Die Skala des Scheußlichen ist nach unten offen
Jan Philipp Reemtsma über Gewalt im 20. Jahrhundert und die Verbrechen der
Wehrmacht
Das Interview führte die Frankfurter Rundschau
Sie haben ihn attackiert. Für die Gräber der Kriegsopfer solle er was
spenden, empfahl die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach. Kranken Rauchern
möge er was zugute kommen lassen, verlangte der Münchner CSU-Chef Peter
Gauweiler. Die Rechtskonservativen richteten ihre Angriffe gegen Jan Philipp Reemtsma.
Der 45jährige ist der Chef des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
Die Einrichtung zeichnet verantwortlich für die Ausstellung über die Verbrechen
der deutschen Wehrmacht in der Sowjetunion. Eine Dokumentation des Vernichtungskriegs,
die vom heutigen Montag an in der Frankfurter Paulskirche zu sehen ist.
Die Ausstellung wirkte "wie ein Reiz, der Geschichten zum Vorschein bringt,
die abgekapselt waren, weggedrängt, verleugnet", sagt Reemtsma, dem die
Konservativen einem Vorwurf gleich nachtragen, er habe Millionen geerbt. Hat er
auch.
Aber er zog sein Geld von den Kapitalmärkte ab und steckte es in die Produktion
von Ideen. Reemtsma gibt sein Geld dafür aus, daß "Leute gut und
genau denken". Im Mittelweg 36, gute Adresse in Hamburg. Dort sprach der Mäzen
mit den FR -Redakteuren Matthias Arning und Axel Vornbäumen über das Phänomen
der Gewalt, die Wirkung des US-Historikers Daniel Goldhagen, über Theodor W.
Adorno, Dummköpfe und die Ausstellung.
Herr Reemtsma, haben Sie gedient?
Nein.
Sie ahnen, warum wir so fragen? In der Logik von Kommißköppen haben
Sie damit die Qualifikation, sich über die Wehrmacht zu äußern,
grandios verfehlt. Mit solchen Einwänden können Sie leben?
Ja, sicher. Es ist nicht möglich, sich mit bestimmten Formen der Kritik auseinanderzusetzen,
die einfach indiskutabel sind. Zu dummen Anwürfen kann man keine intelligenten
Repliken machen. Das ist der Vorteil, den manche Dummköpfe haben, weil sie
dann mit ihren Sätzen unkommentiert bestehen können. So ist die Welt.
Wie sieht es denn mit der Nützlichkeit von Reflexen aus? Haben Sie Herrn
Gauweiler schon einen Präsentkorb nach München geschickt - in dialektischer
Dankbarkeit für seine Reaktion?
Ich habe die Sätze von Herrn Gauweiler in keiner Weise kommentiert und gedenke
das auch nicht zu tun.
Immerhin hat er Ihrer Ausstellung einen erhöhten Aufmerksamkeitswert verschafft,
in München gab es mit 90 000 Besuchern einen Rekord.
Das ist richtig. Und vielleicht verdrießt ihn das. Aber im Grunde ist das
egal. Diese Ausstellung ist nicht darauf angelegt, jemanden zu ärgern, schon
gar nicht, Krawall zu machen. Sie hat, wo immer sie hingekommen ist, Aufmerksamkeit
auf sich gezogen, wohl mehr als vergleichbare zeitgeschichtliche Ausstellungen.
Deshalb ist sie bis 1999 ausgebucht.
Ihr Mitarbeiter Hannes Heer, der aus rechtskonservativen Kreisen häufigster
Adressat der Attacken gewesen ist, hat nach der Wehrmachtsdebatte im Bundestag gesagt:
Wir haben erreicht, daß nicht mehr nur die Ermordung der europäischen
Juden als Schuld von den Deutschen anerkannt wird, sondern auch die Schuld der bis
dahin als sauber geltenden Wehrmacht. Das ist eine kühne These.
Ich würde das gar nicht nur auf die Bundestagsdebatte beziehen. Entscheidend
dürfte 1995 die Rede von Verteidigungsminister Rühe gewesen sein, in der
er gesagt hat, daß die Wehrmacht aktiv bei den Verbrechen des Nationalsozialismus
beteiligt war und somit nicht zum Traditionsbestand der Bundeswehr gehören
könne. Man muß sehen, daß sich tatsächlich etwas umgekehrt
hat - verglichen etwa mit den 50er Jahren, wo die Männer des 20. Juli in weiten
Kreisen als Vaterlandsverräter galten und die Wehrmacht Traditionsbestandteil
war. Dazu hat die jahrelange Forschungs- und Aufklärungsarbeit einiger - nicht
sehr vieler - Historiker beigetragen, und nun hat das Hamburger Institut auch einen
Beitrag dazu geleistet.
War die Aussprache im Bundestag Ihrer Ansicht nach qualitativ hochstehend?
Es war zumindest eine Debatte, die sehr aus dem Rahmen fiel und die, von wenigen
Ausnahmen abgesehen, von sehr großer Ernsthaftigkeit geprägt war und
sehr weit auf Schablonen der Polemik verzichtet hat. Das ist eine gute Sache.
Eindrucksvoll fanden wir die persönlichen Geschichten, die erzählt
wurden. Das ist selten geworden im öffentlichen Raum.
Das ist für die Analyse des gesamten Phänomens hochinteressant: Was ist
da emotional in Gang gekommen, was hat sich verändert? Ich sehe die Wehrmachtsausstellung
im Kontext mit zwei anderen medienwirksamen Ereignissen: der Publikation der Klemperer-Tagebücher
und dem Buch von Goldhagen. Diese drei publizistischen Ereignisse haben etwas thematisiert,
was in der elitenorientierten Geschichtsschreibung zu kurz kommen mußte, nämlich
den Zusammenhang von Regime und Volksgemeinschaft. Wo das thematisiert wird, wird
automatisch der familiäre Rahmen potentiell mitthematisiert. Wenn das passiert,
steigt die emotionale Intensität der Auseinandersetzung, und diese fordert
das Genre Geschichte. Im Bundestag ist genau das passiert, was man psychologisch
erwarten durfte. Man wirft in eine kleine Gruppe ein private Emotionen betreffendes
Thema, dann geht es ein wenig hin und her, dann kommt die Familiengeschichte, man
fängt an zu erzählen. Im Bundestag ist eine klassische Gruppendynamik
abgelaufen.
Das Gegenstück zum Erzählen ist das Schweigen. Sie haben bei der Eröffnung
der Ausstellung in München gesagt, das Schweigen in den Jahren unmittelbar
nach dem Krieg sei gar nicht schlecht gewesen. Damit sei vermieden worden, daß
wir die Erfolgsgeschichte des Ostfeldzuges erzählt bekommen haben.
Es gibt auch die Dialektik der Unvernunft oder der Amoral. Man muß sehen,
daß dies wahrscheinlich die Bedingung dafür war, daß eine Veteranenkultur,
wie sie in Österreich existiert, hier nicht zustande gekommen ist. Es hat in
den 50er Jahren Versuche gegeben, das kann man schön bei Wolfgang Kraushaar
als Protestchronik nachlesen, die gescheitert sind. Wahrscheinlich wären die
nicht gescheitert ohne diesen Pakt des Schweigens. Daß dies auf der anderen
Seite unmoralisch war, weil Verbrechen verleugnet und verschwiegen worden sind und
weil viele Soldaten, mit dem was sie gesehen hatten, auch kein Forum fanden, um
die Wahrheit über diesen Krieg zu erzählen, steht auf einem anderen Blatt.
Aber es kann auch sein, daß etwas, was man mit guten Gründen kritisiert,
positive Effekte hat.
Brechen im Umfeld der Ausstellung nun die alten Kameraden den Pakt des Schweigens.
Hören wir also jetzt, verspätet, von den Heldentaten des Ostfeldzuges?
Ist mir nicht bekannt. Ich glaube, das würde selbst für den, der jetzt
das Bedürfnis dazu hätte, wohl zuweit gehen. Das wäre zu deutlich
der falsche Ort. Es sind sehr viele ehemalige Soldaten Besucher der Ausstellung.
In Stuttgart hat ein 80jähriger Mann geschimpft: "Verleumdung", darauf
dreht sich ein Mann im selben Alter um und meint: "Was rufst Du hier? Das hast
Du doch genauso gesehen wie ich, Du weißt doch genau, daß das stimmt."
Man mußte die beiden trennen. In dem Film von Ruth Beckermann "Jenseits
des Krieges" sind Aufnahmen von Besuchern der Ausstellung in Wien zu sehen.
Da sagt einer: "Ich weiß, daß es stimmt und ich erlebe wieder die
Verleugnung, die ich aus der Zeit nach 1945 kenne, als ich mit meinen Kameraden
darüber sprechen wollte, was ich im Krieg gesehen habe. Und jetzt passiert
mir das wieder". Das ist eine ganz typische Sache. Das erleben wir auch in
Briefen. Die Leute bieten uns Material an, es gibt persönliche Erzählungen.
Ich habe kürzlich von jemandem einen Brief bekommen, der mir eine Geschichte
aus dem Krieg erzählt. Ein Kamerad hat russische Kriegsgefangene erschossen
und er hat ihn nicht gemeldet. Er bat um Verständnis dafür. Vorher habe
es einen Partisanenüberfall gegeben (so jedenfalls seine Interpretation) und
ein Freund von dem ist dabei getötet worden. Einerseits bittet er: Nimm doch
mal zur Kenntnis, was dort vorgefallen ist und greif' uns nicht an, verstehe den
doch! Wenn man die Psychologie von Kriegshandlungen begreift, weiß man, wie
das funktioniert. Auf der anderen Seite aber ist das eine Geschichte, so nehme ich
mal an, die sein Gewissen umtreibt. Dieser Kamerad, sein Untergebener, hat Kriegsgefangene
erschossen. Das war Mord. Und er hat ihn nicht gemeldet. Es ist eine sehr merkwürdig
schillernde Geschichte, die er da erzählt.
Gibt es in den Briefen, die Sie bekommen, einen Standard-Abwehrmechanismus?
Ich nehme an, daß im Zentrum der Abwehr der Satz steht: Kriege sind nunmal
so. Interessanterweise haben wir diesen Satz hier in Hamburg nicht von einem Veteranen,
sondern von einer Journalistin gehört, die das Gefühl hatte, wir bringen
ihre pazifistische Position durcheinander, wenn wir Kriege differenzieren. Wir würden
uns hinstellen und sagen, es gibt einen Unterschied zwischen dem Krieg, von dem
die Ausstellung spricht, und anderen. Rechtfertigen wir dann nicht die anderen Kriege.
Da gibt es so etwas wie eine Koalition des pazifistischen Affekts mit dem "Rettet
die Wehrmacht", die beide in diesem Satz gerinnen können. Das ist interessant.
Es gab herbe Kritik an der Ausstellung. Welche Kritik in der Sache hat Sie am
meisten getroffen?
Aus der Tatsache, daß wir an dieser Ausstellung nichts geändert haben,
können Sie schließen, daß uns diese Kritik nicht getroffen hat.
Es fing damit an, daß behauptet wurde, die Fotos seien möglicherweise
gefälscht. Dazu ist kein Nachweis erbracht worden. Dieser Vorwurf ist dann
fallengelassen worden. Der Rest der Polemik gegen die Ausstellung zeichnete von
ihr ein falsches Bild. Wenn man nach der Polemik ginge, müßte man erwarten,
in eine Ausstellung zu kommen, wo sehr große, überdimensionale Fotos
schockieren und es kaum Text gibt. Es ist aber in erster Linie eine Textausstellung
mit sehr kleinen Fotos. Was mich trifft, ist die Hartnäckigkeit, mit der ein
falsches Bild dieser Ausstellung zur Grundlage einer Diskussion gemacht wird. Das
geht bis zur Verteidigung der Ausstellung durch Rudolf Augstein im Spiegel , der
sagt: die Leute wollen heute nicht mehr lesen, denen muß man Fotos zeigen.
Museumspädagogen und Ausstellungspädagogen haben uns gesagt: Ihr seid
ja verrückt geworden. Ihr könnt den Leuten nicht so viel Text zumuten.
Ihr müßt die Fotos größer machen. Nein, die Leute sollten
lesen und dann den Blick auf die Fotos richten. Und die Besucher verhalten sich
größtenteils auch so. Die Polemik und zuweilen auch die Verteidigung
bezieht sich auf eine Legende. Das ist das, was ich am störendsten empfinde.
In Frankfurt ist die Ausstellung in der Paulskirche zu sehen. Gibt es nicht "plausiblere"
Orte, etwa das Haus Gallus, in dem in den 60er Jahren die Auschwitz-Prozesse geführt
worden sind?
Wir haben nie besonderen Wert auf die Orte in den Städten gelegt, etwa Rathäuser
oder Landtage. Es sollen welche sein, wo sich möglichst viele Leute diese Ausstellung
anschauen können. Die Paulskirche ist selbstverständlich ein guter und
richtiger Ort. Aber diese Symboliken sind mir nicht so wahnsinnig wichtig.
Die Paulskirche hat für das kollektive Gedächtnis einen hohen Symbolwert.
Es steht für ein Stück Aufklärung in Deutschland. Aufklärung
ist für Sie eine Selbstverpflichtung. In welchem Zusammenhang steht diese Maxime
mit der Ausstellung?
Wenn ich von Aufklärung spreche, meine ich nicht die in Pädagogik hinein
verkürzte Attitüde des Gemeinschaftskunde-Lehrers. Das sicher nicht. Was
die Ausstellung angeht, sage ich sehr simpel: Man muß die historischen Tatsachen
zur Kenntnis nehmen. Man muß sich mit der historischen Wahrheit abfinden,
alles andere ist nicht gut für den Verstand.
Soll die Ausstellung auch Emotionen wachrufen, und wenn ja, was soll überwiegen:
die Abscheu über den Täter oder das Mitleid mit dem Opfer?
Das könnte ich nie voneinander trennen. Emotionen sind auch kognitive Instrumente.
Wer vor solchen Darstellungen, nicht nur von den Fotos, sondern auch von den Texten
nicht erschrickt, der begreift auch die Vorgänge nicht. Wenn man sich emotional
von solchen Ereignissen abschottet, kann man sie auch intellektuell nicht erfassen.
Insofern muß eine solche Ausstellung auch emotional berühren. Das kann
nicht anders sein.
Gibt es Bilder, die Sie besonders bewegt haben?
Mich hat besonders etwas berührt, was ich bei der Vorbereitung der Ausstellung,
bei der Auswahl der Bilder gesehen habe. Die Bilder sind zum Teil noch so in den
Archiven gewesen, wie sie den Soldaten in der Kriegsgefangenschaft abgenommen worden
sind, das heißt: in den Brieftaschen. Da gab es eine Brieftasche mit einer
Bildersequenz. Da war zunächst ein Häuschen, ich weiß nicht wo,
vielleicht im Schwäbischen, mit einem Familienfoto. Dann war da das Porträtfoto
einer Frau, die nicht auf dem Familienfoto war, es könnte die Schwester gewesen
sein, vielleicht auch die polnische Geliebte. Als nächstes war ein ganz typisches
Bild, eine Idylle, ein Weiher mit Gänsen, Bäumen, dann war da eine zerschossene
Stadt, ein langer staubiger Weg, in dessen Graben Leichen lagen. Und dann kam ein
aufgehängtes Kind mit einem Schild mit kyrillischer Aufschrift, wahrscheinlich
wurde das Kind als Plünderer denunziert, man drehte es noch so in die Kamera.
Ich habe darüber nachgedacht, was das heißt, daß jemand diese Bildsequenz
in seiner Brieftasche hat. Wir wissen nichts über die Intentionen dieser Fotografien,
aber dieses Amalgam vom Häuslichen über die Idylle des Krieges bis zum
aufgehängten Kind und die Notwendigkeit, daß der, der das Foto von zu
Hause anschauen will, zurückblättern muß, das hatte für mich
etwas Gespenstisches. Bei vielen Leuten steht ja im Vordergrund, wir wissen das
aus Gesprächen, aber auch aus Eintragungen im Gästebuch, daß es
häufig nicht das was die Fotos zeigen ist, was erschrecken macht, sondern der
Umstand, daß es überhaupt fotografiert wurde. Wir wissen bei sehr vielen
Fotos nicht, warum sie gemacht worden sind. Es gab einige Fotografen, die dokumentieren
wollten, etwa den Fotografen Gronefeld, von dem dieses berühmte "Gnadenschuß"-Foto
war. Wir wissen aber von den Aufschriften einiger Fotos auch, daß sie Trophäen
gewesen sind wegen der zynischen Kommentare auf der Rückseite. Das zeigt noch
einmal einen Barbarisierungsgrad von Teilen der Wehrmacht, der sich einem mitteilt,
wenn man sich lange in der Ausstellung aufhält. Man schaut irgendwann wie der
Soldat durch die Kamera und fragt sich: was hat der da getan, was hat der dabei
gefühlt?
Herr Reemtsma, wir zitieren Reemtsma: "Wer Gedenken zum Substitut des Gedächtnisses
macht, verhüllt es." Welche Rolle spielen die Verbrechen der Wehrmacht
von nun an im kollektiven Gedächtnis?
Es ist im Grunde zu früh, das zu beantworten. Die Ausstellung ist ja durch
den Erfolg, durch die politischen Debatten um sie selber zum zeitgeschichtlichen
Ereignis geworden, das der Analyse und der Auswertung bedarf. Wir haben deshalb
Interviews gemacht, wir haben die Gästebücher, es gibt Videobänder.
Man muß das analysieren. Zum jetzigen Zeitpunkt kann man nur sagen: Sie hat
wie ein Reiz gewirkt, der Geschichten zum Vorschein bringt, die abgekapselt waren,
weggedrängt, verleugnet. Manchmal bedarf es eines solchen Reizes von außen
nicht. Nehmen Sie Paul Feyerabend, der seine Autobiographie auf seinem Totenbett
schreibt, da kommen ihm auf einmal zwei drastische Erlebnisse aus dem Rückzug
aus Rußland über die Ermordung von Zivilisten, die in dem vorherigen
Erzählen über sein Leben keine Rolle spielten, ins Gedächtnis, aber
dann doch aufgeschrieben werden mußten. Und so etwas scheint diese Ausstellung
hierzulande anzustoßen. Was mit solchen Erinnerungen langfristig wird, das
weiß man nicht. Viele können dann auch wieder vergessen werden. Die Formel
"Wider das Vergessen" taugt als Formel nicht viel. Genauso wenig, wie
Gedenkrituale per se viel taugen. Es gehört zu manchen Geschichten, daß
sie auch vergessen werden können.
Damit sie nicht vergessen werden, haben Intellektuelle eine große Aufgabe
- die Aktualisierung des kollektiven Gedächtnisses. Wie sehen Sie sich selbst
als Intellektueller?
Keine Ahnung. Diese Frage stelle ich mir nicht.
Stellen Sie sich auch nicht die Frage nach der Funktion der Intellektuellen?
Ich würde sie eher salopp beantworten.
Bitte . . .
Leute, die das soziale Privileg haben, ihr Geld mit Denken verdienen zu können.
Die sollen das gefälligst gut und genau tun. So würde ich das beschreiben.
Ich verdiene mein Geld nicht damit, ich gebe es dafür aus, das ist der einzige
Unterschied.
Sie haben 1984 Ihr Institut gegründet. Wenn man Institut für Sozialforschung
hört, fällt einem sofort das berühmte andere Institut in Frankfurt
ein. War das ein Vorbild und Theodor W. Adorno eine Leitfigur für Sie?
Nein. Manchmal habe ich gedacht, es ist ein Fehler gewesen, es so genannt zu haben.
Genannt habe ich es deshalb so, weil der Begriff Sozialforschung das am besten beschreibt,
was hier gemacht wird. Es sollte nicht Soziologie oder Ökonomie, sondern schon
der Versuch sein, die Gesellschaft und ihre Institutionen als Ganzes in den Blick
zu nehmen und verschiedene Disziplinen zu vereinigen. Man kann sich ein solches
Institut nicht zum Vorbild nehmen und schon gar nicht Individuen wie Adorno.
Sollten Intellektuelle oder Philosophen in der heutigen Zeit auch herrschen?
Ich bin nicht der Meinung, daß Intellektuellen als Intellektuellen eine besondere
Rolle in der Politik zukommen müßte. Sie sollten sich nicht als Intellektuelle,
sondern als Bürger in der Verantwortung fühlen. Und wenn sie in der politischen
Debatte das, was sie aufgrund ihrer Privilegien mehr wissen, fruchtbar machen können
- umso besser. Aber die Idee von Philosophenkönigen finde ich nicht sehr schätzenswert.
Bei Platon hat man gesehen, was dabei herauskommt - in der Praxis wie in der politischen
Theorie.
Das Buch und die Thesen Daniel Goldhagens haben viele sehr stark emotional aufweckt.
Er behauptet, daß die Täter ihre Verbrechen begangen haben, weil sie
sie für richtig hielten. Sie haben Goldhagen dialektisch ergänzt, indem
Sie gesagt haben, die Täter hielten es für richtig, weil sie diese Taten
getan hatten.
Das Interessante an der Rezeption Goldhagens in Deutschland ist zunächst diese
einhellige Ablehnung durch die Zunft einerseits und der große Erfolg beim
Publikum, dieses Auseinanderklaffen. Als Goldhagen sein Eingangsstatement hier in
Hamburg machte, wurde mir deutlich, worum es bei diesem Öffentlichkeitserfolg
ging. Er sagte: Wo es einen Massenmord in der Geschichte gibt, ist man überzeugt,
daß die Täter davon ausgingen, daß es richtig war, was sie taten.
Nur im Schrifttum über den Holocaust wird vorausgesetzt, daß die Täter
das eigentlich nicht wollten, und sucht eine Erklärung, warum sie es doch getan
haben. Warum? Ich hatte ein wenig das Gefühl, daß es im Publikum eine
Erleichterung gab - jetzt sagt es endlich mal jemand. Das ist es doch, worum wir
uns die ganze Zeit gedrückt haben. Dazu gehören auch die kommunikativen
Strategien, in denen sich Täter darauf einigen konnten, daß das zwar
schrecklich war, aber richtig und notwendig. Dazu gehört dann auch diese Psychologie,
daß eine Tat begangen ist, der Mörder dennoch nicht als Mörder dastehen
will. Es werden Bilder kaschiert, die Erinnerung wird manipuliert, um, obwohl man
einen Mord begangen hat, hinterher nicht als Mörder dastehen zu müssen.
Das haben die Historiker vernachlässigt.
Interessant ist, Goldhagen-Debatte zweiter Teil, daß die Historiker sich mit
der Psychologie der Täter vergleichweise wenig beschäftigt haben. Es bleibt
ja ein interessantes Phänomen, auf das Goldhagen mit aller Vehemenz hingewiesen
hat, daß es geschehen konnte, daß in Teilen der Geschichtsschreibung
aus der Analyse des Holocaust der Antisemitismus verschwunden war. Das ist im Grunde
eine bemerkenswerte Leistung. Mir haben die Lektüre von Goldhagen und die Debatte
um sein Buch die Sinne geschärft für eher unscheinbare Textdetails. Wenn
etwa die Erklärung einer bestimmten Tat von vornherein - ohne entsprechenden
Beleg - unterstellt, der Täter habe sich zur Tat erst durchringen müssen.
Nehmen Sie als Beispiel den Einsatz von Zwangsarbeitern in deutschen Unternehmen.
Sehr oft wird so geschrieben, als sei die Entschlußbildung zum Zwangsarbeitereinsatz
in irgendeinem Unternehmen ziemlich mühselig gewesen. Es gibt aber keine Belege
dafür, daß das Thema im Vorstand oder im Aufsichtsrat kontrovers diskutiert
wurde. Im Gegenteil. Dazu hätte es im Grunde des Buches von Goldhagen nicht
bedürfen müssen, aber es hat viel bewirkt.
Es gibt Leute, die zählen schon die Tage bis zum Ende dieses Jahrhunderts.
Wie würden Sie dieses Jahrhundert charakterisieren und was meint in diesem
Zusammenhang der von Ihnen verwendete Begriff des zivilisatorischen Minimums?
Was mich immer interessiert hat, ist die spezifische Form der Ratlosigkeit, die
einen ergreift, wenn man auf dieses Jahrhundert zurückschaut. Die ist eine
ganz andere, als für jemand, der auf das 19. Jahrhundert zurückblickt.
Ich glaube nicht, daß der, der 1897 zurückgeblickt hat, das Gefühl
hatte, daß er an diesem 19. Jahrhundert nicht sehr viel versteht. Dieses Gefühl
der Ratlosigkeit, was wir am Ende dieses Jahrhunderts haben, hat entscheidend mit
der Gewaltgeschichte zu tun: die Vorstellung der Eingrenzbarkeit von Gewalt ist
in diesem Jahrhundert auf das gründlichste ruiniert worden - in Kriegen, in
zivilen Massakern, in Terrorsystemen unterschiedlichster Art. In diesem Zusammenhang
habe ich vom zivilisatorischen Minimum gesprochen, weil in verschiedenen Teilen
dieser Welt Menschen damit konfrontiert worden sind, daß sie der Gewalt durch
die simplen Strategien des Weglaufens oder Auswanderns, der Konversion oder des
Aufgebens nicht entgehen konnten. Dies ist eine der Schockerfahrungen dieses Jahrhunderts.
Versetzt Sie dies, als jemand, der viel über Gewalt und Elend geforscht
hat, in den Zustand der Verzweiflung?
Verzweiflung? Zur Aufklärung hat immer der Pessimismus gehört. Wenn Sie
Phänomene extremer Gewalt analysieren, kommen Sie immer wieder an den Punkt,
an dem Sie nicht mehr genau begreifen, was eigentlich vorgeht. Wenn man in die Details
geht, haben Sie nur eine Gewißheit: das, was Sie finden, ist immer noch scheußlicher,
als man es vorher angenommen hat. Die Skala des Scheußlichen, der Bosheit
und Gemeinheit ist nach unten offen. Aber trotzdem rede ich, wenn ich das sage,
nur über einen Teil der Welt. Wenn man bereit ist, ihn so wie er ist zur Kenntnis
zu nehmen, hat man schon etwas dafür getan, daß er vielleicht nicht das
letzte Wort, sagen wir: dieses Jahrhunderts bleibt.
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Most recent revision: April 07, 1998
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