Unter Deutschen

Otto Köhler


Daniel Goldhagens These ist falsch: Seine Begegnung mit Mommsen, Schirrmacher, Augstein, Knopp und anderen Fürsprechern dieser Nation hat gezeigt, daß die Deutschen von heute sich von den gestrigen nicht halb so sehr unterscheiden, wie der Professor aus Harvard behauptet
Am Abend des 4. September, an dem Daniel Jonah Goldhagen in Hamburg seine Veranstaltungstournee durch Deutschland begann, war er auch schon widerlegt. "Hindenburg liegt gleich bei Auschwitz", brüllte zur selben Stunde eine deutsche Besuchergruppe beim Fußballspiel zwischen Polen und der Bundesrepublik in Zabrze, das bald wieder Hindenburg heißen soll. Nach dem Verkehrshinweis zum Vernichtungslager konnten die Fernsehzuschauer beider Länder auch die freundlich formulierte Warnung an die Übriggebliebenen auf dem mitgebrachten Transparent nicht übersehen: "Schindler-Juden, wir grüßen Euch." Die "Scheißpolacken", so hatten die Deutschen schon am Bahnhof gebrüllt, waren mitgemeint. Während des Spiels und nach dem deutschen Sieg versuchten die Deutschen, den Polen die Schädel einzuschlagen. Nein, nicht die Deutschen, es war nur eines von den vielen Skinhead-Sondereinsatzkommandos, die auch in Deutschland ihren freiwilligen Dienst ableisten. Der deutsche Fußballfunktionär Vogts empfahl das Wegschauen: "Ich habe die Bitte, daß man denen nicht eine Plattform gibt, um auf sich aufmerksam zu machen."
Wenn die polnische Polizei, vorgewarnt, nicht massiv eingegriffen hätte, wäre es zum Blutbad im Stadion gekommen. So gab es - offiziell - nur drei verletzte Polizisten. Doch niemand kann ignorieren, daß auch die deutsche Polizei hart und unnachsichtig zugegriffen hatte. Als die Demonstranten auf dem Grenzbahnhof eintrafen, wurden sie von starken Polizeikräften eingekesselt. Ohne lange Vorrede machten die Beamten von ihren Knüppeln Gebrauch, es gab Verletzte, nicht unter den Polizisten. Schließlich hatte das deutsche Gericht den Aufmarsch vorausschauend verboten. Wegen "Volksverhetzung".
Das war allerdings nicht an der deutsch-polnischen Grenze, sondern vier Tage zuvor in Grevesmühlen bei Lübeck. 700 Beamte stellten sich dort den 150 vorwiegend jungen Leute entgegen, die gegen die Ermittlungspraxis im Falle des Lübecker Brandanschlags (zehn tote Ausländer) protestieren wollten. Bundespräsident Herzog hatte den sachdienlichen Hinweis gegeben, daß er sehr ungehalten werden würde, wenn sich herausstellen sollte, daß deutsche Rechtsextremisten den Anschlag begangen hätten. Die Staatsanwaltschaft setzte die vier zunächst unter dringendem Tatverdacht festgenommenen Rechtsextremisten aus Grevesmühlen frei und ließ eines der überlebenden Opfer als Täter verhaften. Verständlich, daß deutsche Polizisten eine Demonstration gegen diesen natürlichen Gang der Rechtsfindung im Keim ersticken mußten.
Vier Tage später war das anders. Die deutschen Beamten mußten doch annehmen, daß es sich bei den Passagieren, die mit dem Lied auf den Lippen "... denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt" zur deutsch-polnischen Grenze fuhren, um anständige und anlagewillige deutsche Investoren auf der Reise zu neuen Zielen handelte, also durften sie durch. Und da tritt am selben Abend der amerikanische Soziologe Daniel Jonah Goldhagen in Hamburg auf und verkündet, die Deutschen hätten sich völlig geändert, sie lebten heute in einem vorbildlich demokratischen Staat.
Wie kann man so irren? Aber er hat es lieb gemeint, und schließlich wäre es ja unsere Sache, zu ändern, was vielleicht noch zu ändern ist. Der 35jährige hat uns schon genug auf die Sprünge geholfen, indem er bei seinem ersten Auftritt in Deutschland drei entscheidende Fragen über den Nationalsozialismus stellte, auf die deutsche Historiker fünf Jahrzehnte einfach nicht gekommen waren.
Erstens: Was dachten die Täter von ihren Opfern? Zweitens: Glaubten die Täter, daß das, was sie taten, richtig war? Wenn ja: Wie sind sie, drittens, zu dieser Annahme gekommen? Die Antwort ist Goldhagens dickes Buch Hitlers willige Vollstrecker - Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Sie lautet, daß die Deutschen, egal, ob in der NSDAP, der SS oder außerhalb der braunen Bataillone, freiwillig und gern Juden quälten und töteten. Wobei die Deutschen natürlich nicht jeden Deutschen meint, wie Goldhagen wieder und wieder betonte. Genausowenig wie die Rede von den Verbrechen der Amerikaner in Vietnam auf jeden Einwohner von New York oder gar auf den Amerikaner Fidel Castro zielt.
Es war ein seit Jahrhunderten angestauter Antisemitismus, der die Deutschen, als sie es von Staats wegen durften, zur willigen und eifrigen Vernichtung der Juden trieb. Goldhagen aber, der diese These mit einer erdrückenden Fülle von historischen Beispielen belegt, erlebte bei seiner Diskussionsreise durch Deutschland einen "Triumphzug", wie sein "Zeit"-Förderer Volker Ullrich schrieb, einen "Triumphzug", wie der Goldhagen-Gegner und "FAZ"-Kulturchef Frank Schirrmacher beipflichtete. 2.300 Zuhörer waren es in München, man hätte auch das Olympiastadion fnllen können, hieß es. Oder das Fußballstadion von Santiago de Chile - diejenigen, die sich hierzulande um Goldhagen scharten, sind das letzte Aufgebot derer, die sich gern Deutschlands erneutem Weg zur Weltmacht entgegenstellen würden, es ist die altbekannte kleine radikale Minderheit.
Schirrmacher, der von Anfang an auf Goldhagens Buch eingedroschen, es als "Gegen-Manifest" gegen die "zivilisatorischen Anstrengungen" abgelehnt hatte, denen sich "die Deutschen" seit 1945 "unterworfen" - welch ein Geständnis - hätten, erhob gegen Goldhagen erneut den Vorwurf, er predige die Kollektivschuld und konstruiere einen Volkscharakter. Aber zugleich wurde er in der Münchner Diskussion mit Goldhagen angesichts des Beifalls für den Angegriffenen ganz klein und verstieg sich pötzlich zu Lobsprüchen, die ihm nicht zustehen. Und so fühlte er sich drei Tage später zu einer Rechtfertigung in seinem Blatt genötigt. Goldhagens Triumph in der Bundesrepublik sei nicht nur der "Lust am Voyeurismus" geschuldet. In München war Schirrmacher vielmehr ein Mirakel geschehen, er war dem "Wunderheiler Goldhagen", so gab er im Leitartikel der "FAZ" zu Protokoll, in die Hände gefallen. Und jetzt, vor seinen Lesern, der nationalen Elite des neuen großen Deutschland mußte er sich rechtfertigen, weil ja auch er einer Abart jüdischer Schwarzkunst, dem "wunderlichen, deutlich moralischen Appell eines Wissenschaftlers", erlegen schien: "Aber es ist gerade die vernichtende" - wer wen? - "Radikalität von Goldhagens Thesen über die Logik des deutschen Nationalcharakters, die dem, der ihnen zustimmt, einen Freispruch gewährt."

Ohropax im Ohr?
"What does that mean", hatte der "Wunderheiler" gefragt, als der "FAZ"Mann mit dem angeblich verleumdeten deutschen Nationalcharakter anfing. Und ihn aufgeklärt: "Es ist nicht der Volkscharakter, von dem ich spreche."
Tut nichts, der Jude ist erkannt. Schirrmacher: "Hier geht es um Psychologie, um das" - na bitte - "unaufklärbare Zusammenspiel von historischer Schuld, individueller Selbstbezichtigung, Erlösungshoffnung, kurz: um das, was ein Rezensent die 'deutsche Krankheit' genannt hat. In einer Diagnose voller Schwächen und Widersprüche findet Goldhagen das Krankheitsbild in einem historischen frühzeitig aufbrechenden mörderischen Antisemitismus." Der hierzulande kaum bekannt ist, denn: "Manche derjenigen, die zu ihm drängten" - er meint Goldhagen und nicht, wie er schreibt, den Antisemitismus - "wußten vielleicht nicht viel von der Krankheit. Aber sie wußten, daß sie geheilt werden wollten."
Mitdränger Schirrmacher jedenfalls wußte es nicht, aber geheilt werden will er trotzdem nicht. Wozu auch? "Daß die Deutschen ihrer eigenen Geschichte entkommen wollen, wie eine bekannte These lautet, ist durch das Goldhagen-Phänomen widerlegt." Tusch. Da kämpfte er noch vor sechs Monaten im vordersten Schützengraben - und, nachlesbar in dem Band Ein Volk von Mördern?, auch noch heute - gegen die "Chuzpe", die spezifisch jüdische, d.h. Goldhagens Frechheit, gegen dessen Buch, das mehr dem "Geschwätz" als der "Aufklärung" diene, und gegen die Geschichte, die sich gegen uns Deutsche verschworen habe. Und jetzt entdeckt er ein Goldhagen-Phänomen, das beweist: Die Deutschen stehen zu ihrer Geschichte.
Der Mann, der sich so unendlich über Goldhagens Ignoranz aufgeregt hat, weil der Name Eugen Kogon - nur im englischen Original - um einen Buchstaben verdruckt war, hat bei seinen eigenen Fehlern einen Kompromiß gefunden: Gordon Craig ist für ihn nicht mehr ein Cordon bleu oder sanitaire, und Goldhagen hat er in der Uberschrift des Nachdrucks seines Anti-Goldhagen-Pamphlets in dem bereits erwähnten Band zugestanden, daß er mit zweitem Vornamen tatsächlich Jonah heiße, im Text besteht er weiter auf John.
Rudolf Augstein dagegen, für den die Diskussion um Auschwitz ein Omelett ist, um das zuviel Lärm gemacht wird, und der den Adjutanten einer Judenmordeinheit des Reichssicherheitshauptamtes wissentlich zu seinem Ressortleiter Internationales gemacht und mit dessen Hilfe seinen Antisemitismus aufgefrischt hatte, blieb - trotz der angebotenen Korrekturmöglichkeit - konsequent. Er änderte für die Buchfassung kein Wort an den antisemitischen Unterstellungen und an den Fehlern ("der einschläge israelische Historiker Raul Hilberg") seines "Spiegel"-Artikels.
Und der Historiker Hans Mommsen? Hat sich seine erste Wut auf Goldhagen gelegt? Er zeigt sich jetzt, wo nötig, abgeklärt. Ende August schrieb er in der "Zeit", daß "das Aufsehen", das Goldhagens Buch in den Vereinigten Staaten, "aber auch" in anderen westlichen Ländern mache, "uns" lehre, daß "die emotionale Nachwirkung des deutschen Judenmordes noch nach Jahrzehnten anhält". Das mag er wunderlich finden, da er doch so überzeugend erklärt hat, daß alles beinahe wie von selbst aus den Strukturen der deutschen Gesellschaft und ihrer Institutionen entstehen mußte, auch aus Reaktionen auf einen verlorenen Krieg, und daß darum keiner eigentlich so richtig schuldig ist.
Jedenfalls vermag Mommsen über Goldhagens Buch nur festzustellen, es "rechtfertigt die neu entbrannte Debatte eigentlich nicht" - an der er wenige Tage später in Aschaffenburg teilnehmen wird. Es taugt halt nichts, Mommsen kann das beweisen: "Bezeichnenderweise wird der für den Historiker erforderliche Herkunftsnachweis bei den im Buch wiedergegebenen Photographien unterlassen." Hätte er noch sieben Seiten weitergeblättert und nicht das Buch verärgert in die Ecke geworfen, als er auf Seite 614 zwischen Möbius, Moering und Münzer seinen eigenen Namen nicht fand, dann wäre er (wie jetzt auch in der deutschen Ubersetzung) am Ende des Bandes auf den vermißten Herkunftsnachweis gestoßen.
Schon ganz am Anfang der Debatte, bei seinem Auftritt in Böhmes "Talk im Turm", blubberte Mommsen, Goldhagen habe behauptet, "es gab in Deutschland mehr Nazis in der öffentlichen Verwaltung als noch im Dritten Reich" - da ist dem großen NS-Forscher der für diesen Staat bemerkenswerte Umstand entgangen, daß infolge des Artikels 131 zur Wiedereinsetzung von Nazi-Beamten in den fünfziger Jahren auf dem Territorium der damaligen Bundesrepublik mehr ehemalige NS-Beamte tätig waren als auf dem gleichen Gebiet während der NS-Zeit. Und dann rechnete er mit Goldhagens Kritik an den deutschen Liberalen und ihrem Antisemitismus ab. Mommsen erregt: "Ehrlich gesagt, ich komme aus einer Familie, wo das nun einmal nicht stimmt. Es ist einfach nicht wahr, daß das deutsche Bürgertum quer durch antisemitisch gewesen ist."
Bleiben wir bei der Familie, zu der Mommsen doch wohl seinen Vater Wilhelm zählt. Für den war 1944 (Deutschland und Europa. 1850-1933) Karl Marx "ein typischer Vertreter des jüdischen Intellektualismus". Einen Zuhälter in SA-Uniform dagegen machte Vater Mommsen zum neuen deutschen Faust: "Der Dichter des Horst-Wessel-Liedes ist nicht nur deshalb ein Symbol für die Wesenszüge des Nationalsozialismus geworden, weil er sich im Kampf für seine Bewegung opferte. Er war Arbeiter und Student, er verkörperte in seiner Person die Uberwindung der Klassenunterschiede wie des Gegensatzes von Kopf- und Handarbeit."
"Paradoxerweise", sagt Sohn Hans, "übergeht Goldhagen den völkischen Antisemitismus, wie er von Richard Wagner ... propagiert wurde, obwohl es sich bei diesem um den unmittelbaren Vorläufer der NS-Rassenideologie handelt." Ein Blick ins Register, Mommsen muß ja das Buch, das ihm so sehr mißfallt, nicht ganz lesen, hätte ihn zur Seite 406 geführt: "Er" - der Jude - "war die Verkörperung des Teufels, er war, wie Richard Wagner es angsteinflößend und bedrohlich formuliert hatte, 'der plastische Dämon des Verfalls der Menschheit'."
Vater Wilhelm hatte Wagner noch gelobt, weil er "einer der ersten" gewesen sei, der "die Judenfrage nicht als ein konfessionelles Problem ansah, sondern vom Rassegedanken ausging". Und - solche Duplizität ist kaum komisch: In einer Kampfschrift gegen den von den Nazis gejagten populären jüdischen Historiker Emil Ludwig - schon damals betitelt "Legitime" und "illegitime" Geschichtsschreibung - tadelte der liberale Vater 1930 - gewiß zu Unrecht - einen Mangel an Einsatz der Geschichtswissenschaft bei der Verteidigung Deutschlands: "So ist es zum Beispiel wohl kein Zufall, daß im Kampf gegen die sogenannte "Kriegsschuldlüge" die Fachwissenschaft sich relativ wenig beteiligte, obwohl hier gerade die Arbeit des Historikers eine sichtbare nationale Funktion erfüllen kann." Die forderte Vater Wilhelm unter Berufung auf den großen Antisemiten und Historiker Heinrich von Treitschke. So kurios manche Parallele ist - Sohn Hans wurde im selben Jahr 1930 geboren, er ist nicht verantwortlich für den sträflichen Unsinn, den sein Vater als Historiker schrieb -, peinlich bleibt, daß er sein so geartetes liberales Elternhaus in die Schlacht gegen Goldhagen wirft.
Aber es gab ja nicht nur liberale Professoren. Auch kirchliche Würdenträger taten ihr Bestes. Bischof Martin Sasse in Thüringen veröffentliche 13 Tage nach der Reichspogromnacht einen Rassen-Digest aus Luthers Schrift "Von den Juden und ihren Lügen" unter dem Titel: Martin Luther und die Juden: Weg mit Ihnen. Im Vorwort bejubelte der Bischof das Anzünden der Ciotteshäuser: "Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen", und er empfahl die Lektüre "des größten Antisemiten seiner Zeit, des Warners seines Volkes wider die Juden". Goldhagen spricht in diesem Zusammenhang von einem eliminatorischen Antisemitismus in der evangelischen Kirche. aber wenn er Luther nicht aus zweiter Hand zitiert, sondern im Original dessen Tischreden gelesen hätte, dann hätte er bei dem großen deutschen Reformator auch den exterminatorischen Antisemitismus, einen Vorgriff auf den Holocaust, entdeckt.
Denn so schreibt Martin Luther in seinen "Tischreden" über die Juden: "Man soll erstens ihre Synagogen verbrennen und dem Erdboden gleichmachen, zweitens ihre Häuser zerstören und sie wie die Zigeuner unter Dächer und Ställe tun ..., damit wir Deutschen in geschichtlicher Begründung auch wissen möchten, was ein Jude sei, unser Christentum vor ihnen als dem Teufel selbst zu warnen." Dazu der fromme Wunsch des deutschen Gottesmannes: "Wenn sie auch so greulich gestraft würden, daß die Gassen voll Bluts rönnen, daß man ihre Toten nicht mit hunderttausend, sondern mit zehnhunderttausend rechnen und zählen müßte ..."
Und da werfen die Kritiker Goldhagen vor, daß seine Kapitel über die Geschichte des Antisemitismus nicht differenziert genug gearbeitet seien. Da fehle so manches, der Aufklärung werde er nicht gerecht, und der Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert auch nicht. Ja, da fehlt einiges.
1993 erschien im Wiener Picus-Verlag die Untersuchung Cenozid und Heilserwartung. Zum nationalsozialistischen Mord am europäischen Judentum von Michael Ley. Das Buch wurde da und dort rezensiert, aber in die öffentliche Diskussion drang es nicht, obwohl es viel von dem enthält, was man bei Goldhagen vermissen mag. Johann Gottlieb Fichte, mit seinen Reden an die deutsche Nation damals einflußreicher als Kant, fehlt bei Goldhagen, das sollte man ihm ankreiden. Der Philosoph des deutschen Idealismus, für den die Deutschen das "Urvolk" schlechthin sind, tastet sich, bei Ley nachzulesen, eng an ein Vernichtungsprogramm gegen die Juden heran. Denn was er verlangt, um die Auslöschung der Juden zu vermeiden, ist unmöglich: "Aber ihnen die Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch keine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen das gelobte Land zu erobern, und sie alle dorthin zu schicken."
Vernichtung oder Vertreibung die Deutschen haben sich für das erste entschieden, und Fichte hätte auch das gebilligt.
Die Vorstellung, Juden zu töten, war aber nicht nur ein anregendes philosophisches Programm, sie verwirklichte sich, als es soweit war, als Programmpunkt Bunter Abende. Goldhagen zitiert die Aussage eines Mitglieds des Polizeibataillons 101 zu einer Mordaktion im November 1942: "An diesem Abend war als sogenannte Frontbetreuung eine Unterhaltungstruppe Berliner Polizisten bei uns zu Gast. Diese Unterhaltungstruppe bestand aus Musikern und Vortragskünstlern. Die Angehörigen dieser Truppe hatten von der bevorstehenden Erschießung der Juden ebenfalls erfahren und sich nun erboten bzw. sogar ausdrücklich darum gebeten, sich an den Exekutionen dieser Juden beteiligen zu dürfen. Diesem Ansinnen wurde von seiten des Bataillons stattgegeben."
Fröhliche Musik und gute Laune kann sich - wenigstens verbal - auch heute durchaus mit Judenvernichtung verbinden. Vor Jahren unter dem sonst sehr strengen sozialdemokratischen Intendanten Martin Neuffer erfreute der noch heute beliebte NDR-Moderator Carlo von Tiedemann natürlich ungestraft - seine Hörer nach der Besprechung eines Auschwitz-Buches mit der vielversprechenden Ankündigung: "Und wir machen weiter im Pogrom."
Und Goldhagen schreibt völlig richtig: "Diese Truppenunterhalter, deren offizielle Aufgaben mit dem Mord an den Juden nichts zu tun hatten, mußten weder dazu gedrängt, noch abkommandiert, noch gezwungen werden, Juden zu töten ... Ihre Mordgelüste wurden keineswegs als krankhaft oder pervers betrachtet; am nächsten Tag stellten diese Truppenunterhalter die Mehrheit der Vollstrecker. Wie so viele deutsche Täter, ob Freiwillige oder nicht, wurden sie, ohne zu zögern und mit Eifer, zu Henkern von Juden."
Auch Guido Knopp, ZDF-Konditor für Geschichtsspekulatius, der es hinreißend versteht, Historie zu beschreiben, wie sie nach seinem Willen und seiner Vorstellung gewesen sein sollte, hat sich auf seine Weise hastig an Goldhagens Erfolg anzuhängen versucht. Mit einem Buch über die wahren und einzigen Täter - Kostprobe (zu Göring): "Der parfümierte Nero, Inbegriff von Machtmißbrauch und Korruption, versank in seiner Sucht und seinen Leidenschaften. Hätte er den Mut bewiesen, Hitler 1938 Einhalt zu gebieten; hätte gar das Attentat der Generäle 1938" - was es nicht alles gab! "vor der Münchner Konferenz Erfolg gehabt; hätte Göring dann an Hitlers Stelle die Regierung übernommen und "die Judenverfolgung", wie später gegenüber Roosevelt versprochen, "eingestellt" - vielleicht wäre es dann weder zum Zweiten Weltkrieg noch zum Holocaust gekommen." Knopp aber erkennt schlußendlich, daß die Realität eine andere war: "Doch dazu hätte Göring nicht Göring sein mussen." Damals ein anderer Reichsmarschall, und wir müßten uns heute nicht mit Goldhagen herumqualen.
Knopps Anti-Goldhagen, von Bertelsmann, der Konzernmutter des Verlags, der Goldhagens Buch herausgebracht hat, auf den Markt geworfen, heißt Hitlers Helfer und kennt deren sechs: Goebbels, Göring, Himmler, Heß, Speer, Dönitz. Ja, und da waren wohl noch, irgendwo im langen Vorwort versteckt, "Helfershelfer". Knopp: "Wohl eine halbe Million Deutsche haben sich unmittelbar schuldig gemacht. Einem jungen US-Soziologen aber ist das nicht genug. "Hitlers Helfer" waren alle Deutschen, meint Daniel Goldhagen." Womit der eine Bevölkerung mißachtet, die allem widerstrebte, wie Knopps Gewährsmann Goebbels bezeugt hat: "Uberall zeigen Leute Sympathie für die Juden. Diese Nation ist einfach noch nicht reif, sie ist voller idiotischer Sentimentalität."
Guido Knopp jammert für die Selbstbewußte Nation und demonstriert. wie er Goldhagen gelesen haben würde, wenn er es getan hätte, was aber nachweislich seines Textes nicht sein kann: "Wieder gibt ein Wissenschaftler 'den Deutschen' die Kollektivschuld am Holocaust. Wieder erklärt einer die Banalität des Bösen für typisch deutsch und kennzeichnet sie, 'die Deutschen', für alle Zeiten mit dem Kainsmal."
Wo sind die Wissenschaftler, die von einer deutschen Kollektivschuld sprachen, auf welcher Seite seines Buches tut es Goldhagen? Es gibt von ihm nur Erklärungen gegen die Kollektivschuldthese - zuletzt in München: "Ich glaube nicht an Kollektivschuld, das ist weder intellektuell noch moralisch akzeptabel." Mit Hannah Arendts Begriff von der "Banalität des Bösen" hat Goldhagen nichts zu tun, im Gegenteil. Und daß er den Deutschen kein Kainsmal für alle Zeiten aufklebt, beweist ja seine seltsame Liebe zur Bundesrepublik.
Guido Knopp war es auch, der ohne Rücksicht auf den Ruf der Bundesrepublik Deutschland in der Welt - bei seiner Aschaffenburger ZDF/3Sat-Sendung Leute gegen Goldhagen antreten ließ, die in einer seriösen Runde allenfalls Diskussionsgegenstand, nie aber Diskussionspartner gewesen wären. Den Hitler-Major Erich Mende, der das Ritterkreuz, den Orden, den der Führer seinen blutigsten Soldaten verlieh, als erster in Bonn wieder hoffähig machte, und den Professor Arnulf Baring, der sich mit rassistischen Auslassungen über die Ostdeutschen qualifiziert hatte. Solche Partner trieben selbst Mommsen an Goldhagens Seite.
Aber bekannlich sitzen ja nicht nur beim ZDF, sondern auch bei der ARD allerlei Leute in der ersten Reihe. Als die Goldhagen-Debatte der ARD schon zu Ende war, dünkte dem Moderator Martin Schulze die Frage eines Anrufers so wichtig, daß er sie über die Sendezeit hinaus unbedingt noch auf den Bildschirm bringen mußte. "Bedenkt Herr Goldhagen nicht, daß er mit seinem Buch das Verständnis oder gar die Freundschaft mit den Juden wieder kaputtmacht?"
Ja, Goldbagen ist schuld, ihm haben die Juden es zu verdanken, wenn die Deutschen die Antisemiten bleiben, die sie sind.

Literatur:
Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Siedler Verlag, Berlin 1996, 730 Seiten, 59,80 Mark
Julius H. Schoeps (Hg.): Ein Volk von Mördern? Die Dokumentutmn zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle tler Deutschen im Holocaust. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1966, 252 Seiten, 25 Mark
Michael Ley: Genozid und Heilserwartung. Zum nationalsozialistischen Mord am europäischen Judentum. Picus Verlag, Wien 1993, 288 Seiten, 39.80 Mark

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Most recent revision: April 07, 1998

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