Joachim Bruhn
Nazismus als Erkenntnisfalle
Warum die Geschichtswissenschaft die denkbar ungeeignetste Methode
ist, Auschwitz zu verstehen
"Die Diskussion ist absurderweise jetzt so: Waren die deutschen
Judenmörder der Nazizeit a) untertänige autoritäre Opportunisten
oder b) sadistische brutale antisemitische Mörder? Es fällt mir auf, daß
niemand darauf gekommen ist, daß sie wahrscheinlich untertänige autoritätshörige
opportunistische sadistische brutale antisemitische Mörder waren. Die Fakten
sprechen dafür. Und insofern Goldhagen einem noch die Wahl zwischen den beiden
Möglichkeiten bietet, ist sein Buch inkomplett."
Peter Zadek, Leserbrief, in: Die Zeit vom 23.8.1996
Das Problem mit den Deutschen
"Keine Deutschen, kein Holocaust": So klar und einleuchtend, so überaus
evident und plausibel ist Daniel Jonah Goldhagens These wie die zwar allemal beweisbare,
aber nicht sehr abseitige oder beweispflichtige Behauptung, ohne Henne kein Ei und
ohne Wolke kein Regen, so sehr, daß, sollte überhaupt Diskussionsbedarf
bestehen, eher die hollywoodreife Titulierung der Massenvernichtung als "Holocaust",
d.h. als sinnträchtiges Brandopfer, statt als "Shoah" (Claude Lanzmann)
oder "Churbau" (Manès Sperber), zur Debatte stünde. Wer nicht
von den Deutschen sprechen mag, der soll von Auschwitz schweigen das ist so wahr
wie der unter Historikern längst in Karteikästen begrabene Satz Max Horkheimers,
wonach, wer sich weigere, vom Kapitalismus zu reden, über den Faschismus sich
auszuschweigen habe. Das Problem mit den Deutschen besteht eben darin, daß
sie das Selbstverständliche leugnen, es zum Geheimnis und zum Gegenstand der
Wissenschaft machen. Eine pluralistische Gesellschaft verlangt nach vielen guten
Gründen für ihren Faschismus; einer allein wäre zu armselig, geradezu
beleidigend eindimensional, monokausal, deterministisch. Weil in Deutschland jedes
Gefuehl füer Logik und für die Einsicht in den Zusammenhang von Ursache
und Wirkung verloren ging, weil schon die Behauptung, ein derartiger Zusammenhang
bestehe nicht nur beim freien Fall des Apfels, sondern auch beim tendenziellen der
Profitrate, irgendwie exotisch erscheint und als höhere Philosophie, weil schon
der Versuch, wenn nicht strafbar, so doch verdächtig ist, sich einen strikten
Begriff vom Faschismus zu bilden, der den "Schein der Tatsachen" (1) durchdringt und nicht nur eine so bienenfleißige wie krude
Meinung über allerhand Daten und Fakten, deren Konstitution Geheimnis bleibt,
weil die deutsche Geschichtswissenschaft daher vorgeben kann, sie betreibe Aufklärung
über Geschichte statt Verklärung der Nation, weil schliesslich deutsche
Historiker wie Goetz Aly, denen noch niemand vorgeworfen hat, sie seien hervorragende
Dialektiker, gegen Goldhagen einwenden, er vertrete einen "bewußt eindimensionalen,
extrem deterministischen Ansatz" (2), weil sie
das, was der Anfang aller Erkenntnis ist: die Suche nach dem einen und identischen
Grund, nach dem Wesen der Sache, als Determinismus denunzieren - kurz und gut: weil
die Deutschen, ihre Historiker in vorderster Reihe, die elementaren Gebote der Logik
verleugnen, um deutsch sein und bleiben zu können, gerät die Aufklärung
in eben die schiefe Lage und unglückliche Konstellation, das Einmaleins noch
einmal zu beweisen, d.h. Goldhagens Argumentation zu legitimieren. Daß das
Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, obwohl es aus nichts anderem als eben
diesen Teilen besteht, war ein Lehrsatz der Philosophie, bevor sie durch den Positivismus
guillotiniert wurde. Daß "die Deutschen" mehr und schlimmeres sind,
als die Summe aller einzelnen Deutschen, obwohl Deutschland aus nichts anderem als
aus lauter Deutschen besteht, ist die unbezweifelbare Konsequenz. Wo soll da ein
Problem sein? Hans-Ulrich Wehler etwa bezichtigt Goldhagen des "monokausalen
Erklärungsversuchs auf der Grundlage des dezisionistisehen Aktes, einen Teil
der Menschheit aufgrund der ethnischen, rassistischen, naturalistischen, essentialistischen
Zuschreibung des permanent Bösen zu stigmatisieren" (2a).
Schlimmeres als Stigmatisierung war, was die Deutschen an den Juden verübten.
Und darüber sollten sie nicht wirklich selbst zum Volk geworden sein, d.h.
sich nicht selbst aus der Menschheit ausgeschlossen haben?
Ideologie als Methode
Max Horkheimer hatte der heiligen Entrüstung über den Vorwurf der "Kollektivschuld",
den leider nie jemand ernsthaft erhoben hat, das camouflierte Interesse abgemerkt,
das nationale Wir zu wahren, zu hegen und zu pflegen, d.h. die Volksgemeinschaft
über die Nazipleite zu retten. Im nahezu einhelligen Affekt der deutschen Historiker
gegen Goldhagen entlarvt sich die deutsche Geschichtswissenschaft als Verlängerung
der klassischen Nationalgeschichtsschreibung mit anderen, sei's strukturalistischen,
sei's intentionalistischen, Mitteln. Es ist dies eine Art und Weise, die Historie
zu schreiben, die ihrer eigenen Methodik und Vorgehensweise trotz aller Akribie
und vielmehr wegen allen Fleisses derart unbewußt ist, daß sie Ideologie
absondert wie die Raupe den Faden. Die Geschichtswissenschaft überhaupt, die
deutsche vor allem, ist der denkbar ungeeignetste Ort, um Aufschluß und Aufklärung
über die Geschichte im allgemeinen, und insbesondere über den Nazismus,
zu gewinnen. Denn die wissenschaftlich organisierte Vergangenheitsbetrachtung ist,
die Goldhagen-Diskussion zeigt es exemplarisch, Ideologie im starken und eigentlichen,
im materialistischen Sinne, das notwendig falsche Bewußtsein des nationalen
Kollektivs von sich selbst, nichts als systematisierter gesunder Deutschenverstand,
nur in Façon gebrachte und mit einer ans Aberwitzige grenzenden Unmasse sogenannter
Fakten und Quellen garnierte Selbstreflexion und also Selbstlegitimation einer Akkumulationsgesellschaft,
die sich in der Form der Nation und unter der fürsorglichen Aufsicht ihres
Souveräns so außerordentlich wohlfühlt, daß sie vor keinem
Geschichtsverbrechen zurückschreckt. Die Geschichtswissenschaft begreift buchstäblich
nichts; weil sich die kapitale Gesellschaft in ihr begreift, kann sie nicht einmal
sich selbst begreifen. Begriffsstutzig, wie diese Wissenschaft ihrer Natur nach
ist, denunziert sie im Namen des Besonderen alle Verallgemeinerungen. Außer
ihren eigenen. (3)
Indem die Geschichtswissenschaft derart vehement gegen Verallgemeinerungen überhaupt
plädiert, indem sie insbesondere gegen die Verallgemeinerung der Deutschen
zu den Deutschen polemisiert, offenbart sie nicht etwa, daß ihr jedweder Maßstab
historischen Urteilens abginge, sondern vielmehr, wie sehr ihr notorischer Relativismus
ein ausgewachsener Dogmatismus ist, und weiter, wie durchgängig sich ihr chronischer
Antifaschismus einem überaus staatstragenden Pluralismus verdankt. Den Nazismus
zum Gegenstand einer geschichtswissenschaftlichen Betrachtung zu machen, das bedeutet
in Deutschland, Hitler dafür zu kritisieren, daß er nicht Bismarck redivivus
war. Das Kriterium, nach dem der Nazismus sortiert wird, entspringt ebenso umstandslos
wie rückhaltlos dem demokratischen Ich-ldeal, in dem die kapitalisierte Gesellschaft
ihren ausbeuterischen Triebgrund so projektiv wie sublimativ aufhebt und verklärt.
Der Pluralismus, vulgo: die postmoderne Zivilgesellschaft, ist die Gesellschaftstheorie
dessen, was der Geschichtswissenschaft als rabiater Nominalismus, als Kult des Besonderen
und Einzelnen, als Fetischismus der "Quellen" und der "Tatsachen"
zur allerdings dogmatisch gehandhabten Methode taugt.
"Heute gegen den Faschismus auf die liberalistische Denkart sich berufen",
hatte Horkheimer 1939 festgestellt, das "heißt, an die Instanz zu appellieren,
durch die er gesiegt hat."(4) Die Nazi-Diktatur
im Auftrag des Pluralismus und mit den Mitteln des Nominalismus geschichtswissenschaftlich
zu untersuchen, kann nur - ganz unabhängig von der je eingeschlagenen, sei's
"funktionalistischen", sei's "intentionalistischen", Strategie
und wie contre coeur auch immer, bedeuten, die methodologische wie soziale Notwendigkeit
des Dezisionismus nachzuweisen. Das Elend des Nominalismus liegt in seinem immanenten
Umschlag in sein gerades Gegenteil, den Realismus als unvermittelte Allgemeinheit,
beschlossen, ein Gegenteil, das doch seine so unabweisbare wie unbewusste Ergänzung
darstellt. Gegen den Nazismus, wie es die Bielefelder Historikerin Ingrid Gilcher-Holthey
will, auf "das Gegenmodell einer Bürgergesellschaft auf der Basis der
Menschenrechte" (5) sich zu berufen, impliziert
schon die Rechtfertigung genau des politischen Souveräns, der den praktischen
Inbegriff der Geltung dieser Rechte darstellt. Die Menschenrechte sind keinesfalls
das Antidot, sie sind die objektive Idelogoie der Staatsgewalt
(6); sie gleichwohl zum "Gegenmodell" zu erklären, ist irrational,
ist bloß Dezision wie ihre Begründung Rationalisierung, d.h.: Ideologie.
Die Demokratie der Bürger ist die interessierte Demutsadresse an den autoritären
Staat; die philosophische Position, in der sich die Demokratie zu anthropologischen
Würden aufschwingt, ist so irrational wie die ihres vermeintlichen Gegners
und gar vorgeblieben Todfeindes. Sir Karl Popper, dessen Bürgerbibel "Die
offene Gesellschaft und ihre Feinde" die demokratische Ideologie zur Philosophie
des "kritischen Rationalismus" systematisiert hat, muß denn auch
bekennen, "dass die nationalistische Einstellung auf einem irrationalen Entschluss
oder auf dem Glauben an die Vernunft beruht"(7)
Der Glaube an die Vernunft jedoch ist an sich selbst so nichtig wie jeder Glaube,
d.h. sein eigenes Gegenteil und damit seine Vernichtung. Darin bekennt die bürgerliche
Philosophie, daß ihr die Alternative von Faschismus und Demokratie den gleichen
Rang besitzt wie die Wahl zwischen Rhabarberjoghurt und Lakritze: über Geschmacksfragen
läßt sich nicht streiten.
Das Apriori deutscher Historiographie
Der diskrete Dogmatismus der Geschichtswissenschaft, d.h. das relativistische Auftragsdenken,
dessen dienstbarer Lakei die Aversion gegen Verallgemeinerungen ist, offenbart sich
nicht zuletzt daran, wie fein säuberlich zwischen Nation und Nationalismus
unterschieden wird. Man dürfe, wendet Hans Mommsen gegen Goldhagen ein, den
deutschen Nationalismus "nicht pauschal" (8)
verdammen, man müsse doch differenzieren. Die Unfähigkeit zum Begriff
der Nation, d.h. zum Urteil über die deutsche, geriert sich als freundliche
Einladung zur undogmatischen Einzelfallbetrachtung. Geschichtswissenschaft, die
derart der juristischen Methode sich anbequemt, maßt sich an, das je Besondere
zu würdigen und leistet doch nur die Affirmation des Ganzen. Die Form Nation
liegt so im Jenseits des Begriffs wie nur die Form Staat, die Nation inauguriert;
aus diesem Jenseits der fraglos je schon existenten Verallgemeinerung von Mensehen
zu Deutschen agiert sie als transzendentale Form, die das Material organisiert,
als das unbedingte Apriori jeder historischen Erfahrung, das darüber entscheidet,
was als Empirie soll gelten können. Die deutsche Nation ist das Apriori dieser
seltsamen Wissenschaft, die vorgibt, nichts zu kennen als Quellen, Quellen und nochmals
Quellen, nichts als das lautere Plätschern der Tatsachen und das ungetrübte
Sprudeln der Empirie. Die Quelle aber ist der Historie, was der Jurisprudenz das
Indiz: Spielmaterial, bloße Illustration des Systemzwangs zum Rechtsfrieden,
d.h. empirische Legitimation der vorab existenten letzten Instanz, an der jede Berufung
aufhört und jede Revision endet. Egal, wer Recht hat, solange nur Recht ist;
was immer die Quellen sagen, ein Beweis gegen die Nation wird sich daraus nie und
nimmer folgern lassen.
Hans Mommsen sagt: "Der Versuch Goldhagens, von der Zahl der aktiven Vollstrecker
auf die Gesamtnation zu schliessen (... ), ist methodisch wenig hilfreich und empirisch
nicht abgesichert." (9) Historische Wahrheit wird
nach dem Modell von Meinungsumfragen vorgestellt; kein Sample jedoch wird je repräsentativ
genug sein, um der deutschen Nation als solcher die Taten der Nazis zuzurechnen.
Die juristische Methode dieser seltsamen Wissenschaft, die sich die Behandlung der
Geschichte anmaßt, weiß so überaus sorgfältig zwischen Intention
und Resultat zu scheiden, daß der einzig noch mögliche Weg historischer
Wahrheitsgewinnung, der allerdings leider ausgeschlossen ist, Psychoanalyse wäre.
Erst dann wäre zu wissen, ob die "aktiven Vollstrecker" tatsächlich
aktiv Vollstrecken wollten, erst dann wäre klar, was der Führer wirklich
wollte. Der Historiker verschanzt sich im Besonderen, macht das je Einzelne zur
Barrikade gegen dessen Begriff und plädiert im Namen des Konkreten gegen die
Abstraktion. Aus dem Verbot jedoch, von Deutschen auf die Deutschen zu schließen
und von Einzelnen aufs Mordkollektiv, spricht die Entscheidung, das Geschichtsverbrechen
nicht sich zurechnen zu lassen, es entschlossen abzuspalten. Nicht anders ist zu
deuten, daß die Massenvernichtung den Historikern längst zum Sinn, d.h.
zum demokratischen Auftrag der Deutschen gerann, daß selbst der Freiburger
Historiker Ulrich Herbert, der Goldhagen noch am verständnisvollsten kritisierte,
von "uns, den Deutschen" (10) als von einem
mit sich identischen Subjekt spricht: Nichts anderes sagt Goldhagen.
Was ein Faktum ist, darüber entscheidet, wenn es mit rechten Dingen, d.h. materialistisch
zugeht, die Theorie; was eine historische Quelle ist, darüber befindet die
deutsche Ideologie, als deren Schreibautomat der Historiker die Vergangenheit seiner
Nation zu Protokoll nimmt. Niemand glaubt weniger als der Historiker, daß
sich aus den Akten jemals Aufschluß über den wirklichen Verlauf und irgendwann
Aufklärung über die tatsächliche Logik der Geschichte ergeben könne,
aber niemand unterwirft sich anstrengenderen Exerzitien und gibt sich mehr Mühen,
den Anschein des geraden Gegenteils zu erwecken. Seine Fakten dienen der Illustration,
sie sind fact fiction. Die Forschungsfrage, die vor dem Gang in die Archive pro
forma gestellt wird, ist schon die Antwort selbst; kein Fund wird jemals die Frage
kritisieren können. Hans Mommsen etwa fragt, "warum in einem fortgeschrittenen
und hochzivilisierten Land wie Deutschland der Rückfall in die Barbarei möglich
geworden ist." (11) Daß Deutschland vor
1933 "zivilisiert" war und nicht vielmehr kapitalistisch, ist schon die
Antwort in der Frage; und es bleibt nur, darüber zu spekulieren, mittels welcher
"empirisch abgestützter", anhand welcher "methodisch hilfreicher"
Verfahren Mommsen aus dem empirischen Material hat schließen können,
daß der Nazismus der "Rückfall" war, nicht die Konsequenz,
daß die "Barbarei" nicht das Anti der Zivilisation war, sondern
das historische Telos des Kapitals. So wird die demokratische Historie zum da capo
des Nazismus. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, dessen Geschichtsphilosophie unter
Historikern aus gutem Grund einen schlechten Leumund genießt, hat dazu bemerkt:
"Das besondere Interesse der Leidenschaft ist also unzertrennlich von der Betätigung
des Allgemeinen ... Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft und
wovon ein Teil zugrunde gerichtet wird. Nicht die allgemeine Idee ist es, welche
sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begibt; sie hält sich unangegriffen
und unbeschädigt im Hintergrund." (12) Keine
Empirie vermag das Allgemeine je zu widerlegen; bei Hegel allerdings bezeichnete
dies die "List der Vernunft", d.h. den Progress der bürgerlichen
Revolution gegen alle feudale Reaktion, während das Allgemeine des postfaschistischen
Historikers nur die Penetranz der deutschen Revolution von 1933 gegen alle Evidenz
der materialistischen Vernunft verkörpert.
Der Nationalhistoriker polemisiert gegen das Verallgemeinern, denn er selbst besitzt
nicht den Schimmer eines Bewußtseins davon, wie die bürgerliche, wie
die kapitalisierte Gesellschaft das Besondere und das Allgemeine synthetisiert,
wie der transzendentale Schematismus a priori sich konstituiert, der das Besondere
zum Ganzen sich fügen läßt, wie es daher, materialistisch gesprochen,
um den Nexus von Warenform und Denkform bestellt ist. Er schmiert seinen Faktenbrei
auf das dürre Gerüst der Ideologie, die darüber zur bunten Kulisse
werden soll, vor der nichts als immer nur Menschen endlose Reprisen des Allzumenschlichen
aufführen: die Nation als Lindenstrasse, wo viel geschieht und nichts passiert.
Die Erkenntnisfalle, in die er sich so verstrickt, ist, weit entfernt, ihm irgend
Kopfschmerzen zu bereiten, vielmehr sein Lebenselixier: indem er notorisch zwischen
haltlosem Empirismus, also der sprichwörtlichen Fliegenbeinzählerei, einerseits
und ebenso leerer Metaphysik, d.h. den unverständigen, nämlich ideologischen
Abstraktionen seiner Kategorien, andrerseits schwankt, erfüllt er genau seinen
gesellschaftlichen Auftrag. Darin besteht diese Mission, als Vermittler zwischen
den traurigen Tatsachen und ihrem höheren Sinn aufzutreten, darin, die Vermittlung
der Gesellschaft durch das Kapital zum humanen Sinn der Geschichte zu verdoppeln.
Die Geschichte ist die Beute des Historikers. Die Methode, sie unter den Nagel sich
zu reissen, hat, abermals, Hegel denunziert: "Die Grundtäuschung im wissenschaftlichen
Empirismus ist immer diese, daß er die metaphysischen Kategorien von ... Einem,
Vielen, Allgemeinheit ... gebraucht, ferner am Faden solcher Kategorien weiter fortschließt,
dabei die Formen des Schließens voraussetzt und anwendet und bei allem nicht
weiß, daß er so selbst Metaphysik enthält und treibt und jene Kategorien
und deren Verbindungen auf eine völlig unkritische und bewußtlose Weise
gebraucht." (13) In den "Formen des Schließens"
ist die komplette Gesellschaft, ist die Quintessenz ihrer Totalität enthalten.
Wer im Gegensatz von Besonderem und Allgemeinem vermitteln will, statt auf die Konstitution
dieses Gegensatzes und also des Vermittlungsproblems selbst zu reflektieren, der
hat in dieser Denkform nichts anderes gedacht als das Kapital selbst, d.h. das Kapital
mit anderen, mit intellektuellen Mitteln fortgesetzt; eben das meinen Begriff und
Sache der Ideologie. Der Empirismus ist, Hegel zufolge, "eine Lehre der Unfreiheit"
(14), die Geschichtswissenschaft als die vergangenheitsselige
Version dieses Empirismus daher eine Doktrin der bedingungslosen Persistenz der
Nation und ihres Staates, die sich durch kein Auschwitz je wird beirren lassen.
Wissenschaft, Wahrheit und Metaphysik
All dies reflektiert sich, vielmehr, da von Reflektion allseits keine Rede sein
kann: dies alles spiegelt sich wider in der Weise, in der deutsche Historiker Goldhagen
entweder unkontrollierte Induktion oder hemmungslose Deduktion vorhalten, drückt
sich aus in der wildwuchernden Rede von vielfältigen "Bedingungen",
komplexen "Faktoren" und hochdiffizilen "Umständen", die
ein wohltemperiertes historisches Urteil im Interesse seiner Konsensfähigkeit
zu berücksichtigen habe, und schlägt sich schließlich nieder im
Vorwurf, aus Goldhagen spräche in Wahrheit gar "kein Historiker, sondern
ein Informatiker, der historische Prozesse und Dokumente wie Bestandteile einer
gewaltigen Software liest", der einem monokausalen, eindimensionalen und also
monomanen Determinismus huldige: Und dies sei, befindet die Frankfurter Allgemeine
und sagt Frank Schirrmacher, nichts anders als: "Geschichtsmetaphysik"
(15), die, sekundiert "Die Welt" und schreibt
Jost Nolte, einzig auf einer "Technik der Vereinfachung und Verallgemeinerung"(16) gründen könne.
Die Kritik an Goldhagen manifestiert, wie gewaltig der Abgrund zwischen der deutschen
Geschichtswissenschaft und der historischen Wahrheit klafft. Der Historiker scheut
den synthetischen Begriff der Geschichte, weil dieser nicht anders sich aussprechen
kann denn als kategorisches Urteil über die Zukunft, d.h. als kommunistisches
Programm der Abschaffungen. "Geschichtsmetaphysik": Der schlimmste Vorwurf,
den Historiker überhaupt erheben können, enthüllt zugleich den ideologischen
Charakter dieser obskuren Wissenschaft, deren Anhänger das im Kapitalverhältnis
gesellschaftsmächtig gewordene Phänomen der Realabstraktion, d.h. der
praktischen Metaphysik und ihrer "gesellschaftlich gültigen, also objektiven
Gedankenformen" (17), in einen historischen Prozess
auflösen, der auf der Flucht vor seinem Begriff beständig um die Pole
von Interaktion und Struktur, von Geschichte als Handlung und Kommunikation einerseits,
als Funktion und System andererseits oszilliert. Diese Bewegung allerdings vermöchte
der Informatiker adäquater zu fassen als der Historiker, weil er, wenn er auch
sonst nichts weiß, doch immerhin das eine weiß, daß der Prozeß
durch die Form determiniert wird. Die Festplatte der Weltgeschichte ist auf das
Betriebssystem Kapital formatiert, und die deutsche Geschichte insbesondere gehorcht
einer antisemitischen Software.
Das Verhältnis von Induktion und Deduktion, dessen mangelhafte methodische
Beherrschung die deutschen Historiker Goldhagen ankreiden, impliziert das Problem
der gesellschaftlichen Synthesis, die Frage, wie es möglich sein soll, daß
das sinnlich so Verschiedene und schlechthin Inkommensurable doch in einem Begriff
sich fassen soll, in einem synthetischen Begriff, der, weit davon entfernt, von
außen oktroyiert, abgehoben oder "abstrakt" zu sein, vielmehr von
innen emergiert, wie also Äpfel und Birnen sich zu Obst addieren lassen, wie
die differenten Gebrauchsdinge, nur als Waren produziert, in einem quantifizierten
Tauschwert sich summieren. Kann in diesem Verhältnis vom Einzelnen aufs Ganze
gefolgert werden? Und aus wieviel Einzelnem besteht das Ganze? Oder hat man vom
Ganzen auf das Einzelne zu schließen? Und was ist dann das Ganze?
Schließt man, induktiv, von der subjektiven Erfahrung etwa Viktor Klemperers
auf das Ganze, d.h. auf ganz Deutschland, dann kann an der Wahrheit der Thesen D.
J. Goldhagens so wenig Zweifel aufkommen wie im umgekehrten, deduktiven Schluss
von der nazistischen Regierungsprogrammatik auf die Gesellschaft. Klemperers "Forschungsprozeß"
führte ihn vom ungläubigen Staunen darüber, "daß Hitler
wirklich die deutsche Volksseele verkörpert, daß er wirklich, Deutschland
bedeutet", über die fortschreitende Gewissheit, "dass Hitler wahrhaftig
der Sprecher so ziemlich aller Deutschen ist" auf die furchtbare Wahrheit,
daß "die Seuche in allen wütet, vielleicht ist es nicht Seuche,
sondern deutsche Grundnatur". Am Ende schließlich die Erkenntnis: "So
bedeutet die Judenfrage fuer den Nationalsozialismus das Zentrum der 'Wesensmitte'
und seine Quintessenz." (18) Viktor Klemperer
verallgemeinert "from the bottom up", während Hitler, wie nicht nur
seine Rede zum Jahrestag der NSDAP-Gründung 1942 belegt, mit allen Kräften
und in aller Öffentlichkeit entschlossen war, "from the top down"
zu besondern: "Dieser Kampf wird nicht mit der Vernichtung der arischen Menschheit,
sondern mit der Ausrottung des Judentums in Europa sein Ende finden."(19)
Josef Joffe und die Logik
Der einzige unter Goldhagens Kritikern, der die Frage nach dem erkenntnistheoretischen
Status der geschichtswissenschaftlichen Begriffe überhaupt aufgerollt hat,
war bezeichnenderweise kein Fachhistoriker, sondern Josef Joffe, Leitartikler der
Süddeutschen Zeitung. Er schreibt: "Schon der Talmud sagt ganz knapp:
'Zum Beispiel ist kein Beweis.' Die Fallstudie, die Zitate (und seien sie auch noch
so massenhaft aufgetürmt) summieren sich nicht per se zum Richtspruch. (...)
Noch problematischer wird es bei der Logik. Der Satz A, 'Die Killer waren normale
Deutsche' enthält nicht den Beweis, den Goldhagen zu liefern wünscht,
also den Umkehrschluss B 'Die normalen Deutschen waren Killer' (...). Zwischen Satz
und Umkehrschluß tut sich die älteste logische Falle überhaupt auf;
A ergibt nicht B, es sei denn, dass die A-Menge identisch mit der B- Menge wäre,
was sie aber per definitionem nicht ist. Anders ausgedrückt: (Soziologische)
Korrelation ist keine Kausation. Mithin kommt Goldhagen das klassische Problem von
der Vermischung verschiedener Analyse-Ebenen in die Quere, zwischen denen kein zwingender
Konnex herrscht, in diesem Fall zwischen Individuum, Gruppe und Nation. Formal ausgedrückt:
Die Eigenschaften einer Gruppe sind nicht identisch mit den Eigenschaften ihrer
Mitglieder, und beide unterscheiden sich wiederum von denen des gesamten Volkes.
(...) Oder: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.' (...) (Auf Goldhagens)
Weise von 'unten nach oben', von der Stichprobe zur Gesamtkultur räsonieren,
geht nicht. Aber man kann auch nicht von 'oben nach unten', von der präsumtiven
Kultur auf das mörderische Verhalten schließen, wie Goldhagen es ebenfalls
tut." Joffe folgert, es bedürfe einer "intervenierenden Variablen",
also eines Dritten der Vermittlung, das er "das System" nennt (20), etwas, das die Einheit von Induktion und Deduktion stiftet.
Wer oder was jedoch ist "das System"? Offenkundig kann es nur gedacht
werden als Identität von Identität und Nicht- Identität, d.h. als
Übergreifendes über sich selbst und sein eigenes Gegenteil, d. h. als
Einheit der Logik mit der Bedingung der Möglichkeit ihrer eigenen Geltung.
Die Logik gilt, da hat Joffe gegen Goldhagen ganz recht, aber sie vermag ihre eigene
Geltung nicht logisch zu begründen, und deshalb hat Joffe gegen Goldhagen ganz
und gar unrecht. Die Geltung der Logik selbst beruht nicht auf Logik, sondern auf
einem dialektischen Paradox dergestalt, wie das klassische vom Kreter es demonstriert.
Satz A: Alle Kreter lügen; dann Satz B: Der dies sagt, ist selbst ein Kreter.
Was nun? Wahrheit oder Lüge? Die Bedingungen der Geltung von Satz A sind die
Kriterien der Unwahrheit von Satz B; und umgekehrt. In diesem Beispiel ist der Kreter
die Teilmenge seiner selbst, das Übergreifende über sich und sein Gegenteil.
Daraus wiederum folgt: Der Satz C "Alle Kreter sind Lügner" läßt
sich in den Satz D "Alle Lügner sind Kreter" umkehren, oder anders:
Der von Joffe inkriminierte Schluß Goldhagens kann nie und nimmer von einem
Deutschen bestritten werden. Das Paradox allerdings, aus dem die Logik praktisch
Geltung gewinnt, ist an sich selbst alles andere als ein Denkproblem, sondern das
im Kapitalverhältnis durch die Selbstkonstitution des Werts zum "automatischen
Subjekt" (21) negativ gelöste Problem der
Vergesellschaftung, d.h. die Identität des Werts als Identität seiner
prozessierenden Identität im Geld mit seiner Nichtidentität als Produktion
von Gebrauchswert, d.h. die praktische Identität von Mommsen und Nolte im Historiker
als ihrem immanenten Allgemeinbegriff. Der kapitale Wert, der im Prozess seiner
Verwertung seine eigenen Voraussetzungen produziert und reproduziert, ist so die
Bedingung der Geltung von Logik schlechthin. "Das System" daher, von dem
Joffe, wie er freundlicherweise selbst sagt, im "Soziologen-Jargon" spricht
und das er eine "intervenierende Variable" nennt, ist weder eine Variable
noch interveniert es; es ist die Form der kapitalen Vergesellschaftung selbst, die
sich als ihren eigenen Inhalt setzt und reproduziert.
Goldhagens Folgerung, daß, weil die Killer normale Deutsche waren, alle normalen
Deutschen potentielle Killer waren, ist daher mit den Mitteln der Logik ebenso angreifbar
(nur nicht von Deutschen, die von sich selbst als "wir Deutsche" sprechen)
wie sie, dialektisch betrachtet, über jeden Zweifel erhaben ist. Auch nur Historiker,
fühlt Goldhagen sich, im eklatanten Unterschied zu seinen deutschen Kritikern,
nicht genötigt, den fraglosen Positivismus der historischen Methode nationalistisch
zu verbiegen, ein fröhlicher Positivist, der Induktion und Deduktion nicht
gegeneinander ausspielen läßt, der sich vielmehr gewiß ist, seinen
Gegenstand im Gleichklang der Verallgemeinerung der Quellen wie der Konkretisierung
der Allgemeindiagnose gewaltlos in den Begriff zu zwingen. Was "deutsch"
ist, wird so mentalitäts- wie ideengeschichtlich zugleich bestimmt, von unten
erschlossen wie von oben gefolgert. Seine Ergebnisse sind um so zwingender, als
er den Gesellschaftsbegriff seiner deutschen Kritiker teilt, demonstrieren sie doch,
wozu selbst Positivisten fähig sein können, wenn ihnen der Poppersche
"Glaube an die Vernunft" mehr ist als Lippenbekenntnis.
Goldhagens Wissenschaft
Denn Goldhagen ist ein Positivist, den es mit Macht zum Begriff drängt, ein
Positivist, der weiß, daß die Theorie darüber entscheidet, was
ein Faktum ist, ein Positivist, der sich vom Kraut und den Rüben der Empirie
nicht den Blick verstellen läßt, der überdies, allem Manko eines
ideologiekritischen Wahrheitsbegriffs zum Trotz, ganz genau weiß, daß,
wenn es schon so sein soll, wie es der Positivismus will, die innere Stimmigkeit
einer Theorie das Indiz ihrer objektiven Richtigkeit abzugeben hat, daß diese
Theorie dann ökonomisch zu sein hat und elegant, daß sie mit einem Mindestmaß
an Argumenten auszukommen hat, daß sie Ockhams Messer ansetzen muß,
um rational zu sein. "Der Ruf nach Komplexität ist häufig die letzte
Rettung jener, die bestimmte Folgerungen unerträglich finden", doziert
er gegen seine Kritiker, und weiter: "Die Vorstellung, daß eine einfache
Erklärung eine vereinfachende Untersuchung zur Voraussetzung" haben muß,
ist irrig, "viele schreckliche und komplexe Resultate haben einfache Ursachen". (22)
Seine Entschiedenheit nimmt um so mehr wunder, als Goldhagen den liberalen Gesellschaftsbegriff
mit allen Konsequenzen vertritt und verteidigt. So überaus resolut outet er
sich als Parteigänger der "offenen Gesellschaft", daß sich
das vernünftige Resultat geradezu im vollendeten Widerspruch zu seinen theoretischen
Grundannahmen ergibt. Daß der deutsche Antisemitismus im Kern "der Wille
zu töten" ist, daß er in letzter Instanz auf Vernichtung geht, daß
alle seine noch so differenzierten Spielarten und wie immer komplexen Ausdrucksformen
vom linken Antizionismus über den liberalen Philosemitismus bis hin zum altgermanischen
Neuheidentum in einem übergreifenden Horizont, in einem logischen Kontinuum
stehen, dessen inneres Telos die Liquidation ist - dieser Nachweis ist so stupend,
daß man sich fragt, wie er überhaupt mit den Mitteln des Positivismus
zu begründen sein sollte, ist so frappant, daß man den Positivismus nachgerade
vor lauter Hochachtung vor Goldhagen für die in Deutschland allein noch mögliche
Form der Aufklärung selbst halten möchte. Es ist aber nur die Logik der
Sache selbst, die sich hierin ausspricht, die als "kognitives Modell",
"Mentalitaet", und "politische Kultur" definiert, was tatsächlich
von Begriff und Sache her der Ideologie zukommen würde. Unter dem anthropologisch
anmutenden Titel der "Mentalität" reflektiert Goldhagen jedenfalls
den Tatbestand, daß die deutsche Ideologie den Deutschen so rigoros zur zweiten
Natur geworden ist, daß sie darin wohler sich fühlen als in ihrer ersten
Haut, was schon ihre massenhafte Bereitschaft bewies, sie für Führer,
Volk und Vaterland zu Markte zu tragen. Goldhagen geht "im Gegensatz zu Marx'
bekanntem Diktum davon aus, daß das Bewußtsein das Sein bestimmt"
(S. 533), eine zwar billige, aber jedenfalls legitime Polemik gegen den unter Marxisten
gängigen Ideologiebegriff, denn vom Zusammenhang von Warenform und Denkforrn
wissen die Marxisten ebenfalls weniger als nichts. Wie ist es nun in Goldhagens
Perspektive um den Zusammenhang von Sein und Bewußtsein, von deutschem Sein
und antisemitischem Bewußtsein bestellt?
Goldhagen ist, was seine Erkenntnistheorie angeht, radikalen Konstruktivist. Man
müsse sich, sagt er, "das kognitive, kulturelle und teils sogar das politische
Leben einer Gesellschaft wie ein "Gespräch" vorstellen. Alles, was
wir über die gesellschaftliche Wirklichkeit wissen, ist dem Strom dieser ununterbrochenen
Gespräche' entnommen, die diese Realität konstituieren" (S. 51 f.).
Das gesellschaftliche Sein ist eine an sich selbst deutungsfreie Tatsache, die pure
Faktizität; was das Sein bedeuten soll, bestimmt das Bewußtsein, indem
es die Realität mittels "axiomatischer Themen" (S. 52) als sinnhaft
konstruiert und daraus "kognitive Modelle" ableitet, die wohl in etwa
dem entsprechen, was Immanuel Kant als transzendentalen, d.h. erfahrungs- und empirieunabhängigen
Schematismus der Verstandesbegriffe definierte. Der Antisemitismus sei solch ein
Schematismus und kognitives Modell. Über seinen Ursprung schweigt Goldhagen
sich aus, seine Fortzeugung und Reproduktion "von Generation zu Generation"
soll dem "Gespräch" zuzuschreiben sein, durch das Gesellschaft sich
synthetisiert, kognitive Modelle jedenfalls sind überall, "sie bestimmen
die Sichtweise, die Menschen von allen Aspekten des Lebens und der Welt entwickeln,
ebenso wie ihre Handlungsweisen" (S. 52); und ein solches Modell ist der Warentausch:
"Das kulturelle Modell des Kaufs eines Gegenstandes", so zitiert Goldhagen
einen amerikanischen Konstruktivisten, "umfasst den Verkäufer, den Käufer,
die Ware, den Preis, den Verkauf und das Geld. Zwischen diesen Teilen bestehen verschiedene
Beziehungen; da ist einmal die Interaktion zwischen dem Abnehmer und dem Verkäufer,
die die Mitteilung des Preises an den Käufer umfaßt, möglicherweise
kommt es dabei zu Preisverhandlungen, zu dem Angebot, zu einem bestimmten Preis
zu kaufen, zur Einigung über das Geschäft, zum Transfer des Eigentums
an der Ware und dem Geld et cetera. Dieses Modell muss man verstehen (und praktizieren),
nicht nur um kaufen, sondern auch um sich an solchen kulturellen Aktivitäten
wie Leihen, Mieten, Leasen, Beschwindeln, Verkaufen, Profitmachen, Läden, Werbung
et cetera beteiligen zu koennen" (S. 564f.)
Das Geld soll das eine sein, seine Wahrnehmung aber das ganz andere: Unvorstellbar,
daß, wie die Marxsche Wertformanalyse nachweist - d.h. die berüchtigten
ersten hundert Seiten des "Kapital", die schon August Bebel sich rühmte,
nicht gelesen zu haben -, das Geld an sich selbst so beschaffen ist, daß es,
als sinnliche Inkarnation und handgreiflich empirische Darstellung des kompletten
Gesellschaftlichen Verhältnisses, seine eigene Interpretation und Sinngebung
immer schon enthält, daß es nichts anderes darstellt als die Identität
von Sein und Sinn. Denn indem der Wert doppelt sich darstellt, indem er als Preis
der Ware neben der Ware erscheint, verdoppelt er sich zugleich in materiellen und
ideellen Wert, in wirkliches Geld und nur gedachtes Geld. Derart enthält die
Ware ihre eigene Sinngebung, sie interpretiert sich selbst und ist ihr autonomer
Philosoph. Ihr Wahrheitsbegriff meint die praktisch gelingende Identifikation des
sinnlich Verschiedenen. Im Austausch werden Sein und Sinn der Ware zur Deckung gebracht;
die Ware denkt sich so disant zu ihrem logischen Ende, indem sie ihren Wert praktisch
in Geld übersetzt, sich aus dem Gedanken in die Wirklichkeit begibt, d.h. indem
sie sich, wie es die liberale Gesellschaftstheorie und ihr ökonomischer Troß,
die nominalistische Geldtheorie, sagen, im Geld als einem "Medium" reflektiert.
(23) Als Identität von Sein und Sinn, d.h. unter
der Warenform, die nur sein kann, indem sie unmittelbar zugleich als Denkform erscheint,
stiftet der Wert in Gestalt des Geldes und als "bare Münze des Apriori"
eben die Verstandesbegriffe, aus denen sich das Vermittlungsproblem der Historiker
erst ergibt. Die unendlichen Streitereien zwischen sog. "lntentionalisten"
und sog. "Funktionalisten" unter den Historikern verweisen in letzter
Instanz auf ihr Unvermögen, das Geld zu denken. Goldhagen wählt die nominalistische
Strategie, um nachzuweisen, daß Antisemitismus Projektion ist und in nichts
gründet, was irgend den Juden - die in genau diesem Sinne deutungsfreies Sein
darstellen - zuzuschreiben wäre, aber indem er diesen Satz der beweisfreien
Vernunft nur nominalistisch zu begründen weiß, torpediert er sein eigenes
Interesse: "Unser Konzept der persönlichen Autonomie" (S. 52), das
Goldhagen dem Antisemitismus entgegenstellen möchte, der das konkrete Individuum
unter abstrakte, völkische Kategorien subsumiert, ist ebensowenig in fundamentum
humanun verankert wie sein genaues Gegenteil. Wenn "das Wissen eine soziale
Konstruktion" (S. 87) ist, wenn nichts existiert, was in sich, wie tatsächlich
negativ auch immer, die Einheit von Sein und Sinn stiftet und reproduziert, wenn
daher keine Wahrheit denkbar ist, die so unabhängig von Konsens und so wenig
irgendeiner Zustimmung bedürftig wäre wie der Satz, daß Juden Menschen
sind, mögen auch drei Milliarden das Gegenteil behaupten, dann ist über
den Antisemitismus kein kategorisches Urteil möglich, dann ist der Kampf gegen
den Antisemitismus nur Ausdruck eines anderen "kognitiven Modells", d.h.
einer anderen Meinung.
Die Kritik der deutschen Historiker an Goldhagen hat folgerichtig alles mögliche
benörgelt, aber nirgends hat sie die erkenntnistheoretische Konstruktion des
Antisemitismusbegriffs ihm angekreidet: Es ist ihr eigener, Ausdruck eines liberalen
Antifaschismus, der in Deutschland das verkappte Bündnisangebot an den Faschismus
enthält. Insbesondere hat die Kritik jenen Punkt bemängelt, an dem nichts
anderes aus Goldhagen spricht als das Bedürfnis der Vernunft, das Bewußtsein
nicht von "Faktoren" und "Bedingungen" sich zerstäuben
zu lassen, sondern nach einem Grund zu suchen, nach einer intelligiblen Ursache.
"Denn beweisen", sagt Hegel, "heißt in der Philosophie soviel
als aufzeigen, wie der Gegenstand durch und aus sich selbst sich zu dem macht, was
er ist." (24) Daß Goldhagen etwas beweisen
wollte, d.h. er eine Interpretation vorlegen wollte, die genau einen Schluß
zuläßt, diese Impertinenz hat die geschichtswirtschaftenden Faktorenverwalter
vielleicht noch mehr erschüttert als der Schluß selbst. Im vollen Elan
ihrer Empörung haben sie übersehen, daß Goldhagen ihren eigenen
Positivismus gegen sie wendet, daß er mit der haargenau gleichen Methode -
positivistische Logik, d.h.: "Wenn es eine einzige Tatsache gäbe, und
zwar eine, die das gemeinsame Motiv erkennen und sich auf die meisten der zu untersuchenden
Phänomene anwenden ließe, dann wäre diese jedem mühsam zusammengebauten
Erklärungsmosaik vorzuziehen" (S. 668) -, und mit dem selben historischen
Material ihre Trial-and-error- Methode im Umgang mit dem Nazismus als typisch deutsch
entlarvt, d.h. als Geschichtsschreibung, die nicht der Wahrheit, sondern deren Gegenteil,
der Nation, verpflichtet ist.
Die "Logik des Antisemitismus"
Weil Goldhagen das Geld für eine deutungsfreie soziale Tatsache hält und
also das "Profitmachen" für eine von vielen "kulturellen Aktivitäten",
verfehlt er den Begriff des Antisemitismus. Im Unterschied allerdings zu den Historikern
zielt er wenigstens auf einen Begriff, und seine Methode, die vorfindlichen Antisemitismusbegriffe
daraufhin zu untersuchen, unter welcher Voraussetzung eigentlich einander widersprechende
Definitionen ein und desselben Gegenstandes möglich sein können, führt
ihn so nahe wie nur irgend möglich an die Antwort heran, daß es einen
Gegenstand geben muß, der, ganz und gar nicht deutungsfrei, an sich selbst
die objektive Eigenschaft haben muß, nur unter sich einander wechselseitig
ausschließenden Denkbestimmungen und Definitionen gedacht werden zu können.
Die Bedingung der Möglichkeit der einander widerlegenden Vorstellungen vom
Antisemitismus ist, so folgert Goldhagcn ganz logisch, der "Wille zu töten":
Nur unter dieser Prämisse ordnet sich der Faktorenstaub, nur mit dieser Annahme
hebt sich der Komplexitätsnebel, nur am Leitfaden dieser These wird das "Feld
sehr unterschiedlicher Formen des Antisemitismus" und werden die "Vielzahl
von Motiven", von denen pars pro toto Ulrich Herbert schwatzt, intelligibel
und taugt das Bewußtsein zu mehr als zur Büroklammer. Und zwar verständlich
als Camouflage eines Willens, der sich selbst sucht, d.h. einer Intention, die objektiv
und an sich immer schon das ist, was sie durch alle Irrungen und Wirrungen der Geschichte
hindurch, heißen sie nun christlicher Antijudaismus oder liberaler Philosemitismus,
auch für sich sein zu streben sucht. Nur das kann verstanden werden, sagt Goldhagen,
was über die Phänomene hinaus und durch die Erscheinungen hindurch seiner
eigenen Logik folgt. Eine solche Konstruktion nennt man gemeinhin eine idealistische;
und wie wenig Goldhagen zu ihr als Positivist eigentlich befugt ist, zeigt sich
daran, daß er kein Kriterium anzugeben vermag, nach dem, was als Gebot des
Denkens und was als Schluss aller Logik sein muss, auch tatsächlich existiert.
Es muß etwas geben, das die Identität von Sollen und Sein real darstellt,
und dieses Etwas muß die Einheit von Genesis und Geltung sein; d.h. es muß
seiner Konstitution gemäß in der Lage sein, sich selbst zu konstituieren,
sein eigener Ursprung zu sein und sich selbst in allgemeine Geltung zu setzen. Goldhagen
nennt dies Etwas das "kognitive Modell", aber dessen Reproduktion durch
das intergenerative "Gespräch" bleibt kaum weniger mysteriös
als seine historische Abkunft. Was Goldhagen unter dem Titel des kognitiven Modells
verfehlt, spricht die Wahrheit des Kapitals als automatisches Subjekt aus, und die
Formen des logischen Schliessens enthalten und offenbaren so die Gesellschaft in
ihrer dialektischen Quintessenz tatsächlich.
So nahe Goldhagen der "Logik des Antisemitismus" daher kommt, so sehr
verfehlt er sie doch. (25) Seiner logischen Notwendigkeit
ermangelt die gesellschaftliche Wirklichkeit. Was der Geldbegriff Goldhagens, der
alles andere als ein Begriff war, schon durchscheinen ließ, das macht sein
Kapitalbegriff unabweisbar: Hier denkt und arbeitet jemand, den nur Zufall und höhere
Fügung davor bewahrt haben, das Drehbuch zu "Schindlers Liste" zu
schreiben. Da ist die Rede davon, die "subjektive Vorstellung der Deutschen
von den Juden" hätte sie dazu veranlaßt, "Arbeit - also eine
instrumentelle Tätigkeit, die normalerweise der effizienten und rationalen
Produktion dient in ein Mittel der Zerstörung zu verwandeln" (S. 377),
da spricht Goldhagen von einem "Sieg von Politik und Ideologie über das
ökonomische Eigeninteresse" (S. 382) und davon, "daß der eliminatorische
Antisemitismus selbst dann das Handeln der Akteure bestimmte, wenn ihnen die normalerweise
machtvolle Logik ökonomischer Rationalität gegenüberstand, die doch
das deutsche Wirtschaftsleben im großen und ganzen bestimmte" (S. 471
), schließich noch davon, daß "die Macht des Antisemitismus die
ökonomische und für eine moderne industrielle Produktionsweise erforderliche
Rationalität außer Kraft gesetzt" (S. 499) hätten: Reinhard
Kuehnl, Ernst Nolte und die deutsche Reichsbahn lassen grüßen. Von der
Vorstellung, Geld und Kapital seien an sich selbst antisemitisch, erzeugten gar
aus eigenem Wesen und eigener Dynamik die objektive Ideologie eben jenes abstrakten
und unproduktiven, jenes wurzellosen und kosmopolitischen Un- und Antiwesens, als
das die Nazis dann die Juden mörderisch identifizierten, ist Goldhagen so weit
entfernt wie nur die deutschen Historiker vom Grundkurs "Marx für Anfänger".
'Die konsequenten Vertreter der Illusion, daß der Mehrwert aus einem nominellen
Preisaufschlag entspringt", notierte Marx für alle, die den Warentausch
für ein kognitives Modell halten, "oder aus dem Privilegium des Verkäufers,
die Ware teurer zu verkaufen, unterstellen daher eine Klasse, die nur kauft, ohne
zu verkaufen, also auch nur konsumiert ohne zu produzieren. Die Existenz einer solchen
Klasse ist ... unerklärlich. (... ) Das Geld, womit eine solche Klasse beständig
kauft, muß ihr beständig, ohne Austausch, umsonst, auf beliebige Rechts-
und Gewalttitel hin, von den Warenbesitzern selbst zufließen." (26) Darin nimmt die Logik des Antisemitismus ihren Anfang, die durch
die Irrungen und Wirrungen der Geschichte hindurch nach ihrer Selbstverwirklichung
trachtet, d.h. danach, ihres eigenen objektiven Zwecks auch subjektiv und praktisch
innezuwerden, d.h. den nazistischen Aufstand des Konkreten gegen das Abstrakte,
die deutsche Revolution des Gebrauchswerts gegen den Tauschwert ins Werk zu setzen,
d.h. die Liquidation des monetaeren Parasiten und "Gegen-Volks" (Rosenberg). (27) Die historische Gelegenheit dazu ergab sich aus
dem Zusammenbruch des deutschen Kapitals im Zuge der großen Krise von 1929.
Diese Krise, die nur aus dem allgemeinen Begriff des Kapitals zu erklären ist,
setzte das totalitäre politische Potential frei, das in der deutschen Nation
und ihrem Staat aufgespeichert war und das sich im Antisemitismus niederschlug.
Was folgte, war so "typisch deutsch", wie das Kapital es nicht ist, denn
es gehorchte einer derart zwanghaften, in Barbarei als bis dato unbekannte Gesellschaftsform
überschnappenden Logik, daß das Kapital ihrer nirgendwo anders denn eben
in Deutschland hätte fähig sein können.
"Die Täter", sagt Goldhagen, "waren keine Automaten und keine
Puppen" (28), und sie waren erst recht nicht
Marionetten des Kapitals. Sie waren ganz gewöhnliche Deutsche, die es definitiv
satt hatten, vom Kapital geschurigelt und determiniert zu werden, die sich mit Haut
und Haaren dafür entschieden hatten, es in wohnhaftem Elan zu überbieten,
um selbst Kapital zu sein, um endlich dem Geheimnis der Verwertung des Werts auf
die Spur zu kommen.
Auschwitz, Begriff der deutschen Geschichte
Es ist diese überaus negative Dialektik, die es macht, daß Auschwitz
mit den geistigen Mitteln des bürgerlichen Verstandes, so wie er sich in der
Geschichtswissenschaft ausdrückt, weder zu verstehen noch zu erklären
ist. Der Massenmord ist das synthetische Produkt der Geschichte der bürgerlichen
Gesellschaft in Deutschland, ihr wie immer vermitteltes Resultat. Im Massenmord
ist alles enthalten und aufgehoben. Auschwitz ist die Wahrheit Deutschlands; und
eine andere Wahrheit, da können sich deutschen Historiker mühen und quälen,
wie sie wollen, wird es niemals gegeben haben. War der Massenmord also der logische
Schlußpunkt einer Linie, die von Luther über Nietzsche zu Hitler führt?
Ja und nein. Ja: denn Luther war ein grosser Antisemit vor dem Herrn, nein: denn
er war es nicht vor dem Gott, der nach ihm kam, dem Kapital, konnte es noch nicht
sein - aber die Antwort ist an sich nichtig und egal, denn der historische Prozess
erlischt im Resultat, das Auschwitz heisst, und er verschwindet darin so, wie die
Absichten und Motive der am Warentausch Beteiligten erlöschen und gleichgültig
werden, wenn Zahltag ist. Es ist das Resultat, das ex post über den historischen
Prozeß entscheidet, der dann ex ante zu ihm führte und auf kein anderes
führen konnte, d.h. es ist das Produkt, das die Produktion bestimmt. Man kann
das Produkt nicht vom Prozeß her denken, und daher identifiziert das Produkt
das Ausschlaggebende, das Wesentliche am Prozess. Die Toten jedoch sind tot, kein
Sinn, der ihren Tod ungeschehen machen könnte, keine Interpretation der Entwicklung
hin zum Mord, der daran ein Jota ändern könnte. Geschichtswissenschaft,
die in "Faktoren" und "Bedingungen" denkt (und anders kann sie,
wenn sie überhaupt denkt, überhaupt nicht denken) arbeitet im nationalen
Interesse an der Virtualisierung der Massenvernichtung: Je mehr Argumente über
"notwendige und hinreichende Bedingungen" sie dafür beibringt, daß
alles auch hätte ganz anders kommen können, wenn .... , desto weniger
ist, ob Mommsen, Wehler, Jaeckel oder Zitelmann, von der fatalen Notwendigkeit der
bürgerlichen Gesellschaft die Rede, die es machte, daß ...
Das Produkt der Geschichte des Kapitals in Deutschland ist Auschwitz. Was aber ist
Auschwitz? Was ist die Massenvernichtung im Verhältnis zu einer, wie es heißt,
von der Zweck-Mittel-Rationalität beherrschten bürgerlichen Gesellschaft,
die die Vernichtungslager hervorbrachte? Es ist die Wahrheit dieser Gesellschaft,
so, wie sie aus der an sich irrationalen Dialektik von Zweck und Mittel hervorgeht.
Die bürgerliche Gesellschaft kann den Nazismus nicht begreifen, denn dieser
ist ihr originäres und genuines Produkt, Fleisch vom Fleische. Würde sie
ihn begreifen, sie müßte gegen sich selbst revolutionieren, d.h. Selbstmord
begehen. Die Geschichtswissenschaft dieser Gesellschaft, d.h. die planmäßige
Bilanzierung ihrer verflossenen Taten und Untaten, kann den Nazismus erst recht
nicht begreifen, denn sie transformiert, Maß und Maßstab ihrer Urteile,
die Zweck-Mittel-Rationalität aus einer Ideologie zur Methode: Nie wird sie
damit fertig werden, über die "falsche" Verwendung der knappen Güterwagons
zu staunen, niemals damit, in "Schindlers Liste" den produktiven, d.h.
recht eigentlich antifaschistischen Gebrauch der Arbeitskraft durch das Kapital
zu begaffen. Auschwitz jedoch, das war, in stenogrammhafter Definition, die Selbstaufhebung
des Kapitals im Verfolg seiner eigenen Dynamik und auf seiner eigenen Grundlage,
d.h. eine qualitativ neue, zwar kapitalgeborene, aber doch kapitalentsprungene Gesellschaftsformation,
d.h. Barbarei in einem nicht luxemburgischen, nicht metaphorischen Sinne, d.h. die
geoffenbarte Wahrheit der "verrückten Form" (Marx). "Barbarei"
allerdings ist bloße Definition, alles andere als Begriff im strengen Sinne,
denn begreifen, d.h. verstehen und erklären läßt sich nur, was,
wie diskret auch immer, an Vernunft doch immerhin partiziert. Die Toten müßten
sprechen; aber wenn sie es denn könnten, würden sie von den deutschen
Historikern mit allen Mitteln ihrer "seriösen Holocaust- Forschung"
(Mommsen) daran gehindert, bestenfalls in die Abteilung "oral history"
deportiert.
Der Antisemitismus ist daher schuld an Auschwitz, und er ist es nicht. Ja und nein.
Ja: denn Antisemitismus ist eine Basisideologie der bürgerlichen Gesellschaft
schlechthin, und ist es insbesondere in Deutschland, einer Gesellschaft, die sich
als bürgerliche nur gegen die bürgerliche Revolution zu konstituieren
vermochte, d.h. als Produkt eines erst absolutistischen, dann bonapartistischen,
in letzter Instanz nazistischen Staates, der, so klassenübergreifend wie klassennegierend,
im Antisemitismus das politische Programm der totalen politischen Integration fand.
(29) Der Antisemitismus ist schuld am Massenmord,
weil er das notwendig falsche, sprich: praktisch richtige Bewußtsein einer
verkehrten Gesellschaft darstellt: Goldhagen hat ganz recht. - Nein: denn der Antisemitismus
ist, als objektive Ideologie, nichts ohne die Gesellschaft, die in ihm sich reflektiert,
Daher irrt Goldhagen. Der Antisemitismus ist schuld; und er ist es nicht, weil die
Vernichtung, die auf die Juden zielte und sie traf, in wahnhafter Verschiebung der
Selbstvernichtung der bürgerlichen Gesellschaft wehren sollte. Darin liegt
das Anathema der Geschichtswissenschaft, das ihre Bemühungen im Ansatz nichtig
macht: Daß Auschwitz eine Tat war, die, nach dem Bild des Amokläufers,
keine wie immer geartete Beziehung zwischen dem Täter und seinem Opfer, die
irgend in letzterem gründete, zu ermitteln erlaubt, daß diese Tat kein
Mittel gewesen ist zu irgendeinem Zweck, sondern das Mittel als autistischer Selbstzweck,
d.h. die fatale Konsequenz aus der Todeskrise der Selbstvermittlung der bürgerlichen
Gesellschaft durch das Kapital, in deren Konsequenz das automatische Subjekt alle
in der Perspektive des Positivismus rationalitätsstiftenden Vermittlungen kassiert
und in vollendeter Raserei zum tödlichen Block erstarrt. Darin sind "die
historischen Voraussetzungen, unter denen allein das Kapital Gebrauchswert setzt"(30), ebenso vergangen wie die materiellen Bedingungen
aufgehoben, unter denen allein es erkennbar ist. Auschwitz liegt im Jenseits des
Begriffs, weil sich die kapitalisierte Gesellschaft im Zuge ihrer Selbstaufhebung
in Barbarei selbst im Jenseits ihrer menschenmöglichen Begreifbarkeit plaziert
hat. Ja und nein daher, pro und contra Goldhagen in einem: Ja, denn der Antisemitismus
ist schuld an der Massenvernichtung, weil er, funktional äquivalent, für
die Nazis das darstellte, was fdGO, Pluralismus und soziale Marktwirtschaft ihren
legitimen Rechtsnachfolgern bedeuten: praktische Geschäftsordnung der Politik
und ideologisches Selbstbewußtsein in einem. Und nein, denn Antisemitismus
ist nur selbstbewußte Ideologie, d.h. ein Denken, das nicht sich selbst denkt,
das gedacht wird. Der "Wille zu töten", dessen Spur Goldhagen mit
kriminalistischer Akribie und juristischer Präzision verfolgt, ist in einem
der unwiderstehliche und unabweisbare Zwang zu töten.
Zwangscharakter der Freiheit: In völliger Freiheit nicht anders zu können
- in diesem Realparadox resümiert sich der Grund, der es macht, daß man
niemals wird wissen können, was Auschwitz war, und warum es war. Auschwitz
läßt sich weder erklären noch verstehen, es läßt sich
weder erklären und nicht verstehen noch läßt es sich nicht erklären
und doch verstehen, weil es die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit
dieser Unterscheidung selbst aufhebt. Die Wahrheit der Massenvernichtung kann daher
keine in sich selbst noch so schlüssige oder gar vernünftige Theorie sein,
sondern nur die praktische Herstellung der "freien Assoziation", d.h.
der staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft. Es kann keine vernünftige Theorie
der vollendeten Unvernunft geben, nur deren Rationalisierung. Auschwitz macht keinen
Sinn: Und das ist das Ende der Geschichtswissenschaft.
Joachim Bruhm
Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf Daniel Jonah Goldhagen, Hitters
willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996
Anmerkungen:
1) Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie,
Bd. 3, Berlin 1973 (MEW 25), S. 95
2) Goetz Aly, D. J. Goldhagen. Hitlers willige Vollstrecker.
Rezension, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung
6/1996, S. 48
2a) Hans-Ulrich Wehler, Wie ein Stachel im Fleisch,
in: Julius H. Schoeps (Hrsg.), Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur
Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, Hamburg 1996, S.
203 f. (zuerst in: Die Zeit v. 14.5.96)
3) Vgl. Ulrich Enderwitz, Kritik der Geschichtswissenschaft.
Der historische Relativismus, die Kategorie der Quelle und das Problem der Zukunft
in der Geschichte, Berlin 1988
4) Max Horkheimer, Die Juden und Europa (1939) in: Ders,
Autoritärer Staat. Aufsaetze 1939-1941, Amsterdam 1967, S. 34
5) Ingrid Gilcher-Holthey, Die Mentalität der Taeter,
in: Schoeps, a.a.O., S. 213 (zuerst in: Die Zeit vom 7.6.1996)
6) Vgl. Joachim Bruhn, Das Menschenrecht des Bürgers,
in: Ders., Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation, Freiburg 1994, S.
121 ff
7) Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre
Feinde. Band 2: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen (engl. 1944), 6. Auflage,
München 1980, S. 285
8) Hans Mommsen, Die dünne Patina der Zivilisation.
Der Antisemitismus war eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für
den Holocaust, in: Die Zeit vom 30.8.96
9) Mommsen, ebd.
10) Ulrich Herbert, Die richtige Frage, in: Schoops,
a.a.O., S. 224 (zuerst in: Die Zeit vom 14.6.1996)
11) Mommsen, a.a.0.
12) G.W.F Hegel, Vorlesungen über die Philosophie
der Geschichte (Werke Bd. 12), Frankfurt 1970, S. 49
13) G.W.F Hegel, Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften im Grundrisse. Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik (Werke Bd.
8), Frankfurt 1970, S. 109
14) Hegel, a.a.O., S. 111
15) Frank Schirrmacher, Hitlers Code, in: Schoeps,
a.a.O., S. 104 (zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15.4.1996)
16) Jost Nolte, Sisyphos ist Deutscher, in: Schoeps,
a.a. 0., S. 111 (zuerst in: Die Weit v. 16.4.1996)
17) Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen
Ökonomie, Bd. 1 (MEW 23), Berlin 1973, S. 90
18) Viktor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis
zum letzten. Tagebücher 1933-1945, Berlin 1995, Eintragungen vom 17.8.1937,
20.9.1937, 25.10.1941 und 5.9.1944
19) Zitiert nach Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen
1932-1945, Wiesbaden 1973,S.1992
20) Josef Joffe, Die Killer waren normale Deutsche,
also waren die normalen Deutschen Killer", in: Schoeps, a.a.O., S. 164 f. (zuerst
in: Süddeutsche Zeitung v. 13./14.4.1996 und Time v. 29.4.1996)
21) Marx, a.a.O., S. 169
22) D. J. Goldhagen, Das Versagen der Kritiker, in:
Die Zeit v. 2.8.1996. - Hier liegt der Grund, warum Christopher R. Brownings Studie
Ganz normale Maenner. Das Reserve-Polizeibatailion und die "Endlösung"
in Polen (Reinbek 1993) so überaus gut ankommt: Es wimmelt darin von "psychologischen
und situativen (sozialen, kulturellen und institutionellen) Faktoren" (S. 217),
die alle "eine Rolle spielen allerdings in unterschiedlichem Maße und
keineswegs uneingeschränkt" (S. 208). Die Faktoren schwirren umher wie
ein Bienenschwarm, nichts, was sie zusammenhält; der ins Äußerste
getriebene Empirismus kapituliert: "Das Verhalten eines jeden menschlichen
Wesens ist natürlich eine sehr komplexe Angelegenheit, und wer es als Historiker
zu erklären versucht, befleißigt sich automatisch einer gewissen Arroganz.
Wenn es nun um fast 500 Maenner geht, ist es noch gewagter, den Versuch einer allgemeingültigen
Erklärung ihres kollektiven Verhaltens zu unternehmen" (S. 246). Aber
er kapituliert nur pro forma: "Die Verantwortung für das eigene Tun liegt
letztlich bei jedem einzelnen" (ebd.) Diesem ultraliberalen Credo, daß
Erklären Verstehen heißt und letztlich jeder Nazi sein eigener Nürnberger
Gerichtshof zu sein habe, folgt der Umschlag in den krudesten Objektivismus. Plötzlich,
auf der letzten Seite, tritt sie auf, "die Gesellschaft", "die ihre
Mitglieder dazu erzieht, sich der Autorität respektvoll zu fuegen", die
Gesellschaft, "die ohne diese Form der Konditionierung wohl auch kaum funktionieren"
würde, und sie erweist sich in vollendeter Begriffslosigkeit als quasi- anthropologisches
Existential, nämlich als Auswuchs der "Komplexität des Lebens".
(ebd.) Der vermeintliche Gegensatz von Erklären und Verstehen (ein Derivat
nur der Max Weberschen Scheidung von Tatsachenfeststellung und Werturtell), mit
dem sich die Historiker, ob nun als Strukturalisten oder als lntentionalisten, bis
heute plagen, erhebt sich zur Apologie. Dächte er wirklich radikal subjektivistisch,
hätte der Historiker als Psychoanalytiker zu arbeiten, aber dort, im Innersten
des Verstehens, käme ihm in Gestalt der Libido doch nur und wiederum das Kapital
entgegen, vor dem er aus guten Gründen schon in den Empirismus geflohen ist.
Die Historie ist eine unmögliche Wissenschaft, die, gleichwohl betrieben, nur
zur Ideologieproduktion taugt, d.h. zur Abwehr jedes kategorischen Urteils über
die Nation: Mommsen (Die dünne Patina ... ) sagt in diesem Sinne", daß
Goldhagens vorurteilsgeprägtes Herangehen eine differenzierte Analyse, die
die unterschiedlichen handlungsleitenden Faktoren gegeneinander abwägt, weitgehend
ausschließt, zumal er weniger auf eine Erklärung des Handelns der Individuen
als vielmehr den Nachweis ihres schuldhaften Verhaltens abhebt." - Die "Komplexität
dieser Vorgänge" (ebd.) ist eben eine so hochkomplexe, daß man nicht
Universitäten, sondern Rechenzentren mit dem Nazismus befassen müßte.
23) Zuletzt hat Jochen Hoerisch, Kopf oder Zahl. Die
Poesie des Geldes (Frankfurt 1996) diesen Gedanken ausgefuehrt. Vgl. jedoch vor
allem: Alfred Sohn-Rethel, Geistige und koerperliche Arbeit. Zur Epistemologie der
abendlaendischen Geschichte. Revidierte und ergaenzte Neuauflage, Weinheim 1989.
- Geldtheorie ist der Kern von Gesellschaftstheorie nur überhaupt. Nicht nur
hängen nominalistische Geldtheorie und pluralistische Gesellschaftstheorie
untrennbar zusammen (Hans-Georg Backhaus, Zur Dialektik der Wertform, in: Alfred
Schmidt, Beitraege zurmaterialistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt 1969), sondern
die Rekonstruktion dieses Nexus ist es, was einen materialistischen Begriff von
Wahrheit erst stiftet. Andernfalls "gibt es soviel prinzipiell verschiedene
Wahrheiten, wie es prinzipiell verschiedene ... Lebensanforderungen gibt" (Georg
Simmel, Philosophie des Geldes, 7. Auflage Berlin 1977, S. 70), also kein einziges
Argument mehr gegen den Antisemitismus.
24) Hegel, a.a.O., S. 83
25) Vgl. Moishe Postone, Nationalsozialismus und Antisemitismus.
Ein theoretischer Versuch, zuletzt in: Michael Werz (Hg.), Antisemitismus und Gesellschaft.
Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt, Frankfurt 1995, S. 29 ff.
Vgl. auch Stefan Vogt/Andreas Benl, "No Germans, no Holocaust". Zur Kritik
von D. J. Goldhagens "Hitlers Willing Executioners", in: Bahamas Nr. 20
(Sommer 1996), S. 42 ff.
26) Marx, Kapital, Bd. 1, S. 176
27) Was Goldhagen den "ökonomischen Antisemitismus"
(S. 60 f.) nennt, verfällt zu Recht seiner Kritik: Interessen erklären
nichts, ihre Verwissenschaftlichung zur linksparteilichen Soziologie auch nichts.
Von den Marxisten kann man tatsächlich nicht lernen, wie der Antisemitismus
mit Marx zu deuten wäre: Man lese nur fk., D. J. Goldhagens "Hitiers Willing
Executioners" Wer waren die Taeter? (in: Linksruck. Jung - sozialistisch -
aktiv, Nr. 30 (Maerz 1996), S. 22), der Goldhagen vorwirft, "die eigentlich
Schuldigen im Brei der Allgemeinschuld ungeschoren" zu lassen, oder Reinhard
Kuehnl, der der Rede von "den Deutschen" eine "Nähe zum völkischen
Antisemitismus" ankreidet (Kampf ums Geschichtsbild, in: junge Weit v. 24.6.1996).
28) Goldhagen, Das Versagen der Kritiker, a.a.0.
29) Siehe Ulrich Enderwitz, Antisemitismus und Volksstaat.
Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewaeltigung, Freiburg 1991
30) Siehe Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts,
Berlin 1995
aus: Bahamas 22 - 1997
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt