Judenvernichtung - was wußten die Deutschen davon?
Die Existenz von Konzentrationslagern, in die politische Gegner, aber auch Kriminelle
und "Asoziale", im Kriege dann Schwarzhändler und Schwarzhörer
kurzum alle dem NS-Regime Mißliebigen gesteckt wurden, war im Volk durchaus
bekannt. Arbeitskommandos von KZ-Häftlingen wurden auch außerhalb der
Lager eingesetzt und traten somit in der Öffentlichkeit auf.
Die Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Volksgemeinschaft wurde von den Nationalsozialisten
nicht nur propagiert, sondern durch BoykottmaBnahmen (1933) und den Pogrom der "Reichskristallnacht"
(8./9. November 1938) auch denjenigen handgreiflich gemacht, die die vorangegangenen
Gesetze und Verordnungen gegen die Juden nicht zur Kenntnis genommen hatten. Hitlers
Reden wurden durch den Rundfunk verbreitet auch die vom 30. Januar 1939. in der
er die Vernichtung der Juden in Europa ankündigte. Sie begann alsbald nach
Kriegsbeginn in Polen durch die Exekutionskommandos der Einsatzgruppen. Das blieb
auch vielen Offizieren und Soldaten der Wehrmacht nicht verborgen und wurde unter
Kameraden und beim Heimaturlaub weiter kolportiert. Der Judenmord in den Ostgebieten
wurde von der NS-Führung als Notwehr gegen die angebliche "jüdische
Weltverschwörung" dargestellt. Man hatte aber offensichtlich doch ein
schlechtes Gewissen dem eigenen Volk gegenüber. als man 1940/41 damit begann.
auch die in Deutschland lebenden Juden zu deportieren und zu liquidieren. Die Deportation
wurde als "Umsiedlung
<< die Tötung als ~,Sonderbehandlung" getarnt
und über alle derartigen Aktionen der Mantel der strikten
Geheimhaltung gehangt (siehe "Sonderbehandlung<~). Trotzdem gab es
zahlreiche Zivilisten (Verwaltungsbeamte. Eisenbahner und andere
Personen, die mit den Deportationen zu tun hatten), die wußten oder
zumindest ahnten, daß es sich bei den umfangreichen Judentransporten
quer durch Europa nicht um Aktionen der Umsiedlung und des
Arbeitseinsatzes handelte. Ab 1941 gingen vielfach Gerüchte über die
Vergasung von Juden um, und wer sich bemühte, konnte auch genauere
Informationen darüber bekommen. Was in Auschwitz geschah, war nicht
nur in den naheliegenden Städten Kattowitz und Gleiwitz bekannt. Aber
gerade unter der Beamtenschaft war bis in höchste Kreise die Tendenz
zum Nicht-wissen-Wollen und zum Verdrängen des Unangenehmen besonders
groß. Man hatte Angst vor Himmler und der Gestapo. Die in Deutschland
traditionelle autoritäre Disposition ließ Proteste gegen Aktionen der
Staatsgewalt kaum aufkommen auch nicht von kirchlicher Seite.
Die große Masse des deutschen Volkes kümmerte sich nicht mehr um
das Schicksal der Juden, nachdem diese aus der Gesellschaft verdrängt waren.
Die Kriegsereignisse verdrängten die "Judenfrage" aus dem allgemeinen
Bewußtsein, trotz fortwährender antisemitischer Propaganda. Hitler wiederholte
seine Prophezeiung vom 30. Januar 1939 mehrmals, und Goebbels schrieb in seiner
weitverbreiteten Wochenzeitung "Das Reich" am 14. Juni 1942 offen von
der Vernichtung der Juden. Im Volk blieb allenfalls ein dumpfes Gefühl des
Unrechts lebendig, das sich mit zunehmender Härte des Krieges verstärkte.
Es ging die Parole um, die schweren Luftangriffe der Alliierten auf deutsche Städte
seien Vergeltungsmaßnahmen für das, was man den Juden angetan hatte.
Aber die meisten kannten die volle Wahrheit, das Ausmaß und die Methode systematischer
Judenvergasung bis zuletzt nicht. Helmut J. Graf von Moltke, eine der führenden
Personen des deutschen Widerstands, schrieb am 25. März 1943, er glaube, "mindestens
neun Zehntel der Bevölkerung weiß nicht, daß wir Hunderttausende
von Juden umgebracht haben. Man glaubt weiterhin, sie seien lediglich abgesondert
worden und führten etwa dasselbe Leben wie zuvor, nur weiter im Osten, woher
sie stammten, vielleicht etwas armseliger, aber ohne Luftangriffe." Erst nach
dem Zusammenbruch und der Aufdeckung der unbeschreiblichen Greueltaten durch die
Alliierten bekamen alle Deutschen eine konkrete Anschauung von dem, was in ihrem
Namen geschehen war - und wollten es häufig auch dann nicht wahrhaben.
Hellmuth Auerbach, in: W. Benz (Hrg.) Legenden Lügen Vorurteile
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt