"Reichskristallnacht"
Als am 7. November 1938 der 17jährige polnische Jude Herschel Grynszpan den
Legationssekretär Ernst vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris mit mehreren
Revolverschüssen niederstreckte und so schwer verletzte, daß mit seinem
Ableben gerechnet werden mußte, nahmen die Nationalsozialisten dies zum willkommenen
Anlaß, einen schon lange vorbereiteten vernichtenden Schlag gegen das verhaßte
Judentum in die Wege zu leiten. Sofort nach der Tat wurde die gleichgeschaltete
deutsche Presse bis ins Detail angewiesen, wie sie das Attentat als "Anschlag
des Weltjudentums" groß herausstellen sollte.
Ernst vom Rath erlag am 9. November seinen Verletzungen. Zum Zeitpunkt seines Todes
feierten gerade die "Alten Kämpfer" in München mit Hitler die
Erinnerung an den traditionellen Marsch zur Feldherrnhalle im Jahr 1923. Hitler
erfuhr vom Tod des Pariser Botschaftsmitgliedes, sprach längere Zeit mit Goebbels
und verließ dann die Versammlung. Goebbels teilte den Anwesenden mit, vom
Rath sei der Kugel des "jüdischen Mordbuben" erlegen. In einer antisemitischen
Haßtirade forderte er Vergeltung und Rache. Die Rede wurde, wie beabsichtigt,
als indirekte Aufforderung zum Handeln verstanden, die Partei- und SA-Funktionäre
wiesen ihre Gruppierungen in den ihnen unterstehenden Bereichen an, den Pogrom in
die Wege zu leiten. Wohlvorbereitet durch bereits zuvor erstellte Listen von jüdischen
Einrichtungen und Geschäften und angeheizt durch die Pressekampagnen der vorangegangenen
Tage brachen nun in der Nacht zum 10. November die NSBanden über die jüdischen
Kultuseinrichtungen und Geschäfte herein, Juden wurden mißhandelt, ermordet
und zu Tausenden in Konzentrationslager eingeliefert. Synagogen wurden in Brand
gesteckt, Versuche, die Brände zu löschen, von den Brandstiftern verhindert.
In der Presse hieß es dann anderntags: "Des Volkes Zorn nahm Vergeltung
an den jüdischen Ladengeschäften, denen größtenteils sämtliche
Fenster eingeschlagen wurden" (daher "Reichskristallnacht").
Von "des Volkes Zorn" konnte allerdings keine Rede sein. Die meisten Bürger
verfolgten die Geschohnisse passiv, manche entrüstet, und einige halfen auch
vom Pogrom Betroffenen. Absurd erschien schon damals vielen die Behauptung einer
"Verschwörung des Weltjudentums": Ein 17jähriger Junge schien
denn doch nicht das geeignete Werkzeug für eine Weltverschwörung. Grynszpan
wollte, wie er bei den Verhören den französischen Behörden gegenüber
immer wieder betonte, die Deportation seiner Familie aus Deutschland zurück
nach Polen rächen, von der er kurz vor der Tat durch einen Brief erfahren hatte.
Er hatte zu diesem Zweck spontan einen Revolver erworben und nicht etwa - was ja
ein viel größeres Aufsehen erregt hätte - den deutschen Botschafter
in Paris erschossen, sondern einen unbedeutenden Legationssekretär, zu dem
er bei seiner Vorsprache in der Botschaft zufällig geführt worden war.
Gleich nach dem Attentat tauchte bei Gegnern der Nationalsozialisten die Vermutung
auf, Grynszpan sei von den Nazis für den Mordanschlag gedungen worden, um so
einen Vorwand für die vorbereiteten Pogromaktionen zu haben. Für diese
Theorie sprach in den Augen ihrer Vertreter das Propagandagetöse, mit dem die
NS-Presse auf das Attentat reagiert hatte und nach dem Tod vom Raths die Präzision,
mit der schlagartig gegen Juden und ihren Besitz vorgegangen worden war. Die äußertst
gründlichen Ermittlungen der französischen Polizei ergaben aber keinerlei
Hinweis darauf, daß Grynszpan ein Werkzeug der Nazis hätte gewesen sein
können.
Das Gerücht, beim Anschlag auf vom Rath habe es sich um eine Tat im Homosexuellenmilieu
gehandelt, wurde entweder von den Verteidigern oder Grynszpan selbst in die Welt
gesetzt, um dessen Kopf zu retten. Die Nationalsozialisten wollten in einem Schauprozeß
der Weltöffentlichkeit beweisen, daß Grynszpan als "Werkzeug des
Weltjudentums" gehandelt habe. Die Anklage sollte auf Hoch verrat lauten und
darauf stand die Todesstrafe. Wäre nun in dem Sensationsprozeß vor Vertretern
der Weltpresse behauptet worden, der von den Nazis zum guten deutschen Nationalsozialisten
hochstilisierte vom Rath sei lediglich Opfer einer Tat im Homosexuellenmilieu geworden,
hätte dies den wohlvorbereiteten Prozeß gegen "das Weltjudentum"
zu einer riesigen Blamage für das Naziregime werden lassen. Grynszpan, wegen
einer angeblichen Hochverratsaffäre später gesetzwidrig vom besiegten
Frankreich an die deutschen Behörden ausgeliefert, hätte außerdem
wegen eines "gewöhnlichen" Mordes in Deutschland kaum zum Tode verurteilt
werden können. Und so fand denn nie ein Prozeß statt.
Herschel Grynszpan soll als "Sondergefangener" den Krieg im Konzentrationslager
Sachsenhausen überlebt haben, seine Spur verliert sich in den Wirren der letzten
Kriegsmonate. Für die deutschen Juden war der Weg vorgezeichnet von den Exzessen
der "Reichskristallnacht" zur physischen Vernichtung.
Wolfram Selig in: Legenden Lügen Vorurteile
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt