Fremde und Allzufremde. Prozesse der Ethnisierung gesellschaftlicher
Konflikte
Man hätte erwarten können, daß nach dem Beitritt der DDR in den
Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland eine breite politische
Diskussion etwa über die Transformation der Wirtschaft der ehemaligen DDR von
einem bürokratisch geplanten zu einem marktgesteuerten System stattgefunden
hätte; oder eine staatspolitische Debatte über die Ausgestaltung einer
neuen Verfassung; oder eine Diskussion über eine Reform des Schul- oder Gesundheitssystems
in dem vereinigten Deutschland. Statt dessen hatten wir eine heftige Debatte über
das Asylrecht, die an Schärfe und Intensität an die Diskussionen über
die Wiederbewaffnung in den fünfziger oder die Verabschiedung der Notstandsgesetze
in den sechziger Jahren crinnerte.
Mit der Angst vor "Uberwanderung" und "Uberfremdung" (Schäuble)
wurden Anhänger in einem offenkundig parteipolitisch motivierten Machtkampf
mobilisiert, der zumindest objektiv von den Problemen ablenkte, für die es
keine politischen Lösungen gab und gibt: Massenarbeitslosigkeit und Massenarmut
in einem in der Bundesrepublik bisher nicht gekannten Ausmaß, die die Leistungsfähigkeit
des Sozialstaates zu überfordern scheinen.
Gegenstand der folgenden Uberlegungen wird also nicht die Frage sein, warum so parteipolitisch
erregt über Zuwanderung gesprochen wurde. Erörtert werden soll, wie, mit
welchen Unterscheidungen der Sachverhalt beschrieben wurde, wie die Kategorie des
"Fremden" in die Debatte kam, und welche Folgen die gewählten Unterscheidungen
für den Zustand des Gemeinwesens hahen.
Für die alte Bundesrepublik Deutschland kann der Vorgang der Wiederentdeckung
des Begriffs der "Ethnizität" und mit ihm der des "Fremden"
als Kategorie zur Beschreibung gesellschaftlicher Prozesse ziemlich genau datiert
und rekonstruiert werden. Das soll in diesem Text an Hand zweier Beispiele geschehen,
die eine folgenreiche Umstellung öffentlicher Semantiken bezeichnen, deren
Wirkungen auf das politische Klima in der Gesellschaft erst allmählich sichtbar
werden. Die Beispiele betreffen den diskursiven Umgang mit Arbeitsimmigranten, die
offiziell und öffentlich lange Zeit unter die Rubrik "Ausländer"
sortiert wurden. Das "FremdMachen" kennt zwei Varianten. Einmal geschieht
es in ausgrenzender Absicht (1. Beispiel: Die "Allzufremden") durch Dramatisierung
kultureller Differenz: das andere Mal in vereinnahmender Absicht (2. Beispiel: "Multikulturalismus")
durch Bewunderung. Beide Varianten hahen eine Kehrseite, die Renaissance nationalen
Denkens und die Erzeugung von "Wir-Gefühlen" auf seiten der Mehrheit.
Aus soziologischer Perspektive sind wiederum zwei Fragen zu untersuchen: Erstens:
Warum wird die Jahrzehnte ausreichende staatsrechtliche Unterscheidung abgelöst
von einer ethnologischen Beschreibung der Anderen, die nun die ethnische Differenz
und die kulturelle Distanz in den Vordergrund schiebt? Zweitens: Warum werden die
Neuankömmlinge, die mit den Ansässigen den Wunsch nach Wohlstand, Anerkennung,
Erfolg und sozialer Sicherheit teilen und mit denen sie angeblich oder tatsächlich
um Wohnungen, Arbeitsplätze, Karrierechancen und Sozialleistungen konkurrieren,
zu "Fremden" gemacht, die doch offenbar keineswegs unkundig oder unfähig
sind, die Spielregeln der sozialen Marktwirtschaft erfolgreich zu beherrschen? Neid,
Geiz, Mißgunst und Eifersucht, ja Aggression mögen die Folge verschärfter
Konkurrenz sein. "Aber hier handelt es sich eigentlich gar nicht um ein speziell
mit Fremdlheit verbundenes Phänomen. Fast ist man versucht zu sagen: im Gegenteil!"
(Hahn 1994, S. 153)
1.Beispiel: Vom Fremden zum Allzufremden. Als Schwellenjahr für eine augenfällige
Umstellung der Semantik in der Bundesrepublik Deutschland von der staatsrechtlichen
Kategorie des "Ausländers'` auf den ethnologischen Begriff des "Fremden"
kann das Jahr 1973 gelten. Von einem sozialdemokratisch geführten Kabinett
wurde nach langen Diskussionen über die Belastbarkeit der Systeme der sozialen
Sicherung angesichts wieder anwachsender Arbeitslosigkeit, eines weltweiten Ölpreisschocks
und einer mit ökologischen Argumenten erzeugten Delegitimation der Wachstumsideologie
ein Anwerbestopp für "Gastarbeiter" aus den bisherigen Anwerbeländern
rund um das Mittelmeer erlassen. Der Stopp betraf vor allem türkische Arbeiter
und unterband die bis dahin verbreitete Form der Pendelmigration. EG-Ausländer
konnten für sich das Gemeinschaftsrecht auf Freizügigkeit, Niederlassungsfreiheit
und freie Berufswahl geltend machen. Türkischen Arbeitern hingegen wäre
nach Verlassen der Bundesrepublik die Rückkehr auf immer versperrt geblieben.
Also begannen sie nicht mehr länger ein Leben als "einzeln gehende Arbeiter",
sondern als Familienväter zu fahren und ihre Frauen, Geschwister und vor allem
Kinder "nachzuholen", wie der Vorgang amtlich beschrieben wurde. Binnen
weniger Jahre verdoppelte sich die "ausländische Wohnbevölkerung"
trotz "Rückkehrförderung", darunter aus aufenthalts- und staatsrechtlichen
Gründen besonders die Familien türkischer Herkunft. Sie wurden zum "Problem":
weil sie aufgrund des gültigen ius sanguinis "Ausländer" bleiben
müssen, auch wenn sie ihre angebliche anatolische "Heimat" nur von
Ferienaufenthalten bei den Großeltern kennen, wüchse die Zahl der "Ausländer"
selbst dann, wenn ihre Zuwanderung effektiv kontrolliert werden könnte.
Schon seit Anfang der siebziger Jahre wurde in der politischen Arena anschwellend
von einem "Ausländerproblem" geredet, das von (Partei-)Politikern
zumal in Wahlkämpfen nicht mehr nur als Problem der finanziellen Belastbarkeit
der Bundesrepublik und ihrer Systeme der sozialen Sicherung, sondern als Problem
der kulturellen Uberforderung der einheimischen Bevölkerung konstruiert wurde.
Die Parteistrategen erfuhren bei dieser Umdeutung Unterstützung durch Professionelle.
Lehrer und Sozialarbeiter, die mit den "nachgeholten" ausländischen
Kindern und Jugendlichen institutionell nicht fertig wurden, erklärten die
Schwierigkeiten, die sich vor allem in mangelndem Schulerfolg der Migrantenkinder
und einer überproportional hohen (Jugend-)Arbeitslosigkeit unter Migranten
der zweiten Generation zeigten, mit dcr kulturellen Differenz. Sie favorisierten
als Erklärungsmuster- auch des Scheiterns der eigenen pädagogischen Bemühungen
- einen unvermeidbaren "Kulturkonflikt", der sich mit dem Grad der Fremdheit
der beteiligten "Ethnien" zur Unlösbarkeit steigere.
Die Ethnologisierung der Arbeitsmigration blieb jedoch nicht auf den Bereich semi-professioneller
Erziehung und Betreuung beschränkt, sondern erreichte auch die Spitzen der
Politik, in Gestalt des damaligen Regierenden Bürgermeisters von Westberlin
(und späteren, hochangesehenen Bundespräsidenten) Richard von Weizsäcker,
sowie das Flaggschiff der westdeutschen Publizistik, die renommierte Frankfurter
Allgemeine Zeitung (FAZ), in Form einer Leitglosse am 2. Dez. '82 (mitten im Bundestagswahlkampf)
unter dem Titel "Fremde und Allzufremde". Dort heißt es:
"(Aber) immer noch wird unter Verzicht auf jegliche Differenzierung über
die 'Ausländer' in der Bundesrepublik gesprochen (...) Anscheinend soll hierzulande
nicht zum Bewußtsein kommen dürfen, daß es verschiedene Grade von
Fremdheit gibt und daß das Zusammenwohnen mit den besonders Fremden naturgemäß
- genauer gesagt: kulturgemäß - am schlechtesten funktioniert. Mit den
Ost-, den Süd- und den Südosteuropäern (...) geht es ziemlich gut;
(...) Aber 'außen vor' sind vor allem die Turk-Völker geblieben - dazu
Palästinenser, Maghrebiner und andere aus ganz und gar fremden Kulturkreisen
Gekommene. Sie, und nur sie, sind das 'Ausländerproblem' der Bundesrepublik.
(...) Sie sind nicht zu integrieren: subjektiv wollen sie es nicht, und objektiv
können sie es nicht. Sie haben ein Ghetto gebildet und zumindest einen der
West-Berliner Stadtbezirke zu einer türkischen Großstadt werden lassen,
die für Deutsche praktisch unbewohnbar geworden ist."
Dem Berliner Bürgermeister wird Dank abgestattet, daß er bei einer Internationalen
Konferenz türkische Diplomaten darauf hingewiesen habe, "daß es
so nicht weiter geht". Die FAZ lobt v. Weizsäcker für sein entschiedenes
Auftreten und setzt hinzu: "Die offenkundig unerträgliche Situation wenigstens
so zu nennen, ist schon eine Hilfe. Aber noch keine Abhilfe. Gebessert kann sie
nur mit radikalem Stopp des Zugangs aus fremden Kulturkreisen und mit allmählicher
Verringerung der Zahl der Allzufremden in der Bundesrepublik werden." (FAZ
vom 2.12.1982, S. 1)
Der späte Nachhall der "Kulturkreistheorie" mag die heutigen Ethnologen
amüsieren oder entlasten, das ideologische Potential zum common sense abgesunkener
ethnologischer Deutungsmuster aber ist gewaltig. Aus der Ethnologisierung der Betrachtung
"des Ausländerproblems" ist im Handumdrehen eine Ethnisierung von
Spannungen und Konflikten zwischen Ansässigen und Neuankömmlingen und
eine versteckte Rassisierung der Zuwanderer geworden, deren Verhalten zwar nicht
mehr biologistisch, dafür aber kulturdeterministisch erklärt wird. Die
Dramatisierung der Fremdheit wirkt latent inferiorisierend, stellt die Situation
als kulturell unerträglich dar, wo es schlicht darum ginge, Arbeitsplätze
zu beschaffen und die Wohnsituation zu verbessern, und fordert - vornehm zwar, aber
bestimmt - die "Allzufremden" zum Verlassen des Landes auf, während
andere schlicht "Ausländer raus!" an Hauswände sprühen.
Die stereotype Vorstellung von der sozialen Bedeutsamkeit kultureller Distanz macht
mögliche Differenzen endgültig unüberbrückbar. Wenn man es nicht
mit Arbeitern. Kindern. Schwangeren. Taxifahrern, Arzten, Gemüsehändlern
oder Fußballspielern, also mit sozialen Gruppen zu tun hat, die unter gleichen
Lebensbedingungen, aber unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen in einer westdeutschen
Großstadt leben und aufwachsen, sondern wenn in ethnologischer Perspektive
das Problem aus ganzen (Turk-)Völkern besteht, die schon einmal vor Wien standen,
und ihren unwandelbaren, von keiner Modernisierung zu irritierenden Eigenschaften,
bleibt nur die Vertreibung.
2. Beispiel: Das Fremde als kulturelle Bereicherung. Unter dem Gesichtspunkt der
Ethnologisierung der Arbeitsmigration ist nicht nur der Diskurs der Ausländerfeindlichkeit,
in dem über die Grenzen der finanziellen und kulturellen Belastbarkeit geredet
wird, als gesellschaftliches Phänomen zu untersuchen, sondern auch der ausländerfreundliche
Diskurs des Multikulturalismus, der kulturelle und vor allem ethnische Unterscheidungen
in die politische Diskussion wieder einführt und durch Anerkennung zur Milderung
von Spannungen beitragen will.
Im Multikulturalismus geschieht die Wiederaneignung des ethnologischen Blicks in
einer Form, der erst auf den zweiten Blick anzusehen ist, in welcher kategorialen
Tradition sie steht. Es war der evangelische Pfarrer und Studienleiter Jürgen
Micksch, der seit Anfang der achtziger Jahre in einer Serie von Tagungen und Aufsätzen
Arbeitsmigration als kulturelle Bereicherung thematisierte (vgl. zusammenfassend
Micksch 1991). Die Rede ist, wenn die angeworbenen Arbeiter und ihre Familien gemeint
sind, von "anderen Kulturen, mit denen wir Anregungen, Impulse und geistige
Herausforderungen verbinden", von "kultureller Vielfalt" eben, von
"ständiger Kommunikation zwischen Einwanderern und Einheimischen",
und von "gegenseitiger kultureller Bereicherung" (Micksch 1991, S. 7 -
10). Der idealistisch-programmatische Charakter solcher Sätze liegt auf der
Hand. Fast schwärmerisch wird erzählt von dem verbreiteten "Wunsch
nach einem bunten Deutschland mit vielen Ausländern, weil die Erfahrung gemacht
wurde, daß andere Traditionen integriert werden können und den Alltag
lebendiger machen" (S. 11). Kulturelle Vielfalt habe seit jeher die deutsche
Geschichte bestimmt: "So vermischen sich z.B. in Bayern die unterschiedlichsten
Stämme: Kelten, Römer und Sueben. Zu den Ahnen der Bayern gehören
die Naristen und Varisten, Skiren und Slaven, Heruler und Hunnen. Sie brachten ebenso
unterschiedliche kulturelle Traditionen mit wie die in den letzten Jahrzehnten zugewanderten
Ausländer" (S. 12). Eine eigenwillige Betrachtung des Industriestandortes
Bayern und seiner "Ausländerpolitik".
Hervorgehoben wird bei der Beschreibung der Einwanderungsgesellschaft die national-ethnische
Herkunft der Zuwanderer, die zu kulturbedingten Konflikten mit den ansässigen
"Ethnien" führen werde. Zur Uberwindung der nur konfliktverschärfend
wirkenden herrschenden Fiktion einer "rassisch-ethnischen Homogenität"
Deutschlands soll nicht mehr mit der "Einheitsidee des Nationalstaates"
operiert, sondern "Einheit in Vielfalt" organisiert und "als positiver
Wert verständlich und erfahrbar" gemacht werden (S. 12). Was aber heißt
das anders, als nach der Fiktion der nationalen Homogenität nun die Konstruktion
ethnischer Heterogenität und nicht z.B. die soziale Lage, ökonomische
Interessen oder politische Uberzeugungen als gesellschaftskonstituierendes Prinzip
zu postulieren. Die den Nationalismus stützende Idee der ethnischen Bindungen
lebt im Multikulturalismus in multiplizierter Form fort. Ethnien, d.h. kulturhomogene
Gruppen, die die Ethnologie in fernen Kolonien aufgespürt hatte, oder die europäischen
"Völker ohne Staat", die eine Erfindung des 19. Jahrhunderts der
Nationalstaaten sind, werden dekontextualisiert und essenzialisiert und sollen -
ausgerechnet in den industriellen Metropolen - bewahrt und gleichberechtigt mit-
und nebeneinander leben lernen.
Es entsteht mit der Programmatik des Multikulturalismus die wiederkehrende Schwierigkeit,
die zu beobachten ist. wenn ein Denkgebäude von den Füßen auf den
Kopf gestellt werden soll: seine entscheidenden Kategorien bleiben erhalten. Man
bleibt auf dem Gleis des Nationalismus, auch wenn man die Richtung wechselt. Wenn
man sie beim Namen nennt, haben wir es mit "Volk", "Gemeinschaft
', "ethnischen Unterschieden', "primordialen Bindungen", kurz mit
einer "Kultur" zu tun, der eine Prägekraft zugeschrieben wird, die
dem biologistischen Rassismus kaum nachsteht. Erwartbar finden sich naturalisierende
Determinismen: Wie soll man die der Micksch'schen Beschreibung nachempfundene Formulierung
verstehen, die sich bei Thomas Schmid, einem weiteren Propagandisten der "multikulturellen
Gesellschaft" findet: "Denn in sämtlichen deutschen Regionen sind
die Einheimischen vorläufiges Endprudukt einer langen Kette von Vermischungen:
die Multikultur ist immer schon da, offenbar als Folge jahrhundertelanger Vererbung,
denn: "Von einer monokulturellen Reinheit der Deu'tschen kann im Traum nicht
die Rede sein . Offenbar wird "Kultur" nicht als ein ständiger Wandlung
unterliegendes Instrument der Bewältigung von wechselnden Lebenslagen verstanden,
sondern als prägendes Erbe, das bis auf die Römer und ihre Nonchalance
im Umgang mit ethnischen Differenzen zurückgeht.
Bezogen auf die atavistische Dichotomie von Assimilation und Ausstoßung, die
sich in den von der FAZ oben angedeuteten Politik-Optionen manifestiert, könnte
der Eindruck entstehen, die Kompromißformel der "multikulturellen Gescllschaft"
breche die fatale Zweiwertigkeit der Logik des Umgangs mit den andercn zugunsten
einer Drei- bzw. Mehrwertigkeit auf. Aus Xenophobie soll, wenn schon nicht Xenophilie,
dann jedenfalls ein gelassener Umgang mit dem Fremden werden. Multikulturalismus
wäre so gesehen ein zivilisicrtcr bzw. zivilisierender Versuch, einen Weg des
Umgangs mit den Anderen zu suchen, der Integration und Differenz zugleich ermöglicht.
So ist das Konzept von seinen Propagandisten gemeint. Aber: die bundesrepublikanische
Gesellschaft als multikulturelle zu beschreiben und nicht länger zum Beispiel
als "Klassengesellschaft", als "Konsumgesellschaft" oder als"postfordistische
Industriegesellschaft" hat eine Reihe von unbeabsichtigten Nehenwirkungen.
Als Folge des sich ausbreitenden Multikulturalismus kann man eine ethnische Formierung
auch der Mehrheiten durch eine Konturierung und Stilisierung von Minderheiten beobachten.
An der (Partei-)Politik und professionelle Interessen gleichermaßen beteiligt
sind. Wo an den Hinzugekommenen das "Fremde" hervorgehoben wird, liegt
es nahe, auch das "eigene' in der politischen Auseinandersetzung mit neuem
Nachdruck geltend zu machen. Das Eigene ist bei ethnischer Differenzierung nicht
mehr der Beruf, die politische Uberzeugung oder die Familie, sondern das "Deutsche",
das im Zuge der nationalen Vereinigung - wie eh und je - soziale Differenz zu überbrücken
hat. Die euphemistische Rede vom "Solidarpakt", der zur Finanzierung des
Wohlstandsgefälles zwischen Ost- und West-Deutschland nach dem Beitritt der
DDR als "nationale Aufgabe' dargestellt wird, wo es konkret um Lohnvcrzicht
sowie Steuer- und Beitragserhöhungen geht, ist ein aktuelles Beispiel der Bezugnahme
auf die Konstruktion des "Volkes" und der Instrumentierung der Politik
durch nationale Symboliken. In einer Situation. in der das "ganze Volk"
angehalten wird, "den Gürtel enger zu schnallen, liegt es auf den Stammtischen,
daß "Fremde", seien es Arbeitsmigranten, Asylbewerber oder Flüchtlinge,
nicht auch noch von den ohnehin knappen Mitteln bedient werden können. "Deutsch
sein" heißt unter den Bedingungen des modernen Wohlfahrtsstaates, den
eigenen Wohlstand verteidigen und Ansprüche anderer Gruppen zu delegitimieren
und abzuwehren. Mit der semantischen Umstellung auf "Fremde" soll dieser
Zusammenhang zumal den Armen und den Verlierern der nationalen Vereinigung einleuchtend
gemacht werden.
Die Einteilung der Zuwanderer nach "Kulturen" bzw. "Ethnien",
die im Programm des Multikulturalismus positiv hervorgehoben werden, hilft der um
die Finanzierung des Sozialstaates besorgten staatlichen Politik dazu, das trennend
Fremde an den Anderen hervorzukehren, die unter gleich miserablen Lcbensbedingungen,
aber ohne politische Rechte, am unteren Ende der sozialen Pyramide leben müssen.
Die zynische Adaption des "Multikulturalismus" durch die "neue Rechte"
(vgl. Ulbrich 1991 ) zeigt, was mit der Anerkennung der "Kulturdifferenz"
gemeint ist: die Legitimation der unverhohlenen Betonung des "Eigenen"
als ethnisch-nationalistische Wiederbesinnung, die in Deutschland so viele Jahrzehnte
tabuisiert war.
Der Einwand, ethnische Vergemeinschaftung - auf der Seite dcr Mehrheit wie der Minderheiten
- sei ein tief in der menschlichen Seele verankertes Bedürfnis, mag zutreffen
oder auch nicht. Beobachten kann man solche Bedürfnisse nur in konkreten, historischen
Konstellationen. Ethnische Identifikation oder Ausgrenzung könnten auch bloß
eine zusätzliche Ressource im ökonomischen und sozialen Wettbewerb sein.
Dafür spräche die ethnische Diskriminierung in allen wichtigen Lebensbereichen
der modernen Marktökonomie, aber auch die reaktive ethnische Organisation von
Gewerbe- und Kriminalitätszweigen in den großen Städten der Einwanderungsländer.
In jedem Fall bedarf es der besonderen sozialen Situation, damit dieses "Bedürfnis"
- wie auch andere tief verwurzelte Bedürfnisse - als Kompensation für
erlittenes Unrecht "ausgelebt", oder als Mittel der ethnischen Mobilisierung
eingesetzt werden kann. Das notwendige Milieu schafft der Nationalstaat, indem er
bei der Konstruktion seines Herkunftsmythos immer neue Ein- und Ausgrenzungskriterien
erzeugt und gesetzlich legitimiert. Ausgeschlossen wird nicht mit Notwendigkeit,
sondern nach Opportunität, die außenpolitische und wirtschaftspolitische
Interessen, oder auch die Haushaltslage des sozialen Wohlfahrtssystems vorgeben
können (vgl. Bommes/Halfmann 1994, Radtke 1995).
Die Einteilung nach "Kulturen" und "Ethnien" ist in Deutschland
eine Formierung von oben, die der administrativen und rechtspolitischen Bearbeitung
des "Ausländerproblems", aber auch indirekt dem "Fremd-Machen"
dient. Vor allem Sozialarbeiter und Lehrer haben die "Kulturen" erfunden,
mit denen sie nun zu tun haben. Dieser Formierung von oben steht nach den Brandanschlägen
auf Wohnungen vor allem von türkischen Immigranten eine spontane Mobilisierung
der Angegriffenen von unten gegenüber, die ethnisierend zusammenzwingt, was
sozial nicht zusammengehört. In einem aversiven und feindlichen sozialen Klima
bedingen und verstärken Fremd-Ethnisierung und Selbst-Ethnisierung einander.
Weil Zuwanderer in der Bundesrepublik nicht einmal das Recht haben, politische Rechte
zu haben (Hannah Arendt), sind sie daran gehindert, sich wie Gesellschaftsmitglieder
nach sozialen, politischen und ökonomischen Interessen zu differenzieren und
sich an der pluralen Kompromißbildung von Interessengegensätzen wirkungsvoll
zu beteiligen.
Der vorliegende Beitrag ist eine leicht gekürzte Fassung eines auf der Tagung
"Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte " der Friedrich-Ebert-Stiftung
(11. Okt. 1995) gehaltenen Vortrages.
Literatur
Bommes, M. /Halimann, J.: Migration und Inklusion. Spannungen zwischen Nationalstaat
und Wohlfahrsstaat, in: KZfSS 46/1994, S. 406-424.
Hahn, A.: Die soziale Konstruktion des Fremden, in: Sprondel, WM. (Hg.): Die Objektivität
der Ordnung und ihre kommunikative Konstruktion, Frankfurt am Main, 1994, S. 140-163.
Micksch, J. (Hg.): Deutschland - Einheit in kultureller Vielfalt, Frankfurt am Main
1991.
Radtke, F.-O.: Demokratische Diskriminierung. Exklusion als Bedürfnis oder
nach Bedarf, in: Mittelweg 36, 4 (1995)1, S. 32-48.
Ulbrich, S. (Hg.): Multikultopia. Gedanken zur multikulturellen Gesellschaft, Vilsbiburg
1991.
Frank-Olaf Radke, Fremde und Allzufremde. Prozesse der Ethnisierung gesellschaftlicher
Konflikte, In: Links Mai/Juni 1996
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt