, daß
sie sich so anreden lassen: Fremdlinge wart ihr selbst. Es geht nicht nur darum,
aus der Geschichte zu lernen (noch dann bliebe sie Material, würde sie verwertet).
Es geht um die Gemeinschaft mit denen, die vor uns lebten und ohne die wir nicht
lebten. Viele deutsche Nazi-Gegner überlebten, weil sie in anderen Ländern
(nicht wenige in der Türkei) Asyl fanden. "Einen Asylsuchenden sollst
du nicht abweisen, denn Asylsuchende wart ihr selbst in anderen Landern!" Würde
ein solcher Satz heute in unserem Land verstanden? Daß man den Asylbewerber
nicht bedrücken wolle, weil er doch auch ein Mensch sei, weil man als Christ
Nächstenliebe üben solle, kann man als Begründung von Solidarität
hören. Aber ein: Auch du warst . . . auch ihr wart . . .? Offenbar war diese
Erinnerung bei denen, die das Grundgesetz schrieben, noch nicht erloschen. Aber
wie schnell ging sie verloren, wie weit sind wir entfernt von einer "Praxis
des guten Gedächtnisses"?
Die biblischen Sätze über das Verhalten zum Fremdling enthalten einen
weiteren Aspekt. Die eigene Erfahrung, genauer: die Erfahrung einiger Menschen früherer
Generationen, lebendig als eigene Erfahrung, wiederholt das Vergangene und bricht
es ab. Denn nicht wiederholt wird ja gerade der Inhalt der eigenen Erfahrung als
Sklave, als Fremdling. Die Erinnerung an die eigene Bedrückung realisiert sich
als Praxis der Nicht-Unterdrückung. Die Konsequenz der Erinnerung ist damit
auch ein Abbrechen des Erinnerten. Solche Erinnerung ist keine Re-Kapitulation des
Immer-Gleichen.
Erinnern bedeutet ebenso Anknüpfen wie Abschied-Nehmen. Erinnern bedeutet darum
auch: nicht wiederholen. Ein Kriegerdenkmal enthielte dann eine solche Erinnerung,
wenn es das letzte sein wollte, wenn es keine Kontinuität, keine Identifikation
mehr erlaubte. Damit aber wäre es in hohem Maße identitätsgefährdend.
Nicht ohne Grund spielen im "Historikerstreit" die einschlägigen
Museumsplanungen eine große Rolle, deren Zweck es ist, Geschichte zu "verbauen".
Gegenüber den Versteinerungen gilt der alte Ratschlag, man müsse den versteinerten
Verhältnissen ihre eigene Melodie vorspielen, um sie zum Tanzen zu bringen.
Die "eigene Melodie" eines Kriegerdenkmals z. B. wäre die Transformation
des monumentalen Substantivs in einen Imperativ: Krieger, denk mal!
Leben mit und aus der Erinnerung ist ein Leben im Bewußtsein des Bruchs zwischen
Vergangenem und Gegenwärtigem. Die lebendige Erinnerung an die Toten erlaubt,
die Toten tot sein zu lassen, ihnen die Ruhe zu lassen, sie nicht "in unserem
Geiste mitmarschieren" zu lassen. In der Sprache der hebräischen Bibel
liegt die Vergangenheit nicht (wie im deutschen Sprachgebrauch) hinter, sondern
vor jemandem.(10) Wenn Israel sich erinnert, muß
es sich nicht umwenden, nicht zurückschauen, sondern "nur" die Augen
öffnen. Mit offenen Augen sehen, sehen, was vor einem liegt, heißt, das
Vergangene sehen. Erinnerung ist deshalb keine Unterbrechung der Praxis, sondern
ist Praxis, Praxis, die ihrerseits etwas unterbricht. So ist das Einhalten des Sabbats
die Unterbrechung der Arbeit. Immer arbeiten zu müssen, kennzeichnet den Sklaven.
Das Sabbatgebot ist deshalb wie alle "Zehn Gebote" die Realisierung und
Konkretisierung der Erinnerung, aus dem Sklavenhaus herausgerissen worden zu sein.(11) Unterbrechung der Arbeit am Sabbat heißt zugleich,
den Kampf zwischen Mensch und Natur zu unterbrechen, etwas vom paradiesischen Leben
zu konkretisieren, einem Leben, das durch "arbeiten und bewahren" (1.
Mose 2, 15) bestimmt war. Diese beiden Aspekte der Sabbatpraxis werden je verschieden
akzentuiert und einander ergänzend in den beiden Fassungen des Sabbatgebots
betont. In 5. Mose 5, 12 lautet das Gebot: "Den Sabbattag bewahren!" Das
"bewahren" nimmt das "Bewahren" aus dem Paradies auf, das mit
dem "Bearbeiten" zusammen die Praxis des Menschen ausmachen soll. "Den
Sabbattag bewahren" heißt, innezuhalten in der Ausbeutung von Mensch,
Tier und Erde. Die Einlösung des Gebots ist eine Praxis der Unterbrechung.
In 2. Mose 20, 8 lautet das Gebot in komplementärer Akzentuierung: "Den
Sabbattag erinnern!" Sabbat ist die Praxis der Erinnerung an die Befreiung
aus dem Sklavenhaus, an den Exodus. Die Erinnerung ist Praxis; die Praxis ist unterbrechende,
einredende Erinnerung.
Die Praxis der Erinnerung ist ein Leben, in dem das Leben der vergangenen Generationen
lebendig bleibt. In ihrem Leben nimmt man das eigene wahr und im eigenen ihres.
"Wer dir einen Trunk Wasser gereicht hat, lösch die Erinnerung an ihn
nie aus, denn er hat gehandelt wie Rebekka, die dem fremden Elieser den labenden
Trunk gereicht hat . . ." Die Erinnerung verbindet sich mit dem Alltäglichen.
Wann immer ein solches Glas Wasser gereicht wird, kann etwas wahrgenommen werden
von dem in den biblischen Erzählungen aufgehobenen gelebten Leben der früheren
Generationen. Der dir einen Trunk Wasser gereicht hat, soll in deine Erinnerung
eingehen, nicht nur, weil er dir Gutes tat, sondern auch. weil er mit seinem Tun
die Erinnerung an Rebekka und Elieser wieder aufleben ließ. Das ist eine Weise
des Umgangs mit der Geschichte, die sich von der Verwertung der Vergangenheit unterscheidet.
Kritische Erinnerung, die zugleich bewahrende Erinnerung ist, ist deshalb Einrede
gegen die Vorstellung, wir seien die Herren der Geschichte. Bewahrende Erinnerung,
die zugleich kritische Erinnerung ist, ist Einrede gegen die Halbierung der Geschichte
mit dem Ziel identitätsstiftender Kontinuität. Wer die Geschichte der
deutschen Dichter und Denker ohne die der deutschen Richter und Henker schreibt,
tilgt mit der Erinnerung an die Täter auch die an die Opfer, die er damit noch
einmal tötet. Wer nach deutscher Identität fragt, ohne sich und andere
daran zu erinnern, daß es diese Frage war, die am Beginn der Herrschaft der
Richter und Henker stand, hilft abermals bei der Klassifizierung, Diskriminierung,
Deklassierung und zuletzt der Beseitigung des Nichtidentischen.
Das Bild von der "Entsorgung" der deutschen Geschichte gewinnt seine Bedrohlichkeit
aus dem Bereich, dem es entstammt. Der "entsorgte" atomare Abfall tickt
unterirdisch weiter. Die Verdrängung beseitigt die Gefahr nicht, und die Wiederkehr
des Verdrängten realisiert sich als Gewalt.
Von zwei Weisen der Erinnerung war die Rede. Die eine läßt sich statt
mit Zitaten aus dem Historikerstreit am präzisesten mit dem "Originalton
1984" zusammenfassen:
"Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft; wer die Gegenwart
beherrscht, beherrscht die Vergangenheit." Dagegen steht die jüdische
Erinnerung, für die ich noch einmal Manes Sperber zitiere:
"Gedenk! Erinnere dich! Thiskor! . . . Was deinen Ahnen irgendeinmal an Unrecht
geschehen ist, vergiß es nie; was sie anderen Böses angetan haben, denk
daran und an die Gerechtigkeit der Strafe, die sie erlitten haben. Was ihnen Gutes
zugestoßen ist, behalt es im Gedächtnisse; wer d ir einen Trunk Wasser
gereicht hat, lösch d ie Erinnerung an ihn nie aus, denn er hat gehandelt wie
Rebekka, die dem fremden Elieser den labenden Trunk gereicht hat. Jedes Mal, wenn
du den Fuß auf die Stelle setzt, an dem du jemandem Unrecht getan hast, sollst
du das Weh empfinden, an dem du schuldig warst, bist, sein wirst."
Würde diese Weise der Erinnerung zur Praxis historischer Arbeit, dann würde
aus einem gewöhnlich als hohes Lob verstandenen Etikett eines Wissenschaftlers
eine kritische Decouvrierung. Nichts Schlimmeres könnte man von einem Lehrer
und Forscher, der sich solcher Erinnerung verpflichtet weiß, sagen, als daß
er seinen Stoff beherrsche.
Anmerkungen
Dieser Beitrag geht aus einem Vortrag hervor, den der Autor im Rahmen der Ringvorlesung
des Fachbereichs 1 der Gesamthochschule Paderborn, "Entsorgung der Vergangenheit?"
Uber den gegenwärtigen Umgang mit der deutschen Geschichte", am 29. 4.
1987 gehalten hat.
1) Die wichtigsten Aufsätze, Reden, Leserbriefe
und Repliken dieser Auseinandersetzung sind in dem Band "Historikerstreit",
München 1987, dokumentiert (die Zitatbelege in den folgenden Anmerkungen beziehen
sich auf diesen Band); zur Diskussion vgl. auch H. Hoffmann (Hrsg.), Gegen den Versuch,
Vergangenheit zu verbiegen, Frankfurt a. M. 1987; D. Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus
Geschichte?, Frankfurt a. M. 1987, sowie das Heft 1 der Zeitschrift "Niemandsland",
Berlin 1987.
2) "Historikerstreit", S. 176.
3) ebd., S. 36.
4) Kap. 3 (in der Ausgabe der Büchergilde Gutenberg,
Frankfurt a. M. 1984, S. 38).
5) "Historikerstreit", S. 44.
6) Daß im Hinblick auf die Indienstnahme der Geschichte
in legitimatorischer Absicht zwischen J. Habermas und den von ihm attackierten Historikern
bei wichtigen Unterschieden auch Gemeinsamkeiten bestehen, zeigt die Kritik von
E. Tugendhat in: Niemandsland 1/1987.
7) Die Texte des Films in: C. Lanzmann, Shoah, Düsseldorf
1986.
8) R. Hilberg, Die Vernichtung des europäischen
Judentums, Berlin 1982.
9) C. Lanzmann, a. a. O., S. 88.
10) vgl. J. Ebach, Ursprung und Ziel, Neukirchen-Vluyn
1986, bes. S. 51 ff.
11 vgl. F. Crüsemann, Bewahrung der Freiheit.
Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive. München 1983.
aus: Wieland Eschenbach (hrg.) Die neue deutsche Ideologie. Einsprüche gegen
die Entsorgung der Vergangenheit
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt