[Anmerkung: Der folgende Text enthält einen sachlichen Fehler. Die ehemaligen
Ostblockstaaten werden als "kommunistisch" bezeichnet. Korrekter bezeichnet
sind sie als staatskapitalistisch oder sozialnationalistisch. Kommunismus dagegen
intendiert die Aufhebung jeder Form von Klassenherrschaft und staatlicher Herrschaft
zugunsten einer staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft, nicht die staatliche
Verwaltung einer Diktatur über das Proletariat. Kommunismus ist eine bislang
noch nicht versuchte Alternative zum Kapitalismus, nicht dessen bloße Verstaatlichung.]
LOTHAR MERTENS
Antizionismus: Feindschaft gegen Israel als neue Form des Antisemitismus
Das Verhältnis des im Jahre 1948 gegründeten Staates Israel zu den beiden
deutschen Nachfolgestasten Bundesrepublik Deutschland und DDR ist wegen der nationalsozialistischen
Judenverfolgung durch eine gemeinsame, leidvolle Geschichte bestimmt. Das spannungsvolle
und emotionsgeladene Verhältnis wurde aber nicht nur durch die Shoa, die Vernichtung
des europäischen Judentums durch den NS-Rassenwahn, belastet, sondern auch
durch die unterschiedliche Behandlung der Wiedergutmachungsfrage sowie die politischen
Divergenzen in der Beurteilung des seit Gründung des jüdischen Staates
ungelösten Palästinenserproblems (die im Jahre 1994 ausgehandelte Autonomie
ist ein erster Lösungsschritt).
Aufgrund der ambivalenten, politisch unterschiedlichen Grundausrichtung und Bündniszugehörigkeit
kam es in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR zu unterschiedlichen Einstellungen
gegenüber dem Staat Israel. Der Antizionismus erscheint nur vordergründig
als eine eigenständige Geisteshaltung, in Wirklichkeit ist er nur eine neue,
verkappte Form eines latenten Antisemitismus, der im Gegensatz zur tradierten Judenfeindschaft
weniger religiöse als vielmehr politische und ökonomische Gründe
hat.(1) Antizionismus als ideologischer Standpunkt äußerte
sich in den zwei deutschen Staaten unterschiedlich. In der Bundesrepublik blieb
der Antizionismus vornehmlich singulär und weitgehend auf die linkspolitischen
Strömungen beschränkt (in rechtsextremen Kreisen sind eher tradierte antisemitische
Einstellungen zu finden, die auf den Staat Israel übertragen werden). Anders
war die Situation in der DDR. Dort wurde der Zionismus staatlicherseits zu einer
"Abart" des kapitalistischen Imperialismus erklärt. Daraus folgte,
daß der sich als antifaschistisch definierende Staat einerseits den traditionellen
Antisemitismus verdammte und bekämpfte, andererseits jedoch der Antizionismus
als staatlich sanktionierte und propagierte Kritik am Staat Israel legitimiert wurde.
Bundesrepublik Deutschland
Die vor dem sogenannten Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 pro-israelische Einstellung
vieler Linker in der Bundesrepublik Deutschland wandelte sich zunehmend in eine
kritische, antizionistische Haltung. Bis zum Jahre 1967 waren regelmäßige
Israel-Aufenthalte progressiven Bundesbürgern geradezu ein Bedürfnis.
Schien doch im Kibbuzsystem die Verbindung von selbstbestimmter Arbeit und emanzipatorischen
Lebensformen verwirklicht zu sein; insbesondere, da diese sozialistische Gesellschaftsform
ohne Mauern und Stacheldraht existieren konnte. Die existenten Widersprüche
des israelischen Alltags wurden zwar schmerzlich konstatiert, jedoch weder intellektu-
ell noch theoretisch verarbeitet.(2)
Die Umkehrung dieser idealistischen Identifikation in eine ablehnende Gegenidentifikation
der Entsolidarisierung mit Israel nach 1967 war im übrigen ein internationaler
Vorgang, der in der Bundesrepublik allerdings besonders nachwirkte.
Die vielbeschriebene Generation der 68er, die aus der verdrängten, nicht aufgearbeiteten
nationalsozialistischen Vergangenheit ihrer Vätergeneration heraus eine positive
Grundhaltung gegenüber dem jüdischen Staat als der Heimstätte der
überlebenden Opfer der Shoa einnahm, wandte sich nun dem scheinbar antiimperialistischen
Freiheitskampf der Palästinenser zu. Dieser wurde nun hervorgehoben und als
gerechte Sache propagiert, als ob es die Palästinenserfrage nicht bereits vor
1967 gegeben hätte. Verbunden mit dieser Hinwendung war die Entsolidarisierung
mit Israel, die durch einzelne Gewaltaktionen, wie z.B. die Massaker in den libanesischen
Flüchtlingslagern im September 1982, in eine radikale Dämonisierung umschlug.
Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und Israel im Jahre 1965 sowie das soziale Engagement des konservativen Verlegers
Axel Springer in Israel ließen, zumindest in der studentischen Linken, das
Gefühl aufkommen, ihrer historisch exklusiven Avantgarderolle einer solidarischen
pro-israelischen Politik beraubt worden zu sein. Diese Positionsbelegung durch die
offizielle bundesdeutsche Außenpolitik beendete die ideologische Interdependenz
von pro-israelischem Engagement und systemkritischer Erörterung der westdeutschen
Gesellschaft. Neben anderen philosemitischen Aktionen (3)
irritierten vor allem die auf Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen zielenden
Israelaktivitäten des ideologischen Opponenten Springer und die dezidiert pro-israelische
Berichterstattung seiner Zeitungen die Studentenbewegung. Deren Trugschluß
lautete: "Wenn Springer für den Staat Israel ist, dann können wir
nur gegen ihn sein."(4) Mit der gleichzeitigen
politischen Wahrnehmung der im Jahre 1964 in Kairo gegründeten "Palästinensischen
Befreiungsorganisation" (PLO) als einer sozialrevolutionären und antiimperialistischen
nationalen Befreiungsbewegung des palästinensischen Volkes mutierte der jüdische
Staat für die deutsche Linke rasch zum diabolischen Brückenkopf des "US-Imperialismus"
im Nahen Osten. Auch die "Gnade der späten Geburt" ermöglichte
es vielen Linken, nach dem Sechs-Tage-Krieg vom Juni 1967 eindeutig Partei für
die Palästinenser zu ergreifen und Israel als "Aggressorstaat" zu
verurteilen.(5) Angelehnt an die politischen Diffamierungen
der kommunistischen Ostblockstaaten, denen zufolge der Zionismus gleichzusetzen
war mit Imperialismus, Kolonialismus und Rassismus, wurde eine antizionistische
Einstellung nun gesellschaftsfähig.
Berechtigte Kritik an der Politik der israelischen Regierung ist ebenso legitim
wie die an den Handlungen anderer Regierungen, die gegen völkerrechtliche Normen
und Konventionen verstoßen. Dabei müssen jedoch die gleichen Maßstäbe
angelegt werden, und es sollten, besonders im negativen Sinne, keine falschen historischen
Parallelen gezogen werden. Doch genau hier wird der verdeckte Antisemitismus der
vorgeblich antizionistischen Äußerungen häufig sichtbar. Die auffällige
Synchronität in der Wortwahl oder zum Verwechseln ähnliche Karikaturen
belegen die Deckungsgleichheit der Begriffe augenfällig.(6)
Henryk Broder zufolge ging es dem linksoppositionellen Antizionismus gar nicht um
eine konstruktive Kritik des Staates Israel oder eine differenzierte Beurteilung
der israelischen Regierungsarbeit, sondern für ihn stand die Existenzberechtigung
des jüdischen Staates überhaupt im Mittelpunkt der antizionistischen Verlautba-
rungen.(7) Im Gegensatz zur DDR verweigerten die offiziellen
Vertreter der Bundesrepublik Deutschland wie auch die Repräsentanten der beiden
christlichen Kirchen den verschiedenen antizionistischen Resolutionen der UNO ihre
Zustimmung.(8)
Schick wurde es jedoch, wie beispielsweise in der grün-alternativen Szene der
80erJahre und ihrem politischen Vertretungsorgan, der Partei "Die Grünen",
sich dezidiert gegen jegliche Form von Antisemitismus in der Bundesrepublik zu wenden,
zugleich aber einen als antiisraelische Stellungnahme verbrämten Antizionismus
zu pflegen(9), der in der Wortwahl und der Vermischung
der Realitäten deutlich antisemitische Muster offenbarte.(10)
Diese Einstellung ließ sich teilweise auch in der westdeutschen Tagespresse
wiederfinden.(11) Charakteristisch für dieses
Handlungsmuster, das bis weit in bürgerlich-liberale Kreise hineinreicht, sind
die unterschiedlichen Sympathiewerte für in der Bundesrepublik lebende Juden
und für Israelis. Infolge eines wenig differenzierten Israelbildes sind die
Sympathiewerte für die in Deutschland lebenden Juden deutlich stärker
ausgeprägt. Lediglich unter den Anhängern rechtsextremer Parteien zeigt
sich eine starke Ablehnung gegenüber in Deutschland lebenden Juden, die in
diesem Bevölkerungssegment sogar über die Ablehnung von Israelis hinausgeht.
Nach den empirischen Untersuchungen von Bergmann/Erb (12)
lassen sich im bundesdeutschen Israelbild fünf Dimensionen unterschiedlicher
Bedeutung konstatieren, wobei die zwei erstgenannten dominant sind: "1. eine
ambivalente Einstellung zur Abhängigkeit Israels von den USA; zum Einfluß
Israels auf die Welt und zur Anerkennung seiner militärischen Stärke.
2. die Anerkennung der Leistungen Israels auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet
angesichts einer ständigen Bedrohung von außen. Schwächer ausgeprägt
sind die drei anderen Dimensionen: 3. die scharfe Kritik an der israelischen Politik.
4. die Ablehnung der Wiedergutmachung und der Mahnungen Israels, die Vergangenheit
nicht zu vergessen. 5. die Auffassung, Israel sei ein Staat wie jeder andere."(13) Zusammenfassend läßt sich konstatieren,
daß für die meisten Befragten die Beziehungen zum Staat Israel stärker
von einem an der tagespolitischen Aktualität orientierten Handeln als von der
besonderen gemeinsamen Geschichte dominiert werden. Außerdem bietet die Anlegung
besonders strenger moralischer Maßstäbe an den jüdischen Staat seinen
kritischen Beobachtern die Möglichkeit, die israelisch-jüdische Kritik
an der Bundesrepublik im allgemeinen und ihrem Umgang mit der Judenverfolgung im
besonderen zu relativieren und zur Entlastung zu instrumentalisieren, beispielsweise
wenn israelische Militäraktionen gegen die revoltierende palästinensische
Zivilbevölkerung mit dem Verhalten des nationalsozialistischen Deutschlands
gegen die jüdischen Bürger seit Mitte der 30er Jahre verglichen wurden.
Darüber hinaus zeigen die empirischen Untersuchungen für die alten Bundesländer
Ende der 80erJahre, je stärker die antisemitische Überzeugung ist, desto
höher ist der Grad der gleichzeitigen antizionistischen Einstellungen.(14) Der Antizionismus wird jedoch auch noch aus anderen Quellen
gespeist. So bildet die negative Haltung zum Staat Israel einen partiell eigenständigen
Motivbereich, der, differenziert nach parteipolitischer Präferenz, deutlich
unterschiedliche Rekrutierungsmuster aufweist. Während für die CDU/CSU-Wähler
mit antizionistischer Einstellung nur eine sehr geringe gleichzeitige Unterstützungsbereitschaft
für die Palästinenser erkennbar ist, ist diese bei antizionistisch eingestellten
Wählern der Grünen nach Bergmann/Erb doppelt so hoch. Darüber hinaus
ist, im Unterschied zum Antisemitismus, ein deutlich geringerer altersbedingter
Anstieg konstatierbar, so daß keine klaren Generationsbrüche in der antizionistischen
Einstellung sichtbar sind.
DDR
Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) verstand sich von ihrem Staatsverständnis
her als ein "antifaschistisches" Land, in dem der Antisemitismus angeblich
"mit der Wurzel ausgerottet war". In diesem von Ignoranz gekennzeichneten
Selbstverständnis der kommunistischen Machthaber lag eine der Lebenslügen
des zweiten deutschen Staates begründet, da die Vergangenheitsbewältigung
der Millionen Mitläufer ausblieb und nie eine ernsthafte und repressionsfreie
Auseinandersetzung mit der NS-Zeit stattfand. Deshalb wurden antisemitische Grundtendenzen
in der Bevölkerung bewuRt negiert und vertuscht, da die DDR doch "antifaschistisch"
sein sollte. Zugleich wurde staatlicherseits der Antizionismus nicht nur geduldet,
sondern sogar tagtäglich in den zentral gelenkten Massenmedien praktiziert.(15)
Exemplarisch für dieses ambivalente Selbstverständnis der SED zu Beginn
der fünfziger Jahre waren die Anschuldigungen und haltlosen Vorwürfe gegen
das Politbüromitglied Paul Merker, der bereits vor 1933 Mitglied des Zentralkomitees
der KPD war und während des Dritten Reiches in Mexiko im Exil lebte. In der
Exilantenzeitschrift 'Freies Deutschland' publizierte Merker regelmäßige
Beiträge, deren Inhalte - bewußt falsch interpretiert - ihm später
zum Verhängnis werden sollten. Die Nachkriegsprozesse gegen bulgarische und
ungarische Kommunisten im Jahre 1949 und den Generalsekretär der tschechoslowakischen
KP, Rudolf Slansky, 1952 waren das Vorbild für die gegen Paul Merker erhobenen
Vorwürfe, die dem gleichen Schema folgten: willkürlich konstruierte oder
völlig frei erfundene Beschuldigungen der jeweiligen Angeklagten als Verschwörer
und imperialistische Agenten sowie drakonische Urteile nach der "Uberführung"
oder den erzwungenen Selbstbezichtigungen.
Die "Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky",
wie der Beschluß des SED-Zentralkomitees vom Dezember 1952 betitelt war, verhüllten
die antisemitische bzw. - wie es im offiziellen Sprachgebrauch hieß - die
antizionistische Haltung der SED kaum: "Die zionistische Bewegung hat nichts
gemein mit Zielen der Humanität und wahrhafter Menschlichkeit. Sie wird beherrscht,
gelenkt und befehligt vom USA-Imperialismus, dient ausschließlich seinen Interessen
und den Interessen der jüdischen Kapitalisten."(16)
Die von den Emigranten in Mexiko herausgegebene Zeitschrift 'Freies Deutschland'
habe sich immer mehr zu einem "Publikationsorgan zionistischer Auffassungen"
entwickelt. Nachdem von Merker die Leitung der Emigrationsgruppe übernommen
worden sei, habe in 'Freies Deutschland' "die Verteidigung der Interessen zionistischer
Monopolkapitalisten" begonnen.
Angelastet wurde Merker dabei auch die angebliche Forderung nach "Finanzierung
der Auswanderung jüdischer Kapitalisten nach Israel".(17)
In seiner im Jahre 1942 verfaßten Fürsprache für die Emigranten,
die ihm nun von der SED angelastet wurde, hatte Merker jedoch überhaupt nicht
von Israel (oder damals) Palästina gesprochen.
Nach dem Ende des Stalinismus betrieb die SED seit den 60er Jahren beharrlich eine
ideologische Quadratur des Kreises in der Definition von "Judentum". Die
Partei stand vor der schwierigen Aufgabe, den Bürgern erklären zu müssen,
daß Jude nicht gleich Jude war, sondern daß es auf dessen Klassenzugehörigkeit
ankomme. Während der Antizionismus als Ausdruck des kommunistischen Internationalismus
angesehen wurde, galt der Antisemitismus ebenso wie der Zionismus als ein kapitalistischer
Stellvertreter der Bourgeoisie, durch den die Klassengegensätze der politischen
Systeme verdeckt werden sollten.(18) Der antagonistische
Widerstreit zwischen sozialistischer Ideologie und alltäglicher Politik, in
dem sich die SED permanent befand, entstand aus den zwei divergierenden Konsequenzen
für den real existierenden Sozialismus in der DDR. Zum einen war man an der
Existenz der kleinen jüdischen Gemeinden mit weniger als 400 Mitgliedern als
Demonstrationsobjekt religiöser Freizügigkeit interessiert, zum anderen
konnte man sie nicht als ein gültiges Element der real existierenden sozialistischen
Gesellschaft ahzeptieren.(19)
Die antiisraelischen Angriffe der DDR-Regierung und der staatlich gelenkten Massenmedien
im Juni 1967 (20) waren ein deutliches Zeichen der
weiterhin antizionistischen Haltung des sozialistischen Staates DDR. Die zusätzliche
agitatorische Instrumentalisierung des Antisemitismus für politische Zwecke
zeigte sich beispielsweise im politischen Umgang mit der Bundesrepublik Deutschland.
Allzu durchsichtig und einseitig war die Kritik am damaligen Bundestagspräsidenten
Eugen Gerstenmaier im September 1967, der ungeachtet seiner aktiven Beteiligung
am deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus der Bagatellisierung des Neonazismus
geziehen wurde. Im Frühjahr 1967 wurde bereits auf einer "internationalen
Pressekonferenz" der Vorwurf erhoben, in der Bundesrepublik seien "Judenfeinde
an der Macht". Die Aneignung jüdischer Interessen durch die SED hatte
sich aber schon zweiJahre zuvor gezeigt, als im Jahre 1965 die kontroverse Debatte
im Deutschen Bundestag und der Öffentlichkeit um die Verjährungsfristen
von Naziverbrechen in einen "Protest der ganzen Welt" uminterpretiert
wurde.(21) Verständlicherweise hatte es von jüdischer
Seite, vor allem aus den USA und Israel, ablehnende Stimmen gegeben. Aber dieses
Thema so hoch zu spielen, bestand für die DDR überhaupt kein Anlaß,
da zur gleichen Zeit auch die Schlußgesetze zur Wiedergutmachung beschlossen
wurden - eine Problematik, der sich der zweite deutsche Staat während seiner
gesamten Existenz kategorisch verweigert hatte. Und im Gegensatz zur Bundesrepublik
Deutschland, die seit 1965 diplomatische Beziehungen zum Staat Israel unterhält,
begann die DDR erst nach der politischen Wende, unter der Regierung Modrow, Kontakte
zum Staat Israel aufzunehmen, die aber zu keinem Abschluß mehr kamen.
Kennzeichnend für die von politischen Sachzwängen geprägte jahrzehntelange
ambivalente Haltung vieler Juden gegenüber der offiziellen antizionistisch
geprägten Außenpolitik der DDR, besonders gegenüber dem Staat Israel,
dürfte die Aussage des früheren Erfurter Gemeindevorsitzenden Herbert
Ringer sein, der bereits Ende der 60er Jahre konzedierte: "Natürlich ist
das eine etwas schmerzhafte Sache für uns. Die meisten von uns haben dort Freunde
und Verwandte... Schließlich sind wir ein sozialistischer Staat, und Israel
ist noch ein kapitalistischer Staat. Das erschwert eine harmonische Beziehung. Wir
müssen realistisch sein und die Politik unserer Regierung unterstützen."(22)
Die politische Realität, wie die nachdrückliche Unterstützung der
UN-Resolution vom November 1975, daß der Zionismus eine Form des Rassismus
sei(23), oder etwa die im November 1988 erfolgte Anerkennung
eines Staates Palästina durch die DDR, dokumentierten den staatlich praktizierten
antizionistischen Kurs. Diese Haltung war den seit Ende der 80erJahre angestrebten
- dem Beispiel anderer Ostblockstaaten nachfolgend - gesellschaftlichen und wissenschaftlichen
Kontakten (unter Vermeidung diplomatischer Beziehungen) zum Staat Israel nicht förderlich.
So war die Anerkennung des Staates Palästina nicht nur ein politischer Affront,
sondern auch ein Alleingang der DDR, da die Sowjetunion diesen Schritt erst im Januar
1990 vollzog.
Aber selbst im 'Nachrichtenblatt des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der
DDR' schlug sich die tendenziöse und negative Darstellung über Israel
nieder. So wurde in der Berichterstattung über den Besuch einer israelischen
Delegation in der Magdeburger Gemeinde berichtet: "Natürlich war es auch
für uns interessant zu erfahren, wie heute der Bürger im Staat Israel
lebt. Wenn man das Gehörte vergleicht, dann kann man sagen: "In der DDR
haben Bürger jüdischen Glaubens eine gesicherte Zukunft, können ihr
Leben entsprechend ihren Wünschen gestalten und ihren Lebensabend in Frieden
und Geborgenheit verbringen. Inflation und Arbeitslosigkeit sind für uns Fremdwörter.
Mit diesen Problemen müssen aber unsere Glaubensgenossen in Israel ständig
leben und fertig werden."(24)
Daß derart verzerrte Darstellungen beider Staaten von einzelnen Gemeindemitgliedern
als unangemessen gegenüber der gesellschaftlichen Realität in Israel angesehen
wurden, offenbarte in der gleichen Ausgabe des 'Nachrichtenblatts des Verbandes
der Jüdischen Gemeinden in der DDR' die pointierte Einleitung zu zwei Rezensionen:
"Das fast gleichzeitige Erscheinen von zwei Publikationen zu Israel und seinen
Bürgern mußte neugierig stimmen, da in unseren Massenmedien täglich
kritische Berichte zu diesem Land und den dortigen Verhältnissen gegeben werden."(25)
Das seit Anfang der 80erJahre zu bemerkende Auflackern antisemitischer Tendenzen
in der DDR(26) irritierte zwar die staatlichen Stellen,
aber ohne daß Ursachenforschung betrieben und die Defizite verringert wurden,
wie etwa die einseitige und antizionistisch verzerrte Darstellung Israels in den
Medien. Der Ost-Berliner Gemeindevorsitzende Dr. Peter Kirchner kommentierte mit
besonderem Blick auf die tagtäglich in Massenmedien und Schule indoktrinierten
Jugendlichen im November 1982: "Da die offizielle politische Linie des Staates
eine antiisraelische, proarabische ist, betonen die Massenmedien besonders diese
antiisraelische Komponente. Sie heben sie sogar besonders hervor so daß auch
wir nicht mehr herum können, die hautnahe Verwandtschaft dieser antiisraelischen
Einstellung zum traditionellen Antijudaismus festzustellen. Wenn ein heranwachsender
Jugendlicher fast täglich - aus politischen Gründen - mit negativen Daten
über die israelischen Juden gefüttert wird, kann er kaum umhin, diese
negative Zeichnung auch auf die Juden in seiner Umgebung zu übertragen."(27) Derartige Kommentare waren jedoch eher eine Ausnahme.
Die Proteste, besonders der Ost-Berliner Gemeindeführung, gegen die häufig
stark an antisemitische Negativvorbilder angelehnten Karikaturen über Israel
in den DDR-Tageszeitungen, blieben der Öffentlichkeit verborgen, da solche
politisch mißliebigen Stellungnahmen und Leserbriefe nicht veröffentlicht
wurden.
Unter die Rubrik "positive Darstellung" Israels fielen vor der Wende in
der DDR im Herbst 1989 eigentlich nur die Grußadressen an die Kommunistische
Partei Israels und die Geburtstagswünsche für deren Generalsekretär.
Hervorgehoben wurde bei dieser Gelegenheit immer dessen Engagement als israelischer
Kommunist und sein Einsatz für die Interessen des "jüdisch-arabischen
Volkes".
Die tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die sich
im Oktober/November 1989 nach der Ablösung Erich Honeckers in der DDR vollzogen,
leiteten auch in dem Verhältnis zum Staat Israel einen grundlegenden Wandel
ein. Die veränderten Bedingungen dokumentierte das SED-Blatt 'Neues Deutschland'
ab Mitte November 1989 mit einer vierteiligen Reportage über den Alltag in
Israel, die ungeachtet einiger unterschwelliger Vorbehalte im Text im Vergleich
zu früheren Berichten geradezu positiv ausfiel und den DDR-Bürgern zahlreiche
neue Einblicke in die dortigen Lebensbedingungen und in die israelische Kultur bot.
Das Präsidium des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR betonte
nach einer außerordentlichen Verbandstagung am 4. November 1989 in Dresden
in einer Erklärung, die in der Tagespresse der DDR abgedruckt wurde, daß
die Jüdischen Gemeinden in der DDR "ein elementares Interesse am Schicksal"
des Staates Israel hätten, und verlangte, das Existenzrecht des jüdischen
Staates "nicht in Frage zu stellen". Die Verbandsverlautbarung gipfelte
in der (kurz zuvor noch undenkbaren) Forderung an die DDR-Regierung, "eine
Herstellung und damit Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zu Israel...
sofort anzustreben"(28).
Eng verbunden mit dem nach der Wende erfolgten außenpolitischen Kurswechsel
der SED und der Abkehr von der früheren dezidiert antizionistischen Haltung
war die sich abzeichnende Instrumentalisierung des neuen Kontaktes für die
eigenen Ziele des Machterhaltes. DDR-Außenminister Oskar Fischer, noch ein
Relikt aus der Honecker-Ära, zerstreute in Gesprächen mit Reportern die
israelischen Ängste vor einer möglichen Wiedervereinigung Deutschlands
und betonte Ende November 1989, dies werde nicht geschehen, da die Teilung eine
Grundlage der Stabilität in Europa sei. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen
zwischen der DDR und Israel wurde auch von Gregor Gysi, dem im Dezember 1989 gewählten
neuen Vorsitzenden der SED-PDS, in einem Interview im Januar 1990 unterstützt.
Gysi wandte sich nur wenige Wochen später an amerikanische Rabbiner, um weltweite
finanzielle Hilfe für die DDR zu erhalten und um eine immer näher rückende
Vereinigung beider deutscher Staaten zu vereiteln. Mit der Begründung, eine
Wiedervereinigung sei "schlecht für die Welt, insbesondere aber für
die Juden"(29), versuchte Gysi den Machtverfall
der SED und den Untergang der DDR zu verhindern.
Das erste demokratisch gewählte DDR-Parlament bekannte sich schließlich
in einer gemeinsamen Erklärung aller Volkskammer-Fraktionen im April 1990 zur
Last der deutschen Geschichte und gestand die Versäumnisse der Vergangenheit
ein: "Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzelhung. Wir bitten das Volk
in Israel um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik
gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung
jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande."(30)
Die Gründung der "Gesellschaft DDR-Israel für Verständigung
und Zusammenarbeit e. V.", die Ende März 1990 erfolgte, war ein deutliches
Zeichen für das jahrelang unterdrückte Interesse am jüdischen Staat
sowie ein demonstratives Signal gegen den politischen Antizionismus frnherer Jahre.
Anmerkungen
1) Vgl. Shulamit Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus
im 19. und 20. Jahrhundert. München 1990, S.76f.
2) Detlev Claussen, Ein kategorischer Imperativ. Die
politische Linke und ihr Verhältnis zum Staat Israel. In: Jüdisches Leben
in Deutschland seit 1945. Hrsg. von Micha Brumlik u. a. Frankfurt a. M. 1988, S.
230-242, hier 238.
3) Zum Philosemitismus in der Bundesrepublik siehe Frank
Stern, Entstehung, Bedeutung und Funktion des Philosemitismus in Westdeutschland
nach 1945. In: Werner Bergmann/Rainer Erb (Hrsg.), Antisemitismus in der politischen
Kultur nach 1945. Opladen 1990, S. 180-196.
4) Martin W. Kloke, Zwischen Ressentiment und Heldenmythos.
Das Bild der Palästinenser in der deutschen Linkspresse. In: Jahrbuch für
Antisemitismusforschung, Bd.2, hrsg. von Wolfgang Benz. Frankfurt a.M. 1993, S.227-253;
S.232f.
5) Martin W. Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur
Geschichte eines schwierigen Verhältnisses. Frankfurt a. M. 1990, S. 71 ff.
6) Charles E. Ritterband, Antizionismus - Antisemitismus:
Nur ein neuer Name für ein altes Phänomen? Diagnose einer Polemik. In:
Judenfeindschaft. Eine öffentliche Vorlesungsreihe an der Universität
Konstanz 1988/89. Hrsg. von Erhard R. Wiehn. Konstanz 1989, S.187-198; Trier 188f.
7) Henryk M. Broder, Antizionismus - Antisemitismus
von links? In: Politik und Zeitgeschichte, Bd.24, 12. Juni 1976, Bonn, S.31-46.
8) Konrad Löw, Im heiligen Jahr der Vergebung.
Wider Tabu und Verteufelung der Juden. Zürich, Osnabrück 1991, S.86.
9) Werner Bergmann/Rainer Erb, Privates Vorurteil und
öffentliche Konflikte. Der Antisemitismus in Westdeutschland nach 1945. In:
Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 1, hrsg. von Wolfgang Benz. Frankfurt
a. M. 1992, S. 13-41, hier 35.
10) Henryk M. Broder, Der Ewige Antisemit. Uber Sinn
und Funktion eines beständigen Gefühls. Frankfurt a. M. 1986, S. 97ff.
11) Heiner Lichtenstein, Die deutschen Medien und
Israel. In: Deutschland und Is- rael. Solidarität in der Bewährung. Hrsg.
von Ralph Giordano. Gerlingen 1992, S. 116-126, hier 121.
12) Werner Bergmann/Rainer Erb, Antisemitismus in
der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946 bis
1989. Opladen 1991, S. 173ff.
13) Bergmann/Erb, Privates Vorurteil, S. 23.
14) Bergmann/Erb, Antisemitismus, S. 193ff.
15) Konrad Weiß: "Du hast den Frieden frech
ans Kreuz geschlagen...". Israelfeindschaft und Antisemitismus in der DDR.
In: Deutschland und Israel. Solidarität in der Bewährung. Hrsg. von Ralph
Giordano. Gerlingen 1992, 8. 73-85, hier 75 u. 77.
16) Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum
Slansky. Beschluß des Zentralkomitees vom 20. Dezember 1952. In: Dokumente
der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd.lV, Berlin (Ost) 1954, S.202.
17) Ebenda, S. 205.
18) Peter Dittmar, DDR und Israel. Ambivalenz einer
Nichrbeziehung, Teil 1. In: Deutschland Archiv, 10 (1977), S. 736-754; S. 743.
19) Peter Honigmann, Gibt es in der DDR Antisemitismus?
In: Civis 7/2 (1986), S.4-12, trier 6.
20 Weiß, "Du hast den Frieden...",
S. 78f.
21) Siehe ausführlich Lothar Mertens, Staatlich
propagierter Antizionismus: Das Israelbild der DDR. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung,
Bd. 2, hrsg. von Wolfgang Benz. Frankfurt a. M. 1993, 5.139-153.
22) Zit. in Lothar Mertens, Schwindende Minorität.
Das Judentum in der DDR. In: Siegfried Theodor Arndt/Helmut Eschwege/Peter Honigmann/Lothar
Mertens, Juden in der DDR. Geschichte - Probleme - Perspektiven. Köln 1988,
5.125-159, hier 142f.
23) Löw, Im heiligen Jahr der Vergebung, S. 78f.
24) Nachrichtenblatt, März 1981, S.24.
25)Ebenda, S. 29.
26) Siehe Waltraut Arenz, Skinheads in der DDR. In:
Minderheiten in und Ubersiedler aus der DDR, hrsg. von Dieter Voigt/Lothar Mertens.
Berlin 1992, S. 141-171, hier 142ff.
27) Zit. in Mertens, Schwindende Minorität, S.133.
28) Zit. in Lothar Mertens, Die Jüdischen Gemeinden
in der DDR bei deren Beitritt zur Bundesrepublik. In Deutsche Studien, 28/112 (1990),
S.395-405, hier 397.
29) Zit. in Zeev Barth, DDR appelliert an jüdische
Rabbiner. Gysi bittet um Finanz hilfe In: Allgemeine jüdische Wochenzeitung,
45. Jg., Nr. 12, 22. März 1990, Bonn, S.12
30) Gemeinsame Erklärung aller Fraktionen der
Volkskammer. In: Neues Deutschland, 4f. Jg., Nr. 88, 14, April 1990, Berlin (Ost),
S. 3.
in: Wolfgang Benz (Hrg.) Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines
Vorurteils
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt