8. Mai-Gruppe c/o Antinationales Büro, Hamburg
Einstiegsreferat der Veranstaltung_

"Goldhagen und die deutsche Reaktion"
vom 29.9.96 in Hamburg.
Vorbemerkung

In der Regel müssen wir davon ausgehen, daß der Erfolg eines Buches hierzulande im umgekehrten Verhältnis zu seiner Relevanz für die Linke steht. Goldhagens Buch ist die Ausnahme.
Wir halten sei Buch für verdienstvoll und wesentlich, weil es das TäterInnenkollektiv der Deutschen in Bezug auf die Vernichtung der europäischen Juden umfassender und angemessener als alle sonst bisher vorliegenden Schriften porträtiert. Allein deshalb ist nach unserer Uberzeugung die Lektüre dieses Buches für die Linke hierzulande ein "Muß".
Den deutschen Reaktionen auf Goldhagen war aber gemeinsam, daß gerade dieser Inhalt seines Buches unter den Teppich gekehrt worden ist und die Spezifik des deutschen TäterInnenverhaltens keine Rolle gespielt hatte. Goldhagen wurde auf seiner Lesereise als gut aussehender und höflicher junge Amerikaner, der es mit den heutigen Deutschen immerhin gut zu meinen scheint, relativ freundlich hofiert - "Der Rächer hat Charme", titelte die Süddeutsche Zeitung - und der Inhalt seines Buches neutralisiert. Auch in den fortschrittlichen Publikationen wurde die Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Buches hauptsächlich vermieden. Die ÖkoLinX schreibt, übrigens wörtlich: "Das Interessanteste an Goldhagen finden wir die Reaktion der deutschen KritikerInnen und ihre Anstrengung, die Deutschen endlich reinzuwaschen". (Nr. 24, S.3) Die Brisanz seines Buches, so auch der SOZ, "liegt zum erheblichen Teil in seiner deutschen Rezeption." (SOZ, 5.9.96) Und Klaus Bittermann behauptet in der jungen Welt, daß die Reaktionen auf Goldhagen "mehr aussagten über die Deutschen heute als Goldhagens Buch über die Deutschen damals." (jw, 16.9.96) Weil wir das anders sehen, weil wir Goldhagens Studie mindestens so wichtig finden, wie seine Rezeption, wird sich der erste Teil dieser Veranstaltung um den Inhalt des Buches drehen; erst im zweiten Teil geht es um die deutsche Reaktion und im dritten dann um die gegenüber Goldhagens Buch notwendige Kritik. Wir werden drei Dinge auf dieser Veranstaltung nicht leisten können: Es ist ganz ausgeschlossen, die Gedankenführung und das empirische Material des Goldhagen-Buches hier auch nur ansatzweise zu referieren.
Wir gehen davon aus, daß der kleinere Teil von Euch das Buch bereits vollständig gelesen hat und werden deshalb in unserem ersten Beitrag wenigstens punktuell herausarbeiten, worin u.E. die Besonderheit und die Bedeutung des Goldhagen-Ansatzes liegt. Wir werden zweitens auf dieser Veranstaltung noch nicht das zu leisten vermögen, was die Lektüre dieses Buches eigentlich zwingend nahelegt: Eine Untersuchung, wie weit die spezifische Klatsche der Deutschen, die Goldhagen herausarbeitet, gegenwärtig fortwirkt und deutsches Handeln mit determiniert. Wir wollen hierzu zu arbeiten und laden diejenigen, die sich für solch eine Untersuchungsarbeit interessieren, ein, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Wir müssen drittens zu unseren Referaten sagen, daß es keine vollständig abgeschlossenen und ausgereiften Stellungenahmen sind, sondern ein Zwischenergebnis, daß wir nach mehrwöchigen Diskussion heute zur Diskussion stellen wollen.
Goldhagens Aussagen und ihre Relevanz für die Linke
Im ersten Teil werden wir einige Besonderheiten der Methodik Goldhagens darstellen. Im zweiten Teil wollen wir zentrale inhaltliche Ergebnisse seiner Untersuchung präsentieren, um dann im dritten Teil auf die Bedeutung dieser Ergebnisse für die Debatte in der hiesigen Linken einzugehen.
Methodisch orientiert Goldhagen seine empirische Untersuchung an den Prämissen des US-amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz. Goldhagen liefert eine "dichte Beschreibung" des deutschen TäterInnenverhaltens auf Basis von TäterInnen-Aussagen, wie sie in zahlreichen Ermittlungs- und Prozeßakten deutscher Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung der NS-Verbrechen in den 60er Jahren gesammelt und archiviert worden sind. Im Gegensatz zu "dünner Beschreibung", die sich auf das Sammeln von Daten beschränkt, versucht die von Geertz empfohlene "dichte Beschreibung" einen Zugang zur Gedankenwelt der untersuchten Subjekte zu erschließen, indem quasi mikroskopisch die Verhaltendetails eines Kollektivs beschrieben und analysiert werden. Unter das Mikroskop hat Goldhagen nicht die intellektuellen Schreibtischplaner und bürokratischen Exekutoren des Holocaust gelegt, sondern diejenigen Deutschen, die unmittelbar am Aufspüren, am Quälen und am Töten der Juden beteiligt gewesen sind: die Mörder aus den Polizeibataillonen, die deutschen Vernichtungshelfer in sogenannten Arbeitslagern und die AufseherInnen der Todesmärsche von 1945. Das Konzept der "dichten Beschreibung" schließt es aus, die Tötungsvorgänge wertfrei und klinisch sauber zu beschreiben, da diese Form der Beschreibung nicht nur das Erscheinungsbild des Mordens verzerrt, sondern auch die Gefühlsanteile der TäterInnen und der Opfer ausblendet und ein wirkliches Verstehen somit verhindert. Wenn wir die Weltsicht der TäterInnen verstehen wollen, schreibt Goldhagen, "müssen wir uns jedes grausame Bild deutlich machen, das sie erblickten, uns jeden Angst- und Schmerzensschrei ins Gedächtnis rufen, den sie zu hören bekamen."(38) Wir möchten dieses Element der "dichten Beschreibung" am Beispiel einiger von Goldhagen zitierter Aussagen von Angehörigen des Hamburger Reserve-Bataillons illustrieren.
"Neben mir war der Wachtmeister Koch. Er hatte einen kleinen Jungen von vielleicht 12 Jahren zu erschießen. Uns war ausdrücklich gesagt worden, daß wir den Gewehrlauf 20 cm vom Kopf entfernt halten sollten. Das hat Koch offentlichtlich nicht getan, denn beim Verlassen der Exekutionsstelle lachten die anderen Kameraden über mich, weil von dem Gehirn des Kindes Teile an dem Griff meines Seitengewehres geschleudert worden waren und haftenblieben. Ich habe erst noch gefragt, warum lacht ihr denn, daraufhin sagte Koch, unter Hinweis auf das Gehirn an meinem Seitengewehr, das ist von mir, der zuckt nicht mehr. Er sagte das offensichtlich in einem sich brüstenden Ton." "Diese Heiterkeit", schreibt Goldhagen, "ja fast kindische, offene Freude angesichts des Massenmords war kein Einzelfall."
Zweites Beispiel: "Als die ErschieBungen schließlich beginnen sollten",schreibt Goldhagen, bildeten die Männer des zweiten Zuges eine Gasse zwischen dem Warteplatz und dem eigentlichen Hinrichtungsort jeweils fünfzehn bis zwanzig Juden mußten in einem regelrechten Spießrutenlauf durch diese Gasse rennen, geschlagen und angebrüllt von den Deutschen. Als genüge es nicht, die Opfer während der letzten Augenblicke ihres Lebens so zu quälen und zu foltern, wählte Oberleutnant Gnade Juden von besonderer symbolischer Bedeutung für eine Spezialbehandlung aus. Die Erinnerung daran hat sich, was kaum überrascht, unauslöschlich in das Gedächtnis einer seiner Männer eingeprägt: ,Während der Erschießungsektion habe ich noch eine Beobachtung gemacht, die ich nie vergessen werde. Noch bevor die Erschießungen begannen, hatte sich Oberleutnant Gnade etwa 20 bis 25 ältere Juden herausgesucht. Es waren ausschließlich Männer mit Vollbärten. Diese alten Männer ließ Gnade auf dem Platz vor der Grube robben. Bevor er ihnen Befehl zum Robben gegeben hatte, mußten sie sich entkleiden. Während die Juden nun völlig nackt robbten, schrie Oberleutnant Gnade in die Gegend: 'Wo sind denn meine Unterführer, habt ihr noch keinen Knüppel.' Daraufhin sind dann die Unterführer an den Waldrand gegangen, haben sich Knüppel geholt und schlugen nun kräftig mit diesen Knüppeln auf die Juden ein... Ich möchte aber meinen, daß sämtliche Unterführer unserer Kompanie dem Befehl des Oberleutnant Gnade nachgekommen sind und auf die Juden eingschlagen haben.'"(252)
Ein weiteres Beispiel: "Auf dem Marktplatz, wo sie sich stundenlang niederlassen mußten, wurden die Juden 'verspottet' und 'getreten'. Einige der Deutschen veranstalteten ein 'Spiel, indem sie mit Äpfeln warfen; wer von einem Apfel getroffen wurde, wurde ermordet.' Dieses ,Vergnügen wurde am Bahnhof fortgesetzt, diesmal mit leeren Schnapsflaschen. 'Uber die Köpfe der Juden hinweg wurden Flaschen geworfen, wer immer von einer Flasche getroffen wurde, wurde aus der Menge herausgezerrt und unter stürmischen Gelächter mörderisch verprügelt."(306)
Goldhagen belegt, daß die Rekonstruktionen des konkreten Grauens für die Analyse des Holocaust wesentlich ist.
Erst die dichte Beschreibung führt vor Augen, daß das landläufige Bild von den "kaltblütig und mechanisch arbeitenden Henkern" für den Großteil der Vollstrecker einfach nicht stimmt. "Deutsche, die die Todesstrafe befürworteten", schreibt Goldhagen, "wären entsetzt gewesen, wäre die Hinrichtung eines ganz gewöhnlichen deutschen Mörders von Folterungen oder Erniedrigungen des Delinquenten begleitet gewesen.... Die Tötung von Juden hingegen war ein haßerfüllter, rabiater Vorgang, der von Grausamkeit, Erniedrigung, Hohn und Spott vorbereitet und begleitet wurde. "(466)
Es könne daher nicht verwundern, schreibt Goldhagen, "daß diese ganz gewöhnlichen Deutschen in den Augen der Opfer nicht als einfache Mörder und schon gar nicht als zögerliche Täter erscheinen, gegen ihren inneren Widerstand zu ihrer Aufgabe gezwungen, sondern als 'zweibeinige Raubtiere' ,voller, Blutdurst'." (302)
Goldhagens dichte Beschreibung ist nicht auf die Grausamkeiten der TäterInnen reduziert. Sein Interesse gilt ebenso dem Freizeitverhalten, das die normalen Deutschen zwischen den Massenmorden an den Tag gelegt hatten, ihren Kegelbahnen und Musikabenden. Zur dichten Beschreibung gehören die Briefe an die Angehörigen zuhause, in denen man sich stolz dieser Verbrechen brüstete, zur dichten Beschreibung gehört die Tierliebe, die den Massenmördern eigentümlich war. Goldhagen zitiert beispielsweise einen Regimentsbefehl vom August 1943, in dem es heißt: "Der Hundeführer hat seinen Hund strengstens zu beobachten und ihn beim Auftreten der geringsten Krankheitserscheinungen oder Veränderungen im Benehmen des Tieres sofort dem zuständigen Pol.-Veterinär vorzuführen."
Solch ein Detail aus der Umgebung der Täter ist für ihn ein wichtiger Beweis für den Bewußtseinszustand der Täter: "Dachten die Vollstrecker bei der Lektüre solcher Anweisungen nicht darüber nach, wie unterschiedlich sie Hunde und Juden behandelten?", fragt Goldhagen. "Beim kleinsten Anzeichen einer Krankheit oder eines ungewöhnlichen Verhaltens sollten sie ihre Hunde der Fürsorge von Tierärzten anvertrauen. Kranke Juden jedoch, insbesondere schwerkranke oder jene, bei denen es Hinweise auf ansteckende Krankheiten wie Typhus gab, durften keinen Arzt aufsuche: In der Regel bekämpften die Deutschen die Krankeiten der Juden mit einer Bleikugel oder einem sozialbiologischen 'Sterilisations'ausflug in die Gaskammer." (319) Goldhagen zeigt, wie die Sorge um die Tiere mit einer Gnadenlosigkeit gegenüber den Juden einhergegangen ist - ein Widerspruch, der eigentlich den Beteiligten hätte auffallen müssen. Jedoch: "Den Tätern entging dies zweifellos. Sie hatten bereits eine Grenze überschritten ; ihr kognitives Instrumentarium erlaubte es ihnen nicht, dieses Nebeneinander überhaupt wahrzunehmen." (321 )
Goldhagen läßt, was man ihm vorwerfen kann, viele Faktoren, die für die Analyse des Nationalsozialismus unerläßlich sind - das Agieren der wirtschaftlichen und politischen Eliten, beispielsweise, außer Acht. Hinsichtlich des TäterInnenkollektivs ist ihm allerdings mithilfe der Methode der "dichten Beschreibung" ein Portrait gelungen, wie wir es so detailliert und eindringlich bisher nicht kannten.
Auch in einem zweiten Punkt hat sich Goldhagen methodisch an Clifford Geertz orientiert. In dessen Buch mit dem Titel "Dichte Beschreibung", das sich ansonsten hauptsächlich mit kulturellen Erscheinungen in Java und Bali auseinandersetzt, weist Geertz auf das Problem hin, daß die Beobachter von kulturellen Erscheinungen diese in der Regel so interpretieren, wie es ihrem eigenen, meist westlich geprägten Weltverständnis entspricht. (Geertz 1995, S. 14) Geertz fordert demgegenaber, ein gemeinschaftliches Ritual zunächst ausschließlich durch die Brille der am Ritual Beteiligten zu betrachten. Goldhagen hat diese Blickweise auf Deutschland übertragen. Wer die NS-Taten unter einem Blickwinkel betrachte, wie er in den bürgerlichen Demokratien üblich sei, anstatt sie einzig aus dem Selbstverständnis der Nazi-Deutschen heraus verstehen zu wollen, gelange, so Goldhagen, ganz zwangsläufig zu einer Interpretation, die das deutsche Täterkollektiv entlastet, indem sie unterstellt, dieses habe die Vernichtung der Juden eigentlich gar nicht wollen können, sondern sich lediglich unter Zwang, aus blindem Gehorsam oder aus Karriereinteresse daran beteiligt.
Bisher haben sich die Holocaust-Forscher die Frage gestellt, wie die Deutschen ihre moralischen Skrupel angesichts der Vernichtung eines ganzen Volkes hatten überwinden können. Das ist die falsche Frage, kontert Goldhagen. Die Durchschnittsdeutschen hätten gegenüber den Juden irgendwelche moralische Skrupel, die sie hätten überwinden müssen, gar nicht gehabt. Sie beteiligten sich vielmehr an den Greueltaten, weil sie von einer antisemitischen Tradition durchdrungen gewesen seien. Sie quälten und massakrierten Juden, ließen sie verhungern, machten sie zu ihrem Spielzeug, machten aus dem unaussprechlichen Leiden der Juden einen Sport, bestraften sie für ihr Dasein - und sie taten all das aus freien Stücken, sogar voller Eifer, mit unvergleichlicher Bosheit und Grausamkeit weil eben dies die direkte Konsequenz ihrer Weltsicht, ihrer spezfischen Gegenwelt war, die von der überwältigende Mehrheit der Deutschen geteilt worden sei. Diese Methode, sich auf das Irrationale der Weltanschauung der Deutschen tatsächlich einzulassen, birgt eine Gefahr: Sie ermöglicht die Abtrennung des Nationalsozialismus als eine Welt, die quasi auf einem anderen Planeten stattgefunden hat und von der deutschen Gegenwart insofern vollständig abgetrennt werden kann. Diese Abtrennung funktioniert: Als Goldhagen Anfang September Tausende in die Veranstaltungssäle lockte, hatte zeitgleich Helmut Kohl bei seinem Besuch in der Ukraine die dort gefallen Wehrmachtssoldaten - darunter mit Sicherheit auch Exekutoren des Holocausts - mit einem Kranz geehrt, ein Vorgang, der auch den Goldhagen-Fans offenkundig nicht weiter aufgefallen ist. Wir halten dennoch seinen methodischen Ansatz, in die Wahnwelt der TäterInnen sich hineinzudenken, für adäquat. Denn nur dann kann die immanente Vernunft, die den sinnlos erscheinenden Massentötungen und dem wahnwitzigen Erfindungsreichtum der deutschen Quäler und Quälerinnen zugrundelag, herausgearbeitet und als logische Konsequenz der apokalyptisch-antisemitischen Wahnidee erklärt werden.
Grundsätzlich haben wir bisher vor der folgenden schlechten Alternative gestanden: Wir waren entweder - Hannah Arendt oder Dan Diner folgend - geneigt, dem Holocaust eine immanente Rationalität grundsätzlich abzusprechen. Oder der Holocaust wurde rational erklärt - indem man ihn als die Begleiterscheinung eines sozialen Interesses - bei Aly und Heim die völkische orientierte Aussiedlungspolitik "normalisiert", d.h. um seine Singularität gebracht hat. Goldhagens Ansatz vermeidet beide Fehler. Er bietet die Chance eines Erklärungszusammenhangs, der die immanente Rationalität des Holocaust verstehbar macht, ohne ihn zu relativieren. In seiner Bewertung verzichtet Goldhagen auf alle die Beschönigungen deutschen Handelns, die hierzulande sonst üblich sind. So konterte er im ARD-Kreuzverhör die Behauptung, daß die Deutschen so antisemitisch nicht gewesen seien, mit einem in seiner Einfachheit frappierenden Vergleich: "Erlauben Sie mir, eine Frage zu stellen", erklärte Goldhagen seinen Kontrahenten. "Wenn die Nazis beschlossen hätten, die gesamte Münchener Bevölkerung zu deportieren oder zu töten. Glauben Sie, daß das die anderen Deutschen einfach ignoriert hätten, daß das ihnen egal gewesen wäre, daß sie nichts gemacht hätten?" Diese Frage ist banal. Sie kommt uns nur deshalb so ungewöhnlich vor, weil der hierzulande übliche Blick auf das deutsche Täterkollektiv stets ein anderer gewesen ist.
Ein abschließendes Beispiel: Goldhagen berichtet von der alltäglichen Jagd der deutschen Polizisten auf einzelne Jüdinnen und Juden, die sich mit großem Geschick Verstecke eingerichtet hatten, um ihrer Entdeckung und ErschieBung zu entgehen. Die Deutschen waren emsig bemüht, jedes dieser Verstecke aufzuspüren. Es wurde buchstäblich jede Wand abgeklopft und jeder Stein umgedreht. Einer der deutschen Polizisten berichtete später, daß er auf diese Weise einzelne Juden aufgespürt habe. Um sich zu entlasten, fügte er die folgende Aussage hinzu: "Die in beiden Verstecken aufgefundenen Juden sind aber nicht befehlsmäBig erschossen worden, sondern sind auf meine Anweisung zum Marktplatz gebracht worden." Immerhin hatte er sie nicht gleich erschossen, würde der deutsche Philister nun sagen. Goldhagen widerspricht fundamental. "Wenn diesem Mann zu glauben ist, dann zog er es vor, andere die Drecksarbeit machen zu lassen", so seine Kommentierung. "Hätte er die Tötung von Juden abgelehnt und nicht nur Abscheu davor empfunden, es selbst zu tun, dann wäre es ein Leichtes für ihn gewesen, die Juden, die alles versucht hatten, um unentdeckt zu bleiben, bewußt zu übersehen. Doch in seiner umfangreichen Zeugenaussage liefert er keinerlei Hinweis darauf, daß er und andere sich bemühten, die versteckten Juden nicht zu bemerken." (259) Was hier durch die deutsche Brille gesehen nur wie eine "Beihilfe zum Mord" erscheint, wird von Goldhagen, der diese Brille nicht akzeptiert, zu einem Schuldspruch ohne jede Einschränkung geradegerückt. Vollkommen zu Recht.
Soviel zu seiner Methode. Inhaltlich gehen wir auf vier Kernaussagen seines Buches gesondert ein:
1. Das kennzeichnende Merkmal des Nationalsozialismus ist der Holocaust.
2. Die antisemitischen Auffassungen der Deutschen waren die zentrale Triebkraft für den Holocaust.
3. Der Vernichtungseifer, den die ganz gewöhnlichen Deutschen in den Polizeibataillonen an den Tag gelegt hatten, war auch von den anderen ganz gewöhnlichen Deutschen zu erwarten.
4. Die Entlastungsthesen, mit denen die TäterInnen nach 1945 ihr Handeln mit verweis auf die äußere RahmenbedinqunneR zu rechtfertigen suchten, sind widerlegt.
Punkt 1: die Zentralität des Holocaust. Für Goldhagen war der Holocaust "ein spezifischer Grundzug der gesamten deutschen Gesellschaft während der NS-Zeit" (21), denn schon 1933 begann für die Juden, so Goldhagen der "soziale Tod." Was ist damit gemeint? "Sozial Tote", schreibt er, "werden gesellschaftlich als Wesen betrachtet, denen wesentliche Attribute des Menschseins fehlen und die daher sozialen, bürgerlichen und gesetzlichen Schutz nicht verdienen." (205f) Die Ausgrenzung der Juden war aber nur der erste Schritt auf einem Weg, der "geradewegs nach Auschwitz" geführt habe.(497) Zur Ausgrenzung kam "das Bedürfnis nach unumschränkter Macht über die Juden" (338), wie es später im Lagersystem, der "gröBten institutionellen Schöpfung des nationalsozialistischen Deutschland"(208), befriedigt werden konnte. "Die deutschen Aufseher waren die absoluten Herren über die Lagerinsassen" (212), sie waren gleichzeitig Aufseher, Richter und Henker, während die Häftlinge unter Bedingungen lebten, die, so Goldhagen, "in Europa seit Jahrhunderten beispiellos waren." (213) Dieses Lagersystem habe das nationalsozialistische Deutschland zunehmend definiert. "Hier kamen viele der Praktiken zur Anwendung, die NS-Deutschland einzigartig machen sollten; hier nahm der wahre Charakter des Regimes und der Gesellschaft Gestalt an." (209)
Auch der Krieg gegen die Sowjetunion war ein Mittel zur Vernichtung der Juden, sagt Goldhagen. Der Krieg mußte geführt werden, um, im Nazijargon, "das Ostjudentum als Keimzelle des Weltjudentums" vernichten zu können. Diese Priorität des Holocaust ist vielfältig belegt: Im Sommer 1944 pferchten die Deutschen z.B. noch 437.000 ungarische Juden mit Zielrichtung Auschwitz in 147 Eisenbahnzüge, die man als Transportmittel für die Erfordernisse des Krieges viel dringender benötigt hätte. Mehr noch als die Eroberung des Ostens galt dem Nationalsozialismus die Vernichtung der Juden als "ein nationales Projekt, damit das Volk gerettet würde", schreibt Goldhagen, und wir stimmen ihm darin zu.(474)
Punkt 2: Die antisemitische Auffassung als zentrale Triebkraft für den Holocaust.
Goldhagen grenzt sich von allen Versuchen ab, die Ermordung der Juden als einen Nebeneffekt zu begreifen, der sich quasi im Selbstiauf aus einer ganz anderen Zielbestimmung des Nationalsozialismus ergeben hätte. "Der Mord der Deutschen an den Juden war keine Begleiterscheinung irgendeiner anderen Zielsetzung", schreibt Goldhagen (335). Daß die Juden anders und bestialischer behandelt wurden, als andere Opfergruppen des Nationalsozialismus, erklärt er mit einem dämonisierenden Antisemitismus, der den TäterInnen eigen war. "Der deutsche Antisemitismus schrie nach Vergeltung, deren extremste Form die Vernichtung darstellte; und Vergeltung bedeutete für viele Deutsche, die Juden leiden zu lassen.
Goldhagen versucht diese TäterInnenmentalität mit der Verbreitung und der Ausprägung des antisemitischen Wahns in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu erklären.
"Der wohl auffälligste Zug an der deutschen Debatte um die Stellung der Juden", schreibt Goldhagen über das 19. Jahrhundert, "ist die Besessenheit, mit der dieses Thema aufgegriffen wurde." Die "deutsche Obsession", von der Goldhagen spricht, beruhe auf der tief verankerten Uberzeugung, daß Deutschland auf die eine oder andere Weise "judenrein" gemacht werden müsse, um einig und frei werden zu können. Goldhagen belegt die Allgegenwart des eliminatorischen Antisemitismus mit dem Beispiel der liberalen Befürworter der Judenemanzipation, die nichts anderes gewesen seien, als "antisemitische Wölfe im Schafspelz" (81), da sie ihr Angebot der Emanzipation stets mit der Forderung nach Verzicht auf die jüdischen Identität verknüpft hatten. Sie wollten ebenfalls die Juden eliminieren, wenn auch auf einem zivileren Weg. Schon im letzten Jahrhundert wurde die eliminierende Parole "Schmeißt sie raus!" nicht selten von einer "Auslöschungsmentalität" nach dem Motto "Bringt sie um!" abgelöst. Goldhagen zitiert eine Studie, derzufolge von 55 Texten zur sogenannten "Judenfrage", die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts erschienen sind, in 19 Fällen "die physische Vernichtung der Juden" (96) bereits propagiert worden sei.
Goldhagen betont jedoch, daß selbst 1933, als der eliminierende Antisemitismus das exterminatorische, also vernichtende Potential bereits in sich trug, noch verschiedene Handlungskonsequenzen möglich gewesen wären. (519) Um die Ausgrenzung der Juden zur Ausrottung zu steigern, um Worte in Taten zu verwandeln und den dazwischen liegenden moralischen Abgrund zu überwinden - dazu bedurfte es, so Goldhagen, der Mitwirkung des Staates und der Existenz eines charismatischen, von der Masse der Bevölkerung geliebten Führers. Es gehört allerdings zu den Schwachpunkten seiner Studie, daß er die Rolle der herrschenden Eliten bei der Machtübertragung auf Hitler nicht einmal erwähnt.
Punkt 3: Goldhagen spricht, und wir stimmen ihm darin zu, von "den Deutschen", die den Holocaust exekutiert haben. Die hier so beliebte Etikettierung 'Nazis'oder 'SS-Männer' lehnt er als vernebelnd ab. "Der einzig angemessene allgemeine Begriff für diejenigen Deutschen, die den Holocaust vollstreckten, lautet 'Deutsche'".(19) In den Zeugnissen der Überlebenden des Holocaust werden als TäterInnengruppe ohnehin selbstverständlich "die Deutschen" identifiziert. Zum Beispiel bei Jean Amery, der in den entscheidenden Jahren in Deutschland lebte. Ihm seien, schreibt Amery, "die Verbrechen des Regimes als kollektive Taten des Volkes bewußt geworden. Jene, die im Dritten Reich aus dem Dritten Reich ausgebrochen waren, sei es auch nur schweigend, durch einen bösen Blick nach dem SS-Rappostführer Rakas, durch ein mitleidiges Lächeln für uns, durch ein schambezeugendes Niederschlagen der Augen - sie waren nicht zahlreich genug, in meiner ziffernlosen Statistik den rettenden Ausschlag zu geben." "Mit unseresgleichen anders als grob befehlend zu reden" habe die Masse der Autoritätsberauschten "nicht nur als ein Verbrechen gegen den Staat, sondern gegen ihr eigenes Ich" angesehen. (Amery, Jenseits von Schuld und Sühne, S.117ff) Da man hierzulande aus der Täterperspektive argumentiert, wird Goldhagen der Vorwurf eines unzulässigen Umkehrschlusses gemacht. Denn die Aussage, "Die Killer waren normale Deutsche", schrieb zum Beispiel Josef Joffe, sei nicht identisch mit dem Umkehrschluß: "Die normalen Deutschen waren Killer", da die A-Menge mit der B-Menge nicht identisch ist.
Goldhagen erklärt demgegenüber, daß die Vollstrecker des Holocaust zu einem großen Teil normale, vollkommen repräsentative, nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Deutsche gewesen sind. Daß das Handeln einer zufällig ausgesuchten, repräsentativen Gruppe auf die Allgemeinheit übertragen wird, ist allgemein anerkanntes sozialwissenschaftliches Prinzip und z.B. Grundlage jeder Meinungsumfrage. "Es können, ja es müssen", schreibt Goldhagen, "die Schlußfolgerungen aus dem Handeln der Polizeibataillone und ihrer Angehörigen auf das deutsche Volk insgesamt übertragen werden. Was diese ganz gewöhnlichen Deutschen taten, war auch von anderen ganz gewöhnlichen Deutschen zu erwarten."(471)
Punkt 4: Goldhagen konterkariert und widerlegt die gängigen Entiastungsthesen, die die Ursache für die Verbrechen der Deutschen allen möglichen anderen Faktoren zuschreiben, nur nicht dem Willen der Akteure: Befehiszwang, blinder Gehorsam, sozialer Erwartungsdruck, Karrierismus, bürokratische Kurzsichtigkeit. Diesen Erklärungsansätzen gemeinsam ist die Vermutung, daß die TäterInnen ihren Handlungen zumindest neutral, wenn nicht sogar ablehnend gegenüberstanden.(27) Dieser TäterInnenschutz hatte jahrzehntelang auch eine außenpolitische Funktion: Die Entiastung der deutschen Vollstrecker war international die Voraussetzung, um im Rahmen des "Kalten Krieges" die Wiederbewaffnung und NATO-Mitgliedschaft der deutschen Holocaust-Vollstrecker legitimieren zu können.
Goldhagen zitiert Männer aus den Polizeibataillonen, die bezeugen, daß "wir wiederholt, meiner Meinung nach monatlich, entsprechend einem Himmler-Befehl belehrt wurden, daß uns niemand befehlen könne, jemanden zu erschießen". Dutzendfach wird belegt, daß Deutsche mit Erfolg und ohne persönliche Nachteile aus den Mordinstitutionen sich haben versetzen lassen können. Von der Möglichkeit, sich dem Massenmord zu entziehen, wurde jedoch kaum Gebrauch gemacht: Einen Mangel an Freiwilligen gab es nie. "Den Worten eines führenden deutschen Polizeibeamten zufolge, der in der Umgebung von Krakau Dienst tat, waren seine Kameraden, bis auf wenige Ausnahmen gerne bereit, bei Erschießungen von Juden mitzumachen. Das war für sie ein Fest! ... Der Haß gegen die Juden war groß, es war Rache." (464)
Goldhagen widerspricht grundsätzlich dem Selbstverständnis, wonach die Deutschen zwischen 1933 und 1945 "passive Schachfiguren oder terrorisierte Opfer ihrer eigenen Regierung" gewesen seien. Er erwähnt ingesamt 192 Streiks allein in den Jahren 1936/37, von denen viele erfolgreich verlaufen seien. Im Unterschied zum Holocaust ist das Euthanasieprogramm, in dessen Verlauf deutsche Ärzte mehr als 70.000 deutsche Behinderte umbrachten, auf Empörung gestoßen. "Die Deutschen hielten diese Morde erstens für falsch", schreibt Goldhagen. "Sie brachten zweitens ihre Ansichten darüber zum Ausdruck, forderten drittens ein Ende der Tötungen, hatten viertens deswegen keine Nachteile zu erleiden und hatten fünftens zumindest teilweise Erfolg, denn sie erreicheten einen offiziellen Abbruch des Mordprogramms." Zwar wurde die Euthanasie von nun an heimlich fortgesetzt. Dennoch hatten hier die Deutschen, kommentiert Goldhagen, "modellhaft gezeigt, wie eine Reaktion auf die Verfolgung und Ermordung der Juden hätte aussehen können: moralische Bewertung und Erkenntnis, Ausdruck, Protest und, möglicherweise, Erfolg." (151) Stattdessen gab es beim Judenmord das merkwürdige Phänomen, "daß diese größten Verbrechen des NS-Regimes nicht einmal jene erregte, die sich ihm ansonsten widersetzen."(147)
Die Feinde des Regimes, Martin Niemöller zum Beispi el, Karl Barth oder Dietrich Bonhoeffer hatten den Antisemitismus grundsätzlich bejaht und zum Teil entsprechende Denkschriften über die "Judenfrage" verfasst. Die "hochentwickelte, seit langem bestehende, wahnhafte und besondere deutsche Vorstellung von den Juden" (149f) hatte somit die Wahrnehmung der Nationalsozialisten und ihrer Gegner bestimmt. "Die Deutschen konnten zum Massenmord nein sagen", schreibt Goldhagen. "Sie haben sich dazu entschlossen, ja zu sagen." (446) Sie haben bekanntlich nicht nur ja gesagt. Der Ruf der Deutschen, berichtete später ein Überlebender des Holocaust, "ist deswegen so übel, weil sie über die Befehle hinaus und zusätzlich zu ihnen, individuell und freiwillig, aktiv und stillschweigend, das offizielle (Vernichtungs)Programm guthießen, genossen und erweiterten "
Diese vier Punkte - Bedeutung des Holocaust, Bedeutung des Antisemitismus, Verallgemeinerung auf die Deutschen, Betonung des Vernichtungswillens - sind auch für die deutsche Linke eine Provokation.
Welche Bedeutung hat die Goldhagen-Studie für die hiesige Linke?
Was Goldhagen präsentiert, hätte man eher wissen können, wenn man es im Land der TäterInnen eher hätte wissen wollen. Die Mehrheit will es ohnehin nicht wissen, aber auch in der Linken ist das analytische Interesse am Holocaust von einer spezifischen Befangenheit geprägt. Diese Befangenheit kommt schon darin zum Ausdruck, daß sich an die deutschen Vollstrecker und die seit immerhin Anfang der 60er Jahre vorliegenden Akten über diese Vollstrecker niemand herangetraut hat. Sofern man sich mit der Masse der normalen deutschen Holocaust-Exekutoren überhaupt befaßt hatte, hat man sich diesen mit positiver Voreigenommenheit genähert: Die altgedienten Entlastungsargumente der Nachkriegszeit hat das Gros der deutschen Linken wie selbstverständlich für bare Münze genommen und nachgeplappert. Die sozialistische Zeitung SOZ hat vor wenigen Tagen eine durchaus exemplarische Aussage des Trotzkisten Ernest Mandel veröffentlicht und gegen Goldhagen ins Feld geführt. Wir zitieren diese Aussage, weil sie typisch ist und weil man ihren Kerngehalt in der linken Publizistik der letzten Jahrzehnte in tausend Varianten wiederfinden kann. "Die Durchtührung des Holocaust erforderte die Teilnahme von mehreren Millionen Menschen auf verschiedenen Ebenen der aktiven und passiven Komplizenschaft", stellt Mandel zunächst zutreffend fest. Unter diesen habe es zwar eine Minderheit von Psychopathen und Fanatikern gegeben, "aber die Mehrheit handelte aus Gehorsam, aus Routine oder aus Kalkül. "Der Holocaust", fährt Mandel fort, "ist auf der Ebene der Mentalitäten auch das Ergebnis der Doktrin, daß der Staat das Recht habe, den Individuen Aktionen aufzubürden, die diese ... in ihrem Innersten ... als Verstoß gegen die Grundregeln der Ethik empfinden." (SOZ, 5.9.96) Mandel hatte die Mentalitäten der TäterInnen nicht wirklich untersucht. Dennoch ging er wie selbstverständlich davon aus, daß die Mehrheit der Vollstrecker das, was sie tat, "im Innersten" verabscheut hatte. Entgegen seiner Intention hat er damit - und wir zitieren ihn stellvertretend für die Linke insgesamt - das Entlastungsmuster der TäterInnen akzeptiert. Er hat aus deutschen Weltanschauungskriegern Individuen gemacht, denen der Befehl, Juden zu erschießen, "aufgebürdet" worden sei. Die im Grunde so einfache Erkenntnis, daß die Vernichtung der Juden nur möglich wurde, weil die Masse der Deutschen dies richtig fand, wurde demgegenüber auch in der Linken nicht einmal als These formuliert. Warum?
Tatsache ist, daß sich die im weitesten Sinne marxistisch orientierte Erforschung des Nationalsozialismus durch eine ganz außergewöhnliche Menge an Fehlern, Auslassungen und Defiziten ausgezeichnet hat. Man hat zum Beispiel Dimitroff folgend, den NS als "faschistische Diktatur der Kapitalistenklasse über die Arbeiterklasse" und den Holocaust als die bloRe Steigerung eines dem Imperialismus "allgemeinen Rassismus" - etwa in Texten des Kommunistischen Bundes interpretiert. Man hat nicht untersuchen wollen, was wirklich war, sondern sich das herausgegriffen, was mit bestimmten Prämissen des "Marxismus-Leninismus" oder einer sonstwie definierten fortschrittlichen Gedankenwelt vereinbar schien. Eine zentrale Prämisse war, daß das Postulat von der Unschuld der Mehrheit der Deutschen und das Postulat von der Unschuid der deutschen Arbeiterbewegung als der "eigentlichen" Opfergruppe um jeden Preis zu retten sei. Die Prämisse von der Ablehnung des Nationalsozialismus durch die Bevölkerungsmehrheit ist auch gegenwärtig noch virulent. Wir zitieren eine autonome Kritik aus der Zeitschrift "Swing" am antinationalen Politikansatz von 1995: "Mit wem wollen diese Menschen" - wir sind gemeint - "denn eine bessere Welt aufbauen, wenn die deutsche Bevölkerung, wie sie schreiben, den Faschismus wollte." Wir können die Frage, wie eine "bessere Welt" zu erreichen ist, auch heute noch nicht beantworten. Wer allerdings so, wie die Fragesteller, die historische Analyse - "Hat eine Mehrheit den Faschismus unterstützt?" mit der Machbarkeit heutiger Politikansätzen verknüpft, wird vom Nationalsozialismus immer nur das wissen wollen, was dem momentanen politischen Projekt gerade dient.
Wer die Realitäten des exterminatorischen Antisemitismus auszublenden und die Mehrheit der Deutschen somit nolens volens zu entlasten sucht, wird aber ganz zwangsläufig auch den Holocaust durch eine falsche Optik betrachten, welche die deutschen Spezifika entlastet und relativiert, womit wir bei Götz Aly und Susanne Heim angelangt wären.
Die hiesige Linke hatte das berühmte, unbedingt auch auf Goldhagen zu münzende Wort von Max Horkheimer, wonach, wer vom Faschismus rede, über den Kapitalismus nicht schweigen dürfe, vollkommen zutreffend gegen jene verwandt, denen genau dieser Zusammenhang immer ein Dorn im Auge gewesen ist. Man hatte aber zugleich das Horkheimersche Diktum zum Alibi genommen, um auch den Holocaust in die lange Tradition und Gegenwart imperialistischer Vernichtungspolitik einzureihen, ihn seiner deutschen Spezifik also zu berauben. Diesen Fehler machten u.E. Götz Aly und Susanne Heim, die mit ihren Studien Anfang der 90er die letzte ggroße Holocaust-Debatte der deutschen Linken ausgelöst hatten.
Heim und Aly haben den Einfluß der "planenden Intelligenz" auf die Gestaltung der Nazipolitik erforscht und fundiert bewiesen, daß auch diese dem Regime nicht als Befehlsempfänger gefolgt, sondern ihm als hochmotivierte, geradezu freudige Vorplaner der Vernichtung vorausgeeilt sind. Sie haben, durchaus verdienstvoll, die völkische NS-Bevölkerungspolitik als einen zentralen Topos der deutschen Expansionspolitik thematisiert, ein Aspekt, der hier im Einzelnen nicht dargestellt werden kann. Ihr Fehler lag darin, sich an diesem Punkt der Bevölkerungspolitik wie der Ertrinkende an den Strohhalm geklammert zu haben, um eine "Ökonomie der Endlösung" nachweisen und den Holocaust mit ökonomischen Sachzwängen erklären zu können. "Völkermord war hier eine Form, die soziale Frage zu lösen", heißt es bei ihnen pointiert und im Gegensatz zu Goldhagen, der den Holocaust nicht als eine beliebige Form, sondern als den zentralen Inhalt der nationalsozialistischen Politik interpretiert. (vgl. Schneider, Vernichtungspolitik, S.20)
Die Massentötungen seien von ihren Urhebern "als ein Mittel zur Rationalisierung der Wirtschaft begriffen worden", schreiben Aly und Heim. Man habe verarmte Juden als unproduktive Esser vernichten und damit "die 'toten Kosten' verringern (und) die gesamtgesellschaftliche Produktivität steigern" wollen. Insofern sei die "Judenvernichtung ... Teil eines großen sozialpolitischen Angriffs (gewesen), der auf die Neuordnung der gesamten Klassenverhältnisse zielte". (Zit. nach D. Diner, in: VfZ 3/92)
Heim und Aly unterschätzen die Eigenständigkeit und die Wirkungskraft der nationalsozialistischen Ideologie, wenn sie behaupten, diese habe zwar ausgereicht, um Pogrome und einzelne Massaker auszulösen, wohingegen für die Vernichtung der Juden das ökonomisch- bevölkerungspolitische Kalkül entscheidend gewesen sei. Sie verwandeln den exterminatorischen Antisemitismus, den sie mit Rassismus verwechseln, in ein beliebiges Vehikel zur Durchsetzung unmittelbarer sozialer Interessen. Götz Aly behauptet allen Ernstes, daß es beim Holocaust "nicht um 'Weltanschauung' gegangen" sei: "Die Naziideologie" sei "prinzipiell offen" gewesen und habe sich den klassenpolitischen Erfordernissen lediglich angepasst. (VfZ, 4/93)
In seiner zustimmenden Rezension über Aly und Heim hatte Karl Heinz Roth 1991 den Utilitätsgedanken weiter zugespitzt: "Die 'Entjudung'", schreibt er, "diente dazu, unkontrollierbar werdende sozialpolitische Krisenerscheinungen, wie beispielsweise die Wohnungfrage, zu kompensieren." Der Holocaust habe dazu beitragen sollen, "die NS-Diktatur mit Hilfe bevölkerungsökonomischer Strategien zur 'Endiösung der sozialen Frage' in Europa zu befähigen." (in: W. Schneider, Hrsg., Vernichtungspolitik, S. 184ff) Der übliche imperialistische Versuch also, mit der "sozialen Frage" fertig zu werden, völkisch in diesem Fall aufgeladen und quentitativ ein wenig gesteigert. Daß bei dieser Betrachtungsweise die Rolle der unmittelbaren deutschen TäterInnen automati sch ausgeblendet und die Frage, warum der Holocaust gerade und nur von Deutschland aus organisiert worden ist, in den Hintergrund gedrängt wird, ist offensichtlich.
Diese Ignoranz gegenüber der antisemitischen Ideologie wird durch Goldhagens Studie ebenso nachhaltig erschüttert wie das Bedürfnis, die Mehrheit der normal arbeitenden Deutschen doch noch irgendwie zu entlasten.
Exemplarisch zeigt dies die mehrfach veröffentliche Goldhagen-Kritik von Reinhard Kühnl, dem bekanntesten fortschrittlichen NS-Forscher der BRD, der den von Goldhagen aufgezeigten Fakten zu entkommen sucht. Nach der Lektüre von Goldhagen gebe es "vor der Frage", so Kühnl, "wie Hundertausende 'normale' deutsche Bürger ein solches Maß an Brutalität und Mordbereitschaft entwickeln konnten, ... kaum ein Entkommen." Diese Wortwahl ist nicht nur verräterisch: Sie spricht Bände. Denn genauso verhält es sich. Seit über 30 Jahren befinden sich Kühnl und seine Anhänger auf der Flucht mit dem Ziel, der einfachen Wahrheit: "No Germans, no Holocaust" zu entkommen.
Kühnls beleidigter Gestus gegen Goldhagen macht deutlich, daß er seine Fluchtversuche fortsetzen will. Goldhagens Rede von "den Deutschen" sei "politisch fatal", so sein Einwand. "Wir würden uns geistig wehrlos machen, wenn wir die humanistischen, demokratischen, sozialistischen und antifaschistischen Traditionen, die ... auch in Deutschland lebendig waren, aus unserem Bewußtsein löschen würden." (jW, 24.6.96) Da Goldhagen solch eine Bewußtseinsauslöschung an keiner Stelle verlangt, hat Kühnl damit einen Scheineinwand erhoben, der zweierlei signalisiert. Erstens das Bedürfnis, das Verhalten der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung im Nationalsozialismus auch weiterhin nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Zweitens den Bedarf nach einer politischen linken Identität, die sich mit Stolz auf die deutsche Geschichte beziehen kann. Daß Goldhagen eine solche Identitätsfindunn erheblich erschwert hat, auch das rechnen wir ihm als Verdienst an.

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Most recent revision: April 07, 1998

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