Feindbild "Ausländer"
Zur Psychologie der Ausländerfeindlichkeit in unserer Gesellschaft
Von Thea Bauriedl
Die Angriffe gegen Ausländer in unserem Land haben uns erschreckt und beschämt.
Hilflos und ohnmächtig mußten wir miterleben, daß Menschen, die
sich um Hilfe an uns wenden, Angst um ihre Gesundheit und um ihr Leben haben müssen.
Wir erinnern uns an die Verfolgung der Juden und anderer Minderheiten in unserem
Land zur Zeit des "Dritten Reiches", und entsetzt bemerken wir, daß
wir dachten, daß so etwas bei uns nie wieder geschehen würde, einfach,
weil es nie wieder geschehen durfte. Warum geschieht es doch wieder?
Es gibt viele Möglichkeiten, das Wiederauftreten von Gewalt gegen "Fremde"
in unserer Zeit zu verstehen. Aus der Sicht der Politischen Psychoanalyse scheinen
mir zwei Erklärungsmöglichkeiten besonders wichtig zu sein: Die Überlegung,
daß das Wiederauftauchen von Gewalt mit unserer Geschichte und unserem Umgang
mit dieser Geschichte zu tun hat, und die Überlegung, daß wir uns derzeit
in einer Phase der Verunsicherung befinden, die das Entstehen von Feindbildern und
Feindseligkeiten begünstigt.
Über die mangelhafte Bewältigung unserer nationalsozialistischen Vergangenheit
wurde schon viel gesprochen und geschrieben. Einerseits wird mit dieser Vergangenheit
so umgegangen, als wäre sie ein "ewiger Fluch", der die Deutschen
in alle Ewigkeit belasten muß, andererseits wird das damalige Geschehen verharmlost
oder verleugnet, ja sogar als eine besonders großartige Zeit der Deutschen
verherrlicht. In beiden Fällen wird die Chance nicht genutzt, aus dieser Vergangenheit
zu lernen und die tradierten Gewaltphantasien genau zu sehen, um sie zu verändern.
Aus der Vergangenheit zu lernen, würde bedeuten, miteinander üher das
damalige Geschehen zu sprechen und dabei die Gefühle des Erschreckens und der
Trauer nicht auszusparen. Für die Nachkommen einer Generation, die sich aktiv
oder passiv schuldig gemacht hat, ist es wichtig, zu begreifen, wie ihre Eltern
und GroReltern schuldig wurden. Es genügt nicht, den Kindern mitzuteiien, daß
damals "ganz böse Menschen" an der Macht waren, gegen die "man"
nichts unternehmen konnte. Diese Behauptung ist Teil einer Verharmlosung, weil die
damalige Gewalt eben nicht von Menschen mit Bocksfüßen und Hörnern
ausging, sondern von "ganz normalen" Menschen, die sich von einem kollektiven
Wahn anstecken ließen und sich schweigend oder triumphierend, oft auch "nur"
in Erfüllung ihrer (bürokratischen) "Pflichten", an der Entwertung,
Verfolgung und Vernichtung von "fremden" oder "minderwertigen"
Menschen beteiligten.
Gegenwärtig werden wieder Ausländer unter den Parolen und Insignien der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft angegriffen. Das Wiederauftreten dieser
Bilder macht deutlich, daß Gewaltphantasien von einer Generation an die nächste
und übernächste weitergegeben werden, wenn die Eltern und Großeltern
ihre Schuld nicht betrauern und den Kindern gegenüber nicht bedauern. Die Sprachlosigkeit,
die zwischen der Generation der damals Erwachsenen und ihren Kindern und Kindeskindern
herrschte und herrscht, ist ausschlaggebend für die Wiederkehr der Gewalt in
den nachfolgenden Generationen. Soweit die Eltern und Großeltern nicht betrauert
haben, was sie selbst aktiv taten und passiv geschehen ließen, wiederholen
die Kinder und Enkel die unveränderten "inneren Szenen" ihrer Eltern
und Großeltern.
Diese ,inneren Szenen" bestehen z.B. aus Vorstellungen darüber, wie "man
mit Unsicherheits- und Minderwertigkeitsgefühlen oder auch mit fremden Menschen
umgeht. Sie werden von einer Generation zur nächsten übertragen, auch
und gerade wenn die Jugendlichen in manifester Opposition gegen ihre Eltern scheinbar
das Gegenteil von deren Ansichten und Einstellungen leben. In der protestierenden
Verneinung ist immer das Verneinte mit enthalten. Gerade dann wenn Kinder glauben,
das Gegenteil von dem zu tun, was ihre Eltern taten, sind die von ihnen gelebten
Szenen denen der Eltern, und vor allem der Großeltern, oft erstaunlich ähnlich.
Auf diese Weise werden die "privaten" Gewaltszenen in Familien von einer
Generation zur nächsten ebenso weitergegeben wie auch politische Gewaltphantasien.
Wenn die Eltern nicht zu ihrer Schuld standen, können die Kinder glauben: "Es
war doch nichts", oder: "Eigentlich war alles doch ganz gut". Durch
diese Behauptung tragen die Kinder zur "Entschuldung" der Eltern bei,
geraten aber auf demselben Weg in die (unbewußte) Wiederholung der Szenen,
über die ihnen die Eltern manifest nichts oder nur sie selbst Entlastendes
mitgeteilt haben.
Mauern der Feindseligkeit
Der zweite Aspekt, unter dem das Auftreten von Feindseligkeit und Gewaltphantasien
gegen Ausländer zu verstehen ist, ist die aktuelle Situation, in der sich unsere
Gesellschaft befindet. Gewalt beruht immer auf Feindbildern. Und Feindbilder sind
Ausdruck von Angst und Unsicherheit. In letzter Zeit sind viele Grenzen durchlässiger
geworden oder ganz verschwunden. Viele Systeme sind zerfallen, die Sicherheit und
Orientierung gaben, wenn sie auch zum Teil mit großen Einschränkungen
verbunden waren. An Stelle der alten Mauern werden nun von vielen Menschen neue
Mauern der Feindseligkeit errichtet, die es ihnen ermöglichen, sich wieder
zu orientieren, wieder zu "wissen", wo die "Guten" und wo die
"Bösen" sind, und daß sie selbst zu den "Guten' gehören.
Die Auflösung der Grenzen und das damit verbundene "Hereinbrechen"
von "fremden" Menschen aus Ostdeutschland in Westdeutschland und umgekehrt
machen nicht nur einzelnen Angst. Diese Vorgänge bewirken auch eine kollektive
Verunsicherung, die sich in den "Symptomträgern der Gesellschaft"
zeigt. Die materielle und psychische Verunsicherung geben sie an andere, an Schwächere
weiter. So können sie sich wieder "stark" und "sicher"
fühlen - auf Kosten derer, die noch schwächer und bedrohter sind als sie
selbst. "Symptomträger" sind sie insofern, als sie die allgemeine
Verunsicherung aufnehmen und unter der Parole "Recht und Ordnung" die
"Unordnung" (die Labilität und Orientierungslosigkeit in der eigenen
Psyche und in unserer Gesellschaft) bekämpfen. Nicht wenige Sympathisanten
ließen und lassen sich so von jugendlichen Aktivisten vertreten.
Die alten Feindbilder werden nicht nur bei radikalen Jugendlichen durch neue ersetzt.
Anstelle der "Kommunisten" als Dauerfeinde treten für viele "Rechte"
jetzt die "Ausländer", während manche "Linke" ihr
bisheriges Feindbild "Kapitalisten" jetzt auf einen neuen Schwerpunkt,
auf das neue Feindbild "Rechtsradikale" verschoben haben. So werden jeweils
die eigenen Ängste und Begehrlichkeiten bei einer pauschal verurteilten Gruppe
bekämpit.
Auch zwischen "Wessis" und "Ossis" werden Feindbilder gepflegt
- als wären West- und Ostdeutsche durch den Wegfall der Mauer füreinander
zu bedrohlichen "Ausländern" geworden. Im Westen gelten die "Ossis"
als unerfahren, wenn nicht gar als dumm, als anspruchsvoll, mit einem "furchtbaren",
als "undeutsch" erlebten Dialekt behaftet, und vor allem ganz generell
als "inoffizielle Mitarbeiter" des Ministeriums für Staatssicherheit.
Das korrespondierende Feindbild der "Ossis" gegenüber den "Wessis"
ist nicht weniger pauschal: Sie gelten als die imperialistischen Raubritter, die
jetzt nichts anderes im Sinn haben, als von der ehemaligen DDR und womöglich
von ganz Osteuropa Besitz zu ergreifen.
Ich will nicht bestreiten, daß manche dieser FeindLilder durchaus realistische
Bilder einzelner oder auch vieler Menschen der jeweiligen Seite sind. Davon abgesehen
halte ich es aber für wichtig, zu erkennen, daß diese Feindbilder die
Funktion haben, jeweils die eigenen Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle durch
Beschuldigung und Entwertung der anderen Seite loszuwerden. Wer laut über die
andere Seite schimpft, scheint selbst "ganz in Ordnung" zu sein. Die eigene
Habgier und Unsicherheit wird nun bei den jeweils anderen gesehen. Die eigenen Schuldgefühle
wegen der Beteiligung an der Menschenverachtung eines totalitären Regimes (im
Nationalsozialismus und in der früheren DDR) werden rückwirkend als "Berührungsverbot"
zwischen Ost und West ausbalanciert. Alleine schon der "Kontakt" mit den
Institutionen des jetzt als "böse" entlarvten - weil unterlegenen
- SED-Regimes genügt, um nachträglich an den Pranger gestellt zu werden.
Wie dieser Kontakt war, interessiert dabei wenig. Dies scheint mir ein Indiz dafür
zu sein, daß es bei der derzeitigen Diskussion um die Stasi-Akten zu einem
großen Teil weniger um Vergangenheitsbewältigung im Sinne des Lernens
aus der Vergangenheit geht als um die Folgen einer psychischen Destabilisierung,
die im Zuge der Umgestaltung der "Feindbildgrenzen" sehr viele Menschen
in unserer Gesellschaft erfaßt hat.
Begriff und Entwicklung von Feindbildern
Ich muß hier den Begriff "Feindbild" erläutern, wie ich ihn
verstehe. Für mein Verständnis ist ein Feindbild nicht einfach eine (Selbst-)täuschung,
in dem Sinn, daß der, den ich für einen Feind halte, gar nicht wirklich
mein Feind wäre. Häufig wird der Begriff Feindbild in dieser Weise mißverstanden
und dadurch auch wertlos gemacht. Ich meine, daß man mit Hilfe dieses Begriffes
das Verhalten von der inneren Einstellung unterscheiden könnte. Feinde sind
Menschen, die auf irgendeine Weise gegeneinander kämpfen - das wäre eine
Beschreibung des Verhaltens. Ein Feindbild ist dagegen ein inneres Bild vom anderen,
es beschreibt eine Beziehungsform, die nach meinem Verständnis vor allem durch
Sprachlosigkeit und Resignation gekennzeichnet ist.
Auch die Gleichsetzung des Begriffes Feindbild mit dem Begriff Vorurteil sagt aus
meiner Sicht noch zu wenig darüber aus, wozu wir als einzelne und im Kollektiv
Feindbilder brauchen. Aus meiner Sicht sind Feindbilder Vorstellungen, die wir einerseits
brauchen, um uns gegen unsere Angst und Unsicherheit zu schützen. Andererseits
können wir andere Menschen nicht bekämpfen und schädigen, wenn wir
sie nicht zuvor in uns entwertet haben, wenn wir nicht zuvor ein Feindbild entwickelt
haben. Wesentlich in einer "Feindbildbeziehung" sind der Kontaktabbruch
zum entwerteten "Feind" und die Sprachlosigkeit in dieser Beziehung.
Die Entwicklung von Feindbildern ist zunächst einmal ein sehr "natürlicher"
Vorgang, den man auch wertfrei betrachten kann. Wir Menschen haben die Möglichkeit,
im Zustand der Verunsicherung unser psychisches Gleichgewicht wieder herzustellen,
indem wir nach der Ursache dieser Verunsicherung fragen. Wir versuchen herauszufinden,
wer uns bedroht. Das ist ein sehr nützlicher Mechanismus, ohne den wir wohl
nicht überleben könnten. Problematisch und für den einzelnen Menschen
wie auch für die menschliche Gemeinschaft schädigend wird dieser Mechanismus
dann, wenn nicht die wirkliche Ursache der Angst gesucht und gefunden wird, sondern
ein "Sündenbock", ein Feind, der an unserer inneren Misere schuld
sein soll, damit wir uns nicht mit dieser unserer eigenen inneren Misere befassen
müssen. Dieser Vorgang, daß nicht die eigene Unsicherheit, sondern die
Bösartigkeit anderer Menschen als Ursache des Bedrohtheitsgefühles ausgemacht
werden, ist mehr oder weniger an allen privaten und öffentlichen Beziehungen
beteiligt.
Da die Entwicklung eines Feindbildes - im Sinne der auf einen Sündenbock verschobenen
Ursache von Verunsicherung - zumeist unbewußt geschieht und dem Schutz bzw.
der Verdrängung der eigenen Gefühle dient, ist es oft schwer, diese Verschiebung
aufzudecken und rückgängig zu machen. Die Sündenbockphantasie wird
als Schutz gegen die Wahrnehmung der eigenen Unsicherheit und Angst benötigt.
Wenn man diese Phantasie in Frage stellt, wird man schnell verdächtigt, Täter
und Opfer zu vertauschen, oder beide nicht mehr genügend zu unterscheiden.
Es entsteht dann oft die Befürchtung oder Vermutung, man wolle den Opfern die
Schuld für ihr Leiden selbst zuschieben. Diese Befürchtung entsteht häufig
bei Menschen, die ihre eigene psychische Stabilität weitgehend dadurch aufrechterhalten,
daß sie andere Menschen grundsätzlich entweder als "Freunde"
(=Gleichgesinnte), oder als "Feinde" (=Andersdenkende) einordnen. Sie
können sich kaum ein anderes Schema vorstellen als dieses: Wenn der andere
nicht schuld ist, dann ist der eine schuld; wer nicht mein Freund ist, ist mein
Feind; wenn zwei sich streiten, ist der eine "böse" und der andere
"gut". Eine dritte, eine eigene Position in einem Konflikt gibt es aus
dieser Sicht nicht. Es darf sie nicht geben, weil sonst die Sicherheit der Orientierung
nach "guten" und "bösen" Menschen verloren ginge.
Die Orientierung nach Schuldigen (im Sinne von "Bösen") und Unschuldigen
(im Sinne von "Guten") wird uns schon als Kindern so sehr eingeprägt,
daß wir sie nur sehr schwer aufgeben können. Sie ist für die meisten
von uns zum "Geländer" geworden, an dem wir uns festhalten, sobald
wir uns unsicher oder bedroht fühlen. Die meisten Menschen haben nur sehr selten
in ihrem Leben die Erfahrung gemacht, daß Beziehungen dadurch verbessert werden
können, daß in einem Streit ein Dritter mit beiden Parteien einen ernsthaften
und beide Seiten ernstnehmenden Kontakt aufnimmt, anstatt vorsorglich den "Bösen"
zu benennen und ihn zusammen mit dem "Guten" zu bekämpfen.
Sobald wir als Dritte auf die Orientierung nach "guten" und "bösen''
Menschen verzichten, können wir voneinander getrennte Menschen sehen. Wir suchen
nicht mehr herauszufinden, inwiefern ein Mensch am Verhalten des anderen "schuld"
ist, nach dem Muster "er kann ja nicht anderes handeln, weil sie ... oder umgekehrt".
Jeder und jede einzelne ist aus dieser Perspektive dafür verantwortlich, was
er/sie tut und was er/sie unterläßt - auch wenn, und gerade weil sein/ihr
Verhalten vor dem Hintergrund seiner/ihrer Geschichte und seiner/ihrer emotionalen
Situation verstehbar ist. Verstehen heißt in diesem Denken nicht entschuldigen:
Es geht vielmehr darum, daß die Verantwortung für das eigene Verhalten
nicht mehr dem "Feind" oder auch dem Opfer zugeschoben wird, wie es häufig
geschieht. Wir haben dann eine Szene vor uns, in der die Gefühlswelt von beiden
Partnern oder Gruppierungen enthalten ist. Das macht es möglich, zu beiden
Seiten einen interessierten und eindeutigen Kontakt aufzunehmen, was sehr zur Entspannung
der Szene beitragen kann. Allerdings besteht die Gefahr, daß man selbst als
Dritter, der nicht Partei ergreift, wegen dieser Haltung von mindestens einer Seite
als Feind angesehen wird.
Um die Schwierigkeit der Auflösung von Feindbildern verständlich zu machen,
muß ich noch auf die zweite Funktion von Feindbildern aufmerksam machen: Feindbilder
dienen nicht nur zur "Bewältigung" eigener Unsicherheit, sondern
auch dazu, daß wir Gewalt gegen andere Menschen überhaupt anwenden können.
Wir können nicht "zuschlagen", ohne vorher den Gegner entwertet und
für "böse" erklärt zu haben. Feindbilder dienen also auch
dazu, das, was uns ängstigt oder die, die uns ängstigen, bekämpfen
und schädigen zu können. Auch diese Funktion ist zunächst einmal
grundsätzlich sinnvoll, wenn es darum geht, aggressive Gefühle zu entwickeln
um sich zu wehren. Problematisch wird der Vorgang, wenn Feindbilder dazu dienen,
um anderen ihr Hab und Gut, ihre Freiheit oder das Leben nehmen zu können.
Das Feindbild "Juden" im "Dritten Reich" hatte deutlich beide
Funktionen: Es diente den Deutschen zur Aufwertung der eigenen "Rasse"
und damit zur Verdrängung der eigenen Minderwertigkeitsgefühle. Und es
diente dazu, sich ungehemmt den Besitz der Juden anzueignen, sie verfolgen und vernichten
zu können.
Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, daß die Auflösung von Feindbildern
prinzipiell nur möglich ist, wenn man sich mit der Psychodynamik beider Seiten
beschäftigt. Ich muß mich also mit den Ängsten und Leiden der Opfer
ebenso beschäftigen wie mit den Ängsten der Täter und mit der Art,
wie die Täter ihre Ängste in Gewalt verwandeln. Und ich muß versuchen,
auch die Täter als einen Teil unserer Gesellschaft, ihre Taten als ein "Symptom"
von uns allen zu verstehen. Es genügt nicht, die Gewalt in Sonntagsreden zu
diskriminieren, um sich selbst und anderen zu beweisen, daß man nichts mit
ihr zu tun hat. Öffentliche Empörung und heimliche Sympathie gehören
zusammen; beides vermeidet die kritische Auseinandersetzung mit einem Symptom unserer
Gesellschaft, das nicht nur die Ausländer in unserem Land betrifft. Die bloße
Verurteilung der Täter und ein implizites Verbot, sie zu "berühren"
würde die Gewalt nur fortsetzen und womöglich verstärken.
Feindbild "Ausländer"
Betrachtet man nun das Feindbild "Ausländer" aus der Nähe, so
kann man deutlich sehen, daß dieses Feindbild einerseits dazu dient, die eigene
Angst vor (psychischer) Destabilisierung abzuwehren, und andererseits die Funktion
hat, nicht teilen zu müssen mit denen, die weniger haben. Es fällt auf,
daß von bestimmten Gruppen in unserem Land nur schwache und hilfsbedürftige
Auslander als Feinde angesehen werden. Amerikaner oder Japaner fallen nicht unter
die "feindlichen Ausländer. Das zeigt, daß dieses Feindbild dazu
dient, sich mit den Starken gegen die Schwachen, und das heißt auch gegen
die Schwache und Hilfsbedürftigkeit in der eigenen Person, zu verbiinden. Die
ideologischen Begründungen halte ich für sekundär, den gewalttatigen
Kampf gegen Wertlosigkeit, Orientierungslosigkeit, Schwäche und Gier in der
eigenen Person und in der Gesellschaft halte ich für primär.
Diese Überlegung hilft uns zu verstehen, weshalb häufig gerade in der
Kindheit sehr zaghafte und verschreckt-angepaßte Menschen als Tugendliche
in einen "Gewaltrausch" verfallen, aus dem sie nur schwer wieder herausfinden.
Ich halte die Problematik und auch die Schwierigkeit, mit diesen Jugendlichen umzugehen,
für vergleichbar mit den Problemen des Umgangs mit Süchtigen, die - je
nachdem, wie weit man die Sucht definieren will - fast kennzeichnend für unsere
Gesellschaft geworden sind. Die Gewalttätigkeit ist für viele Jugendliche
zum Suchtmittel geworden, das ihnen - wie andere Suchtmittel auch - hilft, die Gefühle
der Wertlosigkeit und die Ängste vor Abhängigkeit zu betäuben. Der
Suchtcharakter wird auch darin deutlich, daß das Suchtmittel immer wieder
und vielleicht in erhöhten Dosen "eingenommen" werden muß.
Ich halte es für sinnvoll, diese Suchtkranken als ein Symptom unserer Gesellschaft
anzusehen und zu untersuchen, wie die zum Teil nicht erkannte und nicht als solche
bezeichnete Sucht der sogenannten Gesunden in diesem System zur Sucht der "Kranken"
gehört. Ganz allgemein wird in unserer Gesellschaft der Schwache und das Schwache
diffamiert. Alkohol- und Nikotinabhängigkeit gelten solange als "hoffähig",
wie die Abhängigen nicht zu den Randgruppen der Gesellschaft gehören.
Die Drogen der Randgruppen, der Schwachen und Hilflosen sind kriminalisiert.
Die "Jagd auf Ausländer" war im Jahr 1991 unter Jugendlichen, die
sich im "neuen Deutschland" nicht mehr zurechtfanden, zeitweise zur "Mode"
geworden. zum Teil begünstigt durch Äußerungen von Politikern, die
die "Gefahr aus dem Osten" oder auch die "Uberschwemmung" durch
Nicht-Deutsche zum Zweck der eigenen Profilierung beschworen, aber auch durch die
Medien, die wirtschaftlich vom Verkauf von "Sensationen" abhängig
sind, von der Produktion von Gefühlen bei den Konsumenten, gleichgültig
ob diese Gefühle zum "Aufschaukeln" feindseliger Beziehungen beitragen
- wenn nur die Einschaltquoten und die Absatzzahlen stimmen. Politiker und Medien
haben so teilweise den Suchtigen den "Stoff" geliefert, den diese bereitwillig
"konsumierten".
Eine Sucht ist immer auch Ausdruck einer latenten Existenzangst. Es genügt
deshalb nicht, das Suchtverhalten zu diffamieren und zu bekämpfen; man muß
mit den individuellen und mit den kollektiven Existenzängsten umgehen, das
Symptom als Hinweis auf eine darunterliegende Angst verstehen. Nicht nur die gewalttätigen
Jugendlichen haben in dieser Umbruchszeit besonders große Angst vor dem eigenen
"Hunger" und deshalb auch Angst vor dem Hunger derjenigen, die aus Hunger
im weitesten Sinn zu uns kommen. Wir alle glauben, der Hunger in unserem Volk sei
endgültig besiegt, er habe sich "hinter die Mauern im Süden und Osten"
zurückgezogen und könnte dort gehalten werden. Nun ist die Mauer gegen
Osten als Schutzwall gegen Armut, Hunger und Erfolglosigkeit verschwunden. Es droht
die Gefahr, etwas hergeben zu müssen, was von Menschen, die sich durch ihren
Besitz definieren - und das tun die meisten von uns - als existentielle Bedrohung
erlebt wird. Unser ganzer (übermäßiger) Wohlstand, Wohnung, Arbeit
und Essen, scheinen plötzlich in Gefahr zu sein. Da wir von diesem Wohlstand
abhängig sind wie von einer Droge, fühlen wir uns, mehr oder weniger,
von Entzugserscheinungen bedroht.
In Deutschland hat auch die Angst vor der Wertlosigkeit eine lange Tradition. Seit
vielen Generationen schwanken wir zwischen Minderwertigkeits- und Größenphantasien
hin und her. Unsere unsichere Identität ist eine Grundlage unserer Ängste
vor "Uberfremdung" und vor Infragestellung unserer "absoluten Richtigkeit"
durch Menschen aus anderen Kulturen. Gleichzeitig leben wir in einer ständig
mehr oder weniger verdrängten Katastrophenangst wegen der zunehmenden Zerstörung
unserer Umwelt, einer Angst, die anscheinend uns Deutschen näher liegt als
manchen anderen Völkern. Da aber diese Angst zum größten Teil nicht
in lebenserhaltende Aktivitäten umgesetzt wird, sondern dauernd verdrängt
wird, verwandelt sie sich in permanente (unbewußte) Schuldgefühle, die
mit Hilfe der unterschiedlichsten psychischen Mechanismen in Schach gehalten werden.
Einer dieser Abwehrmechanismen resultiert in einem alle Aktivitäten ständig
begleitenden Bedrohtheitsgefühl und der fast automatisch dazu gehörenden
Straferwartung. Diese Straferwartung ist leider immer noch ein wichtiges Element
unserer Kindererziehung. Wir erziehen unsere Kinder zu einem großen Teil in
der Vorstellung, daß Schuld durch Strafen ausgeglichen werden kann und muß.
Eine Versöhnung durch Trauerarbeit und Wiedergutmachung kommt meistens nicht
in Frage. So bedroht uns in unserer Phantasie auch das, was wir getan haben: Wir
haben Waffen hergestellt und geliefert, die zur Unterdrückung Andersdenkender
in den Ländern der Dritten Welt dienen. Dadurch haben wir selbst zur Entstehung
der Flüchtlingsströme beigetragen. Wir haben durch unser Wirtschaftssystem
die ökonomischen und ökologischen Lebensgrundlagen in diesen Ländern
geschädigt und teilweise vernichtet. Das alles ist reale Schuld, die wir auf
uns geladen haben und ständig noch weiter auf uns laden.
Anstatt aber nun diese Schäden wiedergutzumachen - so gut es geht - und die
Zerstörung nicht weiter fortzusetzen, fürchten wir uns vor den Folgen
unseres Tuns. Wir fürchten in unserer (zum großen Teil unbewußten)
Phantasie die "Rache der Heuschrecken", die über uns herfallen könnten,
wie wir seit der Kolonialzeit über sie hergefallen sind und ihre Kulturen zerstört
haben. Der zunehmende Antiislamismus scheint hier eine wichtige Wurzel zu haben.
Angst und Schuldgefühle, die nicht zu einer echten Wiedergutmachung oder zu
konsequenter Verhaltensänderung führen, haben Ohnmachtsgefühle zur
Folge: die gelähmte und lähmende Erwartung von Strafe. Um wieder "flott"
zu werden, werden diese Ohnmachtsgefühle durch die Projektion von "Bösartigkeit"
auf andere und im Kampf gegen diese anderen bekämpft.
Voraussetzungen für Veränderung
Was ist zu tun? Das psychodynamische und soziodynamische Verständnis gesellschaftlicher
Entwicklungen allein bringt noch keine Veränderung, aber es ist die unabdingbare
Voraussetzung für wirkliche Veränderungen. Ohne dieses Verständnis
bleiben die Reaktionen auf Gewalttätigkeiten in der Offentlichkeit oft auf
eine stillschweigende oder laut tönende Distanzierung beschränkt. Die
oft demonstrativ zur Schau getragene Ausländerfreundlichkeit mancher linker
Kreise ist zwar ein wichtiges (Gegen-)Signal; es besteht aber die Gefahr, daß
dieses Signal im Sinne eines grundsätzlichen Veränderungsprozesses unwirksam
bleibt, weil es sich weniger auf die schwierige Umbruchssituation und die damit
verbundene Zunahme von Ausländern in unserem Land bezieht als auf "die
Feinde rechts", denen "wieder einmal deutlich die Meinung gesagt werden
muß". Die gewalttätigen Angriffe sogenannter autonomer Gruppen auf
rechtsradikale Demonstrationen sind der äußere Ausdruck einer symmetrischen
Radikalisierung, die durch ein undifferenziertes Verständnis und einen ebensolchen
Umgang mit den kollektiven Ängsten gefördert wird.
Aus der Sicht der Politischen Psychoanalyse wird in zwischenmenschlichen Konfliktfeldern
zumeist die Angst übergangen, und zwar die Angst der Opfer ebenso wie die Angst
der Täter. Man fürchtet, nicht mehr handlungsfähig zu sein, wenn
man die Angst sieht und berücksichtigt - nicht zuletzt die eigene Angst. Im
politischen wie im privaten Raum gelten dielenigen Menschen und ihre Verhaltensweisen
als "stark", die sich durch eigene Ängste und Unsicherheiten nicht
"stören" lassen. Wer sagen kann, was richtig und was falsch ist,
allgemein und "objektiv", gilt als sicher. Wer, wie ein(e) verantwortungsbewußte(r)
Psychoanalytiker(in), die Verantwortung nur jeweils an die Personen zurückgeben
kann, denen sie "gehört", scheint unsicher oder auch "schwach
zu sein.
Und doch ist das Verständnis für das Konfliktfeld und die in ihm enthaltenen
Ängste und Wünsche eine Möglichkeit, nicht an der (psychischen) Realität
vorbei, sondern aus ihr heraus zu handeln. Wenn man die Tendenz zur ideologischen
(Selbst-)Vergewaltigung in unserer Gesellschaft sieht, kann man nicht einen allgemein
"richtigen" Umgang, z. B. mit dem Ausländerproblem, fordern und den
"falschen" Umgang mit diesem Problem diffamieren. Aufklärung im Sinne
der Psychoanalyse versucht, die persönliche Verantwortung jedes einzelnen zu
erkennen und ihm zu helfen, sich selbst in dem Konflikt zu verstehen und herauszufinden,
was er angesichts der Probleme und Widerstände in dem Konfliktfeld tun will
- eventuell auch, was er verantworten will, nicht getan zu haben.
Es gibt viele Möglichkeiten, Verdrängung und Zerstörung nicht fortzusetzen.
Es gibt z.B. die Möglichkeit, gegen die weitere Herstellung von Waffen und
gegen deren Export zu protestieren, oder, ein anderes Beispiel, gegen die Unterstützung
der türkischen Regierung, von der die Kurden unterdrückt und verfolgt
werden, oder ganz allgemein gegen die Unterstützung von Regimen, die "Entwicklungshilfe"
zur Unterdrückung von Minderheiten, von Armen und Schwachen in ihren Ländern
verwenden. Die Beispiele könnten fortgesetzt werden.
Genaues Hinsehen
Es geht aber auch um den Umgang mit den "Ausländerfeinden". Benutzen
wir sie nur als willkommene Feinde im Rahmen der allgemeinen Restauration von Feindbildern?
Oder sehen wir genau hin, um zu erkennen, was sie als Symptomträger unserer
Gesellschaft ausdrücken? Wir könnten unsere eigene Beteiligung an diesem
"Symptom" sehen: Haben wir uns bemüht, nach der Auflösung der
Ost-West-Spaltung eine neue Orientierung zu finden und zu vermitteln, die über
die Orientierung am größtmöglichen Gewinn und am Erhalt von Macht
und Besitz hinausgeht? Haben wir uns bemüht, Menschlichkeit - zum Glück
immer noch ein Begriff mit positiver Bedeutung - als Alternative anstelle von Feindbildern,
Gier und Gewalt zu setzen? Was geschieht an unseren Gerichten? Dient die "Verurteilung"
der "rechtsradikalen" Jugendlichen der Aufklärung in unserer Gesellschaft,
oder der "Reinigung" dieser Gesellschaft von dem "Bösen"?
Ich glaube, daß wir in dem Maß, in dem wir uns um das Verständnis
der psychodynamischen und soziodynamischen Grundlagen der Gewalt in unserer Gesellschaft
bemühen und uns handelnd unserer je persönlichen Verantwortung stellen,
nicht unwesentlich zur Entwicklung einer menschlicheren Gesellschaft beitragen können,
einer Gesellschaft, die Fremde und Minderheiten nicht ausgrenzt, sondern als Gäste
bzw. als wichtigen Teil der Gesellschaft behandelt. Das Gebot der Gastfreundschaft,
wie es in vielen traditionellen Kulturen verankert ist, sichert jedem Schwachen
und Verstoßenen Schutz und Hilfe zu. Es enthält das Wissen, daß
jeder Mensch hilflos, ausgeliefert, behindert, krank und fremd werden kann. Gerade
die christliche Religion predigt die Nächstenliebe als oberstes Gebot - doch
es scheint oft, als hielten sich die sogenannten christlichen Staaten und Gesellschaften
am wenigsten daran.
Die Befolgung dieses Gebotes wäre gleichbedeutend mit der Aufhebung der Freund-Feind-Spaltung.
Wir würden nicht mehr fragen, ob jemand "gut" oder "böse",
"richtig" oder "falsch", "zu uns gehörig" oder
"fremd" ist. Wir würden danach fragen, was ihn zu uns treibt und
wie es ihm geht. Wir würden nicht nur die Gesunden, die Tungen, die gut Ausgebildeten
oder die "Deutschstämmigen" (!) aufnehmen wollen und solche, die
bereit sind, "niedere" Arbeiten bei uns zu verrichten. Gerade diejenigen,
die aus Armut und Elend kommen, würden wir versorgen wollen, sei es in ihrer
Heimat, sei es hier bei uns.
Das genaue Hinsehen würde aber auch bedeuten, daß wir uns mit den Versuchen
mancher Ausländer auseinandersetzen, durch falsche Namensangaben mehrfach Sozialhilfe
zu beziehen. Auch die Kriminalität unter den Ausländern wäre auf
ihre Ursachen hin zu untersuchen, so daß man ihr sinnvoll begegnen kann. "Nächstenliebe"
braucht nicht blind zu sein, sie braucht nicht die eigenen Interessen zu vergessen.
Die (politische) Kunst des Umgangs mit den in der nächsten Zeit wohl immer
deutlicher auf uns zukommenden Problemen besteht darin, weder die Bedürftigkeit
der Flüchtlinge noch die eigene (begrenzte) Kapazität für ihre Aufnahme
aus dem Auge zu verlieren. Dazu sind "Gespräche an der Grenze" nötig,
im direkten und im übertragenen Sinn. Nur durch Kontaktaufnahme und konstruktive
Auseinandersetzung können diese Probleme bewältigt werden. "Die"
Ausländer sind weder schlecht noch gut; es geht darum, die Qualität der
Beziehung zu ihnen zu beachten und zu pflegen. Das ist der erste Schritt auf dem
Weg zur Integration.
Niemand ändert sein Verhalten, wenn er nicht Vorteile in dieser Verhaltensänderung
für sich erkennen kann. Abgesehen von den Vorteilen bei der (politischen) Problembewältigung
durch aktive Auseinandersetzung mit den Ausländern und mit deren "Feinden"
in unserem Land, möchte ich deshalb noch auf einen grundsätzlichen Vorteil
einer veränderten Einstellung zum Fremden und zu den Fremden hinweisen. Ich
sprach zu Beginn von der unsicheren Identität und von dem "ewigen Fluch",
der in unserer Gesellschaft scheinbar unauflösbar von Generation zu Generation
weitergegeben wird. Ich möchte zu Bedenken geben, ob nicht jeder und jede einzelne
von uns, wie auch unsere Gesellschaft insgesamt, gerade im Umgang mit den neuen
Flüchtlingsströmen eine Chance hat, aus der Tradition der nationalsozialistischen
Größenphantasien und Gewalttaten herauszutreten, indem wir uns unserer
Geschichte stellen und sie aktiv verändern.
aus: Namo Aziz, Fremd in einem kalten Land. Ausländer in Deutschland
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt