Glaubwürdigkeit - Glaubwürdigkeit ist ein Attribut, das inzwischen auf jenem Gebiet fast endemisch ist, das man allgemein spontan mit der Lüge identifiziert: dem des Politischen. Es ist eine kosmetische Qualifikation, die nichts über die Substanz eines Standpunktes oder einer Person aussagt, sondern allenfalls etwas über ihren Vortrag.
Einen Politiker "glaubwürdig" zu nennen, heißt nur, daß man ihm keinen Skandal zutraut - und das beweist in der Regel nur einen Mangel an Phantasie - oder ihn noch nicht beim Lügen erwischt hat. Tatsächlich aber hängen die Übel der Welt weniger damit zusammen, daß Politiker nicht an das glauben, was sie sagen, sondern damit, _daß_ sie es glauben.
In der Forderung nach Glaubwürdigkeit wird Ehrlichkeit zum Fetisch. Zwar mag es wünschenswert sein, nicht öffentlich belogen zu werden, konstitutiv für das Wirken von Politik aber ist Ehrlichkeit keineswegs. Ihr systematischer Zusammenhang nämlich ist Kategorien wie "Wahrheit" und Lüge" völlig entzogen. Diese fungieren vielmehr als Aggregatzustände ihrer Vermittlung und werden vor allem strategisch eingesetzt.
Selbst der Skandal, vielfach als Inbegriff der Ausnahme beschrieben, ist weit eher Indiz für gesetzmäßige Zusammenhänge politischen Wirkens und darüber hinaus ein unterhaltsamer Anreiz dafür, sich überhaupt mit Politik zu beschäftigen, ohne gewahr zu werden, wie sie sich mit denen beschäftigt, die glauben, am Ausnahmefall Konstitutives über politisches Wirken zu erfahren. Skandal und Lüge, die vermeintlichen Oppositionen einer "glaubwürdigen" Politik, sind deshalb Hilfsbegriffe, geeignet, die Vorstellung einer "sauberen" Politik integer zu halten und den Begriff des Politischen damit zu verstellen, statt Politik entschieden als moralisch indifferent zu bezeichnen.
Moral ist nicht identisch mit Politik, sie ist eine Verabreichungsform, indem sie konventionelles Reservoir an Vorstellungen und Wertbegriffen zur Verinnerlichung und Privatisierung des Allgemeinen bereithält. Die Überzeugung, daß der Skandal nicht sein darf, erlöst die Bürger von der Vorstellung, daß die "saubere" Politik nicht sein darf und moralischen Maßstäben insgesamt nicht gerecht wird.
In der Forderung nach Glaubwürdigkeit eines Politikers verrät sich ein alogisches, spirituelles Verhältnis zum Politiker. Zugleich besitzt dieses Attribut hohes Entlastungspotential. Man entzieht die Politik dem Bereich des Wissens und schiebt sie in einen Bereich des Vermutens und Deutens, in dem Politik zu einer Sache des Geschmacks und des psychologischen Feingespürs wird.
Die positive Beziehung auf die Glaubwürdigkeit eines Politikers vollzieht denselben Sprung, den die Religion fordert: nämlich das wie Wissen zu behandeln, was nicht gewußt werden kann. Man frage also nicht, wie ist Glaubwürdigkeit möglich, sondern wozu ist sie nötig. Nicht anders als die psychologische Betrachtung des Politischen verlagert die religiöse die Aneignung des Politischen ins Fiktive. Dadurch wird der Begriff des Politischen zugleich erweitert und ausgeleert, und gerade in dieser Form wird er für ein konformes Verhalten erträglich. Der Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Legitimität dieser Betrachtung verrät im Grunde nicht mehr als die Ermüdung gegenüber der Manifestation von Politik an sich.
Vor diesem Hintergrund darf endlich die Glaubwürdigkeit als ein Mittel der Lüge eingesetzt werden. Einen Politiker "glaubwürdig" zu nennen, heißt auch, es ihm zu honorieren, daß er uns nicht gezwungen hat, ihn als das zu erkennen, was er ist, und dabei zugleich das verschwinden zu lassen, wofür er steht.
Roger Willemsen, aus: Bittermann/Henschel, Das Wörterbuch des Gutmenschen. Zur Kritik der moralisch korrekten Schaumsprache

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Most recent revision: April 07, 1998

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