Kollektivprojektion als Soziale Bewegung
Ein "weisser" Herbst in Belgien
Verkehrte Welt. Oder: Wie deutsch wird Belgien?
Als am 13. August 1996 Marc Dutroux und zwei Komplizen unter dem sich rasch bestätigenden
Verdacht der Entführung, des sexuellen Mißbrauchs und der Ermordung von
Kindern im belgischen Charleroi festgenommen werden, hätte dieser Fall an sich
nicht viel mehr hergegeben als eine voyeuristische Gruselnachricht; eine Nachricht,
die nur als Fußnote nutzbar gewesen wäre, im besten Falle für eine
Kampagne der Therapeutenlobby zur Schaffung von mehr strafbegleitenden Therapieplätzen,
im schlimmsten Falle für eine weitere Episode im periodisch aufflammenden antiliberalen
Kulturkampf der letzten Jahre.
Anders aber, als im ebenfalls 1996 aufgedeckten Fall des englischen Sexualmörders
West, der sich in seinem von der Presse so getauften "Horrorhaus" vergleichbarer
Straftaten wie Dutroux schuldig gemacht hatte, handelte es sich bei letzterem nicht
um den Typus des fleißigen Vorstädters, der sich in Mr. Hyde verwandelt.
Dutroux war im Gegensatz zu West ein - Rahmen des in Belgien erst in jüngerer
Zeit liberalisierten Strafvollzuges - vorzeitig aus der Haft entlassener Sexualstraftäter,
bezog Sozialhilfe und verfügte dennoch über ein beachtliches Einkommen,
indem er seine Gewaltakte abfilmte und an den Brüsseler Geschäftsmann
Nihoul verhökerte, der sie dann in Umlauf brachte. Nihoul wiederum, nur nebenberuflich
Pornohändler, bekam offensichtlich von der Brüsseler Verwaltung diverse
Aufträge zugeschanzt, eigentlich nicht ungewöhnlich für einen Immobilienspekulanten,
der er hauptsächlich war.
Dafür, daß aus dem Kriminalfall Dutroux die Staatsaffäre Dutroux
werden konnte, sorgten nicht zuletzt diese Ingredienzen. Sie ließen stereotype
Wahrnehmungsmuster, wie sie der autoritäre Charakter als Projektioncn der eigenen
mißlungenen Vergesellschaftung, der eigenen unterdrückten und umgeleiteten
Wünsche, zu konstruieren gezwungen ist, wie gut geölte Scharniere einrasten.
Die Stereotypie, die Hand in Hand mit vorurteilbeladener Personalisierung auftritt,
leidet für gewöhnlich darunter, daß den Projizierenden eine schwache
Ahnung davon erhalten bleibt, daß "Stereotypie und Personalisierung beide
der Realität gegenüber unzureichend (sind)." (Adorno 1980, 190) (1) Da die Projektionen von "Stereotypen...... wie
die einer verborgen-verschwörerischen Weltherrschaft der Juden, " ...
sich völlig von der Realität lösen und wild umherschweifen ... treten
unsinnige Verzerrungen auf ... wenn die Stereotypen wieder mit der Realität
konfrontiert werden" (Adorno 1980, 115), mit dem realen Elend des osteuropäischen
Ghettos beispielsweise. Bei der Wahrnehmung (2) der
Affäre Dutroux hingegen konnte die Projektion den gelinden, "verzerrenden"
Selbstzweifel abschütteln, der sie sonst zu fadenscheinigen, "rationalisierenden"
Hilfskonstrukten als solche sind die Rothschilds oder "Die Weisen von Zion"
dem Antisemiten notwendig zwingt. Selten zuvor gab es wohl einen singulären
Anlaß, der unterschiedliche Stereotypen zugleich bediente: Der genussfeindlich-masochistische
Neid auf den nichtarbeitenden Sozialschmarotzer, der sexuell aufgeladene sadistische
Wunsch nach dem autoritären, sowohl disziplinierenden wie auch strafenden Staat;
ein Staat, der in seiner heutigen Gestalt von sinistren Mächten und Verschwörern
insgeheim beherrscht wird, wie es der Verfolgungswahn argwöhnt, und der seine
unschuldigen Opfer grausam dahinmetzelt, wie es der Verfolgungswunsch sich mit Wonne
geradezu rituell ausmalt ("Mußte man sie auf dem Altar der Justiz opfern?",
fragt sich beispielsweise ein Lütticher Polizist, laut Spiegel 43/96).
Das Volk: einig, anständig und "weiss"
Die sich aus diesen Komponenten zusammensetzende "autoritäre Aggression"
(Adorno) bringt in Belgien in großer Geschwindigkeit, spontan und ohne öffentliche
Aufforderung oder feste Organisation, eine Volksbewegung reinsten Wassers auf die
Beine. Der "weiße Marsch" gegen Kindesmißbrauch und für
eine Justizreform am 20. Oktober 1996 ist nur ein Höhepunkt von Aktionen, an
denen sich "alle anständigen" Belgier beteiligen. Unternehmerverband
und Gewerkschaften fordern gemeinsam zu Arbeitsniederlegungen aus Protest auf, denen
sich Lütticher Stahlarbeiter genauso wie die Feuerwehr Brüssels anschließen.
Offiziell fordert die "weisse Bewegung" die Einsetzung eines parlamentarischen
Untersuchungsausschusses zur "Affäre Dutroux" und die Ernennung des
Untersuchungsrichters Connerotte (3), der eben erst
wegen offenkundiger Befangenheit das Verfahren Dutroux hatte abgeben müssen,
zum Überwacher des Ausschußes. Inoffiziell forderte dieser Marsch, wie
so viele andere kleinere, die gerne auch das Haus Dutroux' - mittlerweile der meistbesuchteste
Wallfahrtsort der Beneluxregion - besuchen, die Wiedereinführung der erst im
Juni 1996 abgeschafften Todesstrafe. Der König, von dem viele ein autoritäres
Signal erwarten, mit dem er sich über den als zu lax empfundenen Justizapparat
und die als zu interessengruppengebunden (sprich, zu demokratisch) verachteten politischen
Institutionen stellt, und nach kurzem Zögern auch der belgische Premier Dehaene
solidarisieren sich mit den o.g. offiziellen Forderungen.
Doch der unverhüllt zum Ausdruck kommende, sehnliche Wunsch der "weissen
Bewegung", daß irgendein hochrangiger politischer Repräsentant auch
nur irgend wie als "Täter" gebrandmarkt werden könne, wird immer
aufs neue enttäuscht. Umso erpichter bastelt man an der Konstruktion einer
Art "indirekter" Täterschaft: Dafür wird so ziemlich jeder etwas
spektakulärere Kriminalfall der letzten 15 Jahre ausgegraben und mit Mafiaeinfluss
im zu laschen Staatsapparat (vorzugsweise Walloniens), Geheimfronden in der zu zurückhaltenden
Gendarmerie, ominösen Erpressungsversuchen nach Schickeriaorgien und/oder internationalen
Schieber- und Pornoringen in Verbindung gebracht. (4)
Unter diesem Druck fanden sich schließlich im Dezember alle belgischen Parteien
zu einer "Konferenz zur Erneuerung der politischen Sitten" zusammen. Die
Unmengen an Dossiers, die im Zuge des parlamentarischen Untersuchungsausschusses
und seiner Saeuberungskampagne zusammengekommen waren, bedurften der nationalen
Weihe, obwohl sie nur so grossartige Dinge zum Vorschein brachten, wie, dass Parteispenden
veruntreut und am Fiskus vorbeigemogelt wurden (Spiegel 48/96).
Dessen ungeachtet klingelt das "grüne Telefon" weiter, eine Erfindung
des Volkshelden Connerotte, auf der anonym und gratis Sexualstraftaten denunziert
werden können - bis Mitte Dezember 96 wurden auf solche Anrufe hin 1.500 mal
Nachforschungen eingeleitet (NZZ, 15.12.96). Daß der sich offen zu seiner
Homosexualität bekennende Wirtschaftsminister Di Rupo, obendrein Sohn süditalienischer
(!) Einwanderer, dabei am stärksten unter (mittlerweile offenkundig haltlosen)
Verdacht geriet, überrascht nicht. Beeindruckend aber ist schon, daß
mittlerweile aufgrund von Denunziation gegen fünf (!) Bundesminister in Sachen
Sex mit Minderjährigen Ermittlungen anhängig sind (FAZ, 20.1.97) - ein
Ende des Volkszorns ist also nicht in Sicht. Im Gegenteil: Eine von Meinungsforschern
im Auftrag der belgischen Zeitung "Dimanche Matin" frei erfundene Partei
"Die Weißen" würde laut Umfragen bei Parlamentswahlen in Wallonien
56%, in Gesamtbelgien ueber 60% der Stimmen erhalten (Berliner Zeitung, 8.1.97).
Deutsche Genugtuung
Mit äußerstem Wohlwollen und einer großen Portion Häme blicken
in vorderster Linie diejenigcn bürgerlichen Blätter Deutschlands, die
sich einer moralischen Erneuerung Wickertscher Prägung - Gemeinwohl geht vor
Eigennutz, Bürgersinn vor Anspruchshaltung - am meisten verschreiben, wie eben
der "Spiegel" oder die "Zeit", auf die "Moralischen Helden"
(Spiegel 37/96) jenseits der Grenze. Tief sitzt der Ärger ueber den Spott,
den das westliche Ausland in den 80er Jahren über die Mutter aller hysterischen
Basisbewegungen, Deutschland, goß, als Hunderttausende von Verantwortung Beseelte
gegen mindere oder völlig irreale Gefahren, wie den raketenbewehrten amerikanischen
Kulturimperialismus, das Ende des deutschen Waldes und radioaktive Molke zu Felde
zogen und allseits lautstark die gemeinwesenzersetzende Flickaffäre und Lafontaines
Puffbesuche beklagt wurden. Zu tief, als daß man nicht mit Genugtuung die
eigenen Ressentiments aus dem Munde der Spötter von gestern vernähme,
wie aus der "laisser-faire- Republik" Belgien, dem "Steuerhinterziehungsparadies,
das sein Gemeinwesen verrotten ließ" (Zeit, 49/96). Noch deutlicher wird
der "Spiegel": "Belgien ... im eigenen Selbstverständnis eine
ordentliche, gereifte (!) Demokratie ... kam sich plötzlich wie eine Bananenrepublik
vor" (39/96), "ein einzigartiges Biotop aus Korruption, Fahrlässigkeit
und surrealistischem Föderalismus", in dem "balkanische Zerrissenheit"
und "kongolesische Zeiten" herrschten (39/96). Aber nicht nur, dass die
gereiften Demokratien" demselben Taumel unterlägen, wie die "XY-ungelöst"
Nation; mehr noch, kann man sich selber zum Bollwerk der wahren, sprich gefestigten
Demokratie gleich in zweierlei Hinsicht stilisieren: Einerseits vermag man von der
hohen Warte vor Hysterie (und Rechtsradikalismus, wie in der Berichterstattung über
Frankreich und Le Pen), "dem Gift der Gerüchte" und dem "kompletten
Umsturz" (FAZ,20.1.97) zu warnen, andererseits sich die eigene Raserei nachträglich
als gar vorbildlich bestätigen lassen, wie beispielsweise durch eine Intima
des belgischen Königshauses, deren Äusserungen "Die Zeit" am
29.11.96 gebauchpinselt kolportiert: "Die Wende", hofft sie, hat in Brüssel
begonnen: "Wie damals bei euch in Leipzig. Die Belgier, Flamen, Wallonen und
Deutschsprachigen standen zusammen als ein Volk!" So recht nach Art des Hauses,
fährt sie fort: "Der König hat begriffen, daß es um eine Sinnkrise
geht, während der erste Minister ... nichts als Materialismus im Kopf hat."
Verkehrte Welt also? Tanzen jetzt die anderen den Carl Schmitt und Möller van
den Bruck, den Hass auf die unechte, dem Volksorganismus entfremdete Demokratie,
auf das zerstrittene, führungsschwache Parteienwesen, während Deutschland
weise den Kopf schüttelt ob soviel Ungestüms? Dieser Eindruck kann durchaus
entstehen angesichts Hunderttausender (von der "schweigenden" Mehrheit
potentieller Wähler der "Weißen" nicht zu reden), die die überkommene
Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer liberalen Phase verteufeln und
skandalisieren: Hunderttausende, die ihrer Sehnsucht nach dem autoritären Staat
freien Lauf lassen, die den Schutz der Privatsphäre vor der Justiz als Verbrechen
empfinden (5), die die Gewaltenteilung als Beihilfe
zur Verschwörung werten, die die Exekutive nicht mehr dem auszuhandelnden Kompromiß
gesellschaftlicher Interessengruppen der Legislative unterstellen wollen (6), sondern einem einheitlichen Volkswillen, verkörpert in
den Helden-Staatsanwaelten und - Richtern (7). Nur neigt
der berechtigte Ekel vor dem Volkszorn dazu zu uebersehen, daß dieser Zorn
in Belgien immerhin noch einer - zumindest formal - bestehenden Distanz zwischen
Staat und Gesellschaft, zwischen Bürger und Staatsbürger (8), gilt; in den Worten der "Zeit" vom 13.9.96: "Die
Emotionen des Volkes, die Nüchternheit der Intellektuellen drücken die
gleiche Distanz aus, den großen Anstand der Belgier zum politischen System,
ihre tiefe Fremdheit gegenüber dem Staat, die objektive Gründe hat - historische
und aktuelle."
Keineswegs ist es so, daß die Massenprojektion in Deutschland etwa schwächer
wäre; Russenmafia und Sexmonster hinter jeder Ecke sind fester Nachrichtenbestandteil.
Doch das jeweilige Eigenleben der gesellschaftlichen und politischen Sphäre,
ihre Distanz und ihre stetige Vermittlung, sind in Deutschland seit langem bereits
in die Dialektik von Volksstaat und Staatsvolk, der "Wertegemeinschaft"
und dem "Gemeinwohl", aufgehoben, wobei die Ressentiments des Volkes sich
in der Staatsraison ausdrücken, die Staatsraison aber die Basis der Ressentiments
abgibt. Belgische Zustände seien hierzulande schwerlich möglich, tönt
man; wie wahr, wo doch der von den "weißen Belgiern" erstrebte Zustand
lange bereits sowohl im deutschen Staatsrecht kodifiziert (9),
als auch in Form der öffentlichen Meinung habitualisiert ist: Keiner Volksbewegung
bedurfte die Strafrechtsverschärfung, deren meistbeachteter Teil natürlich
die Erhöhung des Höchststrafmaßes für Kindesmißbrauch
von 10 auf 15 Jahre war. Mit ihr beeilte sich der Staat, dem Rachebedürfnis
seines Volkes zuvorzukommen (das jedem rationalen Argument Hohn spricht) (10). Auch den neuen Gesetzen zur Bekämpfung der "organisierten
Kriminalität" werden sicherlich keine ernsthaften Hindernisse bürgerlich-liberaler
Art - wie im Vor-Dutroux-Belgien - im Wege stehen.
II. Krise des intervenierenden Staates und des wahrnehmenden Subjektes.
In der berüchtigten "Kriegszielrede" vom 5.4.1916 erkor Reichskanzler
Bethmann-Hollweg das wallonische Kohle- und Stahlrevier um Lüttich zum Hauptobjekt
deutscher Begierde. 1996 hingegen erfüllt Wallonien, der frankophone Teil Belgiens
und die Heimat Marc Dutroux', die deutschen (und flämischen) Betrachter mit
Gruseln: "Dem maroden Wallonien - einst eine wichtige Industrieregion - könnten
die Todesfälle den Todesstoß versetzen. Denn die Sozialisten, die traditionell
diesen Teil Belgiens regieren, sind jetzt heillos diskreditiert. Dabei waren sie
bisher das verläßliche Bollwerk gegen alle Bestrebungen des wohlhabenderen
Flandern, den Finanzausgleich unter den belgischen Regionen zu verändern. Nun
da Filz, Korruption und Mißwirtschaft weltweit publik wurden, scheint die
Entsolidarisierung der zwei Landesteile kaum noch aufzuhalten. Angewidert wenden
sich viele Flamen von den Schmuddelgeschichten ihrer frankophonen Landsleute ab.
"Einer wie Dutroux und seine Frau", empört sich der Vorsitzende der
flämischen Christdemokraten, Marc van Peel, "habe monatlich 4000 DM Sozialhilfe
kassiert - aus Steuergeldern, die vor allem in Flandern aufgebracht wuerden. Das
müsse ein Ende haben. 'Dem wirtschaftlichen Tod', prophezeite die flaemische
Zeitung De Standaard, 'folgt jetzt der soziale Tod.'" (Spiegel, 3 8/96)
Nicht erst 1996 wurde die Wahlverwandschaft zwischen diesen Tönen und dem padanisch-sezesionistischen
Donnergrollen vom 14.09.96 in Italien augenfällig. Bereits am 20.09.95 hatte
Theo Waigel mit der Äußerung Aufsehen erregt, daß weder Italien
noch Belgien Gründungsmitglieder der 1999 zu bildenden Währungsunion sein
würden, da Belgiens Staatsschuld 134% des Bruttoinlandsproduktes betrage (11) (60% ist die Maastricht-Marke) und damit noch die
italienische Rate von 120% übertreffe. Wie in Italien ist eine der Hauptursachen
dieser Staatsschuld das starke staatliche Subventionsengagement in den krisengebeutelten
Zweigen der Schwerindustrie. Sind in Italien Subventionen und Transferleistungen
in den agratischen Süden zwei getrennte Komplexe der Staatsschuld, so fallen
diese im Fall Walloniens in eins und machen es zu einem postindustriellen Mezzogiorno,
dessen Produkte, v.a. Stahl, dennoch nach wie vor - trotz stetig fallender Weltmarktpreise
- das Hauptexportgut Belgiens darstellen. Und wiederum Italien nicht unähnlich,
ist durch den hohen Verflechtungsgrad mit Wohl und hauptsächlich Wehe der Schlüsselindustrien
(bereits 1970 wurde die Kohlenförderung in Wallonien eingestellt) die politische
Legitimationsbasis des intervenierenden Staates äußerst fragil.
Da im lnterventionsstaat "keynesianischer" Prägung die organisierten
gesellschaftlichen Interessengruppen im öffentlichen Sektor, bei den Staatsbanken,
den öffentlichen Unternehmen und den sozialen Sicherungssystemen direkt nach
politischem Proporz das Personal stellen (12), bekommt
die enttäuschte staatsbürgerliche Erwartung, daß der Staat die allgemeine
Zweckmäßigkeit der konkreten Arbeit gegenüber der als äußerlich-partikular
empfundenen Tauschabstraktion und ihrem unverstandenen krisenhaften Resultaten verkörpere,
das Feindbild frei Haus geliefert. Der Doppelcharakter eines jeden Staates, der
auf der entfalteten Wertform, der Schrankenlosigkeit der allgemeinen Ware beruht,
einerseits die "Klammer des abstrakten Reichtums" (R. Kurz) zu sein, und
dessen Zwangsläufigkeit zugleich in konkret-persönlicher Herrschaft zu
exekutieren, bedient von Beginn an ein bestimmtes Wahrnehmungsstereotyp. Dieses
löst das Problem, einerseits handgreiflicher konkreter Herrschaft zu unterliegen,
andererseits eine mysteriös abstrakte Geschehenslogik am Werke zu ahnen, auf
seine Weise: Es erhält sich das Trugbild eines über dem Marktgeschehen
thronenden Souveräns, indem es die herrschaftsförmigen Konsequenzen der
dort wartenden Abstraktion (z.B. Arbeitslosigkeit) bestimmten intermittierenden
Instanzen im politischen Apparat, die eine an sich gerechte Herrschaft verzerrten,
zuschreibt.
Der "Usurpator Komplex"
Anders als in Deutschland, wo ein per definitionem über den gesellschaftlichen
Fraktionen stehender Volksstaat auch propagandistisch beansprucht, diese Fraktionen
an die Kandare zu nehmen und so nur einem dumpf-grollenden Ressentiment gegen die
ominösen "Politiker" Raum gibt, ermöglicht der einen organisatorischen
Kompromiss gesellschaftlicher Fraktionen verkörpernde Staat, wie in Belgien,
leicht zu personalisierende Schuldzuweisungen. Diese skizzierte, klassisch-interventionistisehe
Gestalt des Staates stellt die ideale Projektionsfläche fuer den von Adorno
so genannten "Usurpator-Komplex" (Adorno 1980, 219ff.) (13) bereit. Dieser Komplex malt sich das bestehende politische System
als Verrat an der, wenn man so will, Idee des Staates aus; dieser scheint von selbstsüchtigen
Interessen "usurpiert" zu sein, gefangen von Verschwörungen, die
sich an der ehrlichen Arbeit der Steuerzahler bereichern, und das sauer erbrachte
Steueraufkommen zum Frommen nichtsnütziger Klientelen durchbringen. Der Nimbus
des Staates als Garant des Allgemeinwohls, sprich der Existenzsicherung, die sich
das Marktsubjekt von ihm zu versprechen gezwungen ist, bleibt dabei unangetastet,
wird sogar idealisiert im Wunsch, der Staat möge ja autoritärer werden.
So ähneln sich in einem gewissen Maße auch die italienischen und die
belgischen Krisenverläufe bis zu diesem Sommer. Zielstrebig wurde in beiden
Fällen das Schlangennest, aus dem das Verderben kriecht, seit Jahr und Tag
lokalisiert. Wie den "arbeitssamen" Padaniern klar vor Augen zu stehen
schien, daß sie durch die "afrikanischen Zustände" in Süditalien
ruiniert werden, wo das Geld in dunklen, kriminellen Kanälen verschwindet und
sich eine faule, inkompetente Bürokratie und Klüngelwirtschaft mästet,
stimmt seit Jahren ein großer Teil der Flamen in den Chor, daß Wallonien
ihr Verderben sei, mit ein. Landesweit konnten die radikalen und "gemäßigten"
Separatisten, "Vlaams Block" und "Volksunie", zusammen 12% der
Stimmen bei den 95er Wahlen auf sich vereinigen (14).
Und nicht nur sie, sondern auch starke Fraktionen der flämischen Liberalen
und Christdemokraten fordern eine Veränderung des geltenden Finanzausgleichs
zwischen den Regionen, in dem das belgische. Gesamtsteueraufkommen nicht proportional
den erbringenden Regionen zukommt (wie es sich die Flamen wünschen), sondern
zu nicht unerheblichen Teilen ins "strukturschwache" Wallonien geleitet
wird. Die Parti socialiste, im wallonischen Industrierevier traditionell stärkste
Partei, wovon ihr flämisches Pendant (15) nur
träumen kann, steht auf Gedeih und Verderb hinter der Beibehaltung dieses Ausgleichssystems,
und damit auch hinter der Beibehaltung des letzten verbliebenen Restes der politischen
Einheit Belgiens. (16) Denn dem wirtschaftlichen Niedergang
Walloniens seit den späten 60ern folgte nicht zufällig bis heute eine
regionalistische Reform nach der anderen - begleitet vom kontinuierlichen Aufschwung
des Separatismus.(17)
Verkehrte Welt. Oder: Wie deutsch wird Belgien?
Nach flämischer Diktion, die der "Spiegel" getreulich wiedergibt,
ist Lüttich (Liege), die Metropole Walloniens, das "Palermo des Nordens":
"Trotz der Milliardensubventionen aus dem reichen Norden fuer den armen Sueden
wird das Wohlstandsgefaelle immer steiler: Flandern, ein moderner High-Tech- und
Dienstleistungsstaat, Wallonien ein tristes graues Land, eine rückwaertsgewandte
sklerotische Agglomeration in den Fängen des sozialistischen Klüngels
und der sizilianischen Mafia, die hier wegen der vielen italienischstämmigen
Einwanderer ihre stärkste Bastion ausserhalb Italiens hat." (38/96). Alle
Ingredienzen, die der staatsbürgerliche Menschenverstand benötigt für
eine umfassende sezessionistische Bewegung der Flamen und entsprechende Reaktionen
der Wallonen (18) wären also gegeben. Selbst
die Ethnifizierung der Verursacher der "Schmuddelgeschichten", der das
Gemeinwesen unterhöhlenden und die Währungsunion versauenden Schmarotzer
und Sozialhilfeempfänger ist gegenüber den irankophonen Wallonen seitens
der niederländisch sprechenden Flamen ein leichtes (im Gegensatz zum italienischen
Sezessionismus); eine traditionelle Animosität zwischen den Regionen, überaus
erfolgreiche Separatistenparteien und der undurchsichtige Skandal von der Machart
des "Paten" um die Ermordung des ehemaligen Vorsitzenden der wallonischen
Sozialisten, Cools, sollten ein übriges tun. (19)
Obwohl das belgische Szenario im Übermass alle Züege trägt, die an
die hoffnungslosen Retribalisierungsschübe im Bereich des ehemaligen Comecon,
und mehr noch an die Selbstinszenierungen von sogenannten Padaniern, Katalanen und
Frankokanadiern erinnern, tritt im Spätsommer 1996 gerade nicht das zu Erwartende
ein. Eben weil die "weiße Bewegung" Belgiens nicht die - horribile
dictu - vertrauten Züge klassischer sezessionistischer Bewegungen trägt,
sondern weil Flamen und Wallonen im am singulären Ereignis sich entzündenden
Volkszorn noch einmal einig wurden, zwingen "Die Weißen" der linken,
politischen Beobachtung einen anderen als den gewohnten Maßstab auf.
An jenen nämlich - noch offensichtlicher als am "Padanismus" - geht
die liebgewordene Ideologienlehre zuschanden; eine Lehre, die besagt, daß
die in einer sozialen Bewegung sich artikulierenden Bedürfnisse einen durch
ideologische Intervention - fortschrittlich zu wendenden Hintergrund hätten,
Verzerrungen eines klassenkämpferisch zu deutenden Anliegens seien. So scheint
gerade noch denkbar, bei entsprechender Verbohrtheit, dass, einige der Aktivisten
der Lega Nord vielleicht einer vulgären Kapitalismus- und Staatsfeindlichkeit
frönen, die erst durch Propaganda und charismatische Führer ihre irrwitzige
Ausdrucksform erhaelt. Nimmt der padanische Separatist an, daß mysteriöse
Banden den Staat usurpierten, und daß deswegen ein neuer, eigener Staat hermüsse,
so kommt dem Usurpatorkomplex immerhin zugute, daß der schrumpfende staatlich
verwaltete Verteilungsspielraum aus Lobbies tatsächlich Banden macht. Aber:
Dieser Prozess tatsächlicher politischer Regression steht zur Projektion nicht
wie Ursache zu Wirkung, sondern ist der Projektion höchstens Geschmacksverstärker,
da das ihr zugrundeliegende Wahrnehmungsstereotyp viel konstitutiver zum Subjekt
(als Funktion des generalisierten Tauschs) gehört, als ihr vordergründiger,
aktueller Anlass.
Die Scheinplausibilität der Ideologienlehre zehrt von einem Phaenomen das Adorno
so beschrieb: "Noch die schlimmste und unsinnigste Vorstellung von Ereignissen,
die wildeste Projektion enthält die bewußtlose Anstrengung des Bewußtseins,
das tödliche Gesetz zu erkennen, kraft dessen die Gesellschaft ihr Leben perpetuiert
... Die offene Narretei des einen ruft irrtümlich im anderen die Narretei des
Ganzen beim richtigen Namen." (Adorno 1978, 215) Diese "lrrtümlichkeit"
sorgt häufig dafür, daß manchen Sophisten noch eine, wenn auch haarige
Konstruktion - wie die im vorhergehenden Abschnitt angedeutete gelingt, in der für
eine Widerspiegelung, sei es der Leninschen Materie, sei es des Althusserschen Erkenntnisobjekts,
ausgegeben wird, was das Subjekt in Wahrheit aus sich selbst heraus als Wahrnehmung
(Vgl. Anm. 2) produziert.
Eine solche Konstruktion von sozialer Bewegung stellen die Geschehnisse des "weißen
Herbstes" allerdings vor schier unüberwindliche Aufgaben. Das offenkundige
Auseinanderklaffen des Anlaßes der belgischen Volksbewegung, Dutroux' Sexualdelikt,
und der Wirkungsmacht, mit der er alle vorgängigen "politischen"
Stereotypen synthetisierte ("Der Horror von Charleroi hat das Sezessionsgespenst
wiederbelebt", Spiegel 38/96), erzwingt definitiv, die jeglicher Scheinplausibilität
von Widerspiegelung zugrundeliegende Ursache bloßzulegen: Den Zusammenhang
von Projektivität und Subjektivität unterm Warenfetisch. Einen Zusammenhang,
dessen Wirkung Wolfgang Pohrt prägnant beschreibt: "Weltweit, wäre
die Schlußfolgerung daraus, reagieren die Menschen auf die weltweite Krise
offenbar mit schweren Störungen ihrer Wahrnehmungsfähigkeit, noch schneller
als die Organisation der Ökonomie bricht die Organisation des Subjektes zusammen."
(Pohrt 1990, 278)
III. Autoritäres Syndrom: Projektion und Entdifferenzierung
Fatalerweise läßt sich nicht vom Standpunkt des konventionellen "gesunden
Menschenverstandes" gegen die "pathogene Meinung" (Adorno) weder
des vom Usurpatorkomplex besessenen Staatsbürgers, noch gegen jene des mysteriöse
Kräfte fürchtenden Esoterik- und Ökopsychotikers opponieren. Weil
zwischen dieser Meinung "und der Realität eine fatale Wahlverwandtschaft
sich herstellt, die dann der Verstocktheit der Meinung zugute kommt", weil
deren Projektion "nachträglich von derselben Vernunft honoriert wird,
der ihr psychotischer Charakter sich entzieht (und) die objektive Welt sich dem
Bild (nähert), das der Verfolgungswahn von ihr entwirft" (Adorno 1963,
168), scheint jeder Öko- und Korruptionsskandal die Meinung nachträglich
mit dem Prädikat sensibel zu adeln. Obwohl die Psychose (nach der klassischen
Definition endogen bedingte Wahrnehmungsstörung) alle politischen und ökonomischen
Krisentendenzen nur in dem Sinne "wahrnimmt", wie eine stehengebliebene
Uhr zweimal am Tag eine richtige Zeit zeigt, fühlt sich der gesunde Menschenverstand
- nicht fähig, die unverstandene Irrationalität des Ganzen mit der zunächst
offensichtlichen Irrationalität der Einzelnen zu verknüpfen genötigt
zu glauben, daß "doch etwas daran sei". Getreu folgt dieser Verstand
dem bekannten Vorbild Max Webers, der aufgrund des empirischen Belegs, daß
die Vermögensgröße der Bürger jüdischen Glaubens über
der des Bevölkerungsdurchschnitts lag, meinte, dem Antisemitismus Rationalität
zubilligen zu können. Solch monströse Mißverhältnisse, die
wie gesehen in keinerlei strukturellem Gegensatz zur positivistischen Erkenntnistheorie
stehen, gehören ursächlich zu dem von Pohrt festgestellten Vorsprung des
Subjekts in der Logik des Zerfalls.
Ein solches "Mißverhaeltnis", das sich in der größten
zur (Vernichtungs)Politik gewordenen Massenprojektion der Geschichte niederschlug,
bewog in den 40er Jahren den "American Jewish Congress" dazu, die Forschungsarbeit
des emigrierten Sozialwissenschaftlers Adorno und seines Teams finanziell zu unterstützen.
Es sollte die Frage untersucht werden, woher die Triebkräfte eines solchen
Exzesses in einer aufgeklärten Gesellschaft stammen. Zu diesem Zweck wurden
einer grossen Anzahl von Versuchspersonen Fragebögen vorgelegt, die zu bejahende
oder zu verneinende Aussagen über oberflächlich völlig unzusammenhängende
Themenkompiexe, wie allerlei privat scheinende Moralprinzipien und Grundsatzurteile,
aber auch geschickt durch einschränkende Rationalisierungen akzeptabel gemachte
soziale Vorurteile gegen sogenannte Randgruppen, beinhalteten. Es zeigte sich, daß
mit dem sozialen und politischen Vorurteil systematisch andere Reaktionsmuster korrelierten,
die mit dem Vorurteil weder in der Sache, noch durch möglicherweise generalisierte
persönliche Erfahrungen zusammenhingen - an denen also "nichts daran war".
Diese sich stets wiederholenden "stereotypen" Muster waren nicht durch
formale Logik mit dem Konzept von Ideologien, die nur die Oberfläche des Individuums
berühren, verknüpfbar, und mußten deshalb zwangsläufig mit
"psychischen Dispositionen im Individuum" (Adorno 1980, 38) zusammenhängen.
Adorno ordnete diese "vorpolitischen" Ansichten des "Vorurteilsvollen"
in verschiedenen Gruppen von Behauptungen, aus denen er die berühmte F(aschismus)
- Skala entwickelte, eine Liste von Urteilen, in denen nicht ein einziges Mal expressis
verbis Bezug genommen werden mußte auf die eigentlichen Ideologien, wie beispielsweise
den Ethnozentrismus.
Typologien des autoritären Charakters
Mit Hilfe dieser F-Skala gelang es, Rückschlüße zu erlangen darüber,
wie tief das Vorurteil im Individuum verankert war, d.h. wie stark es mit der Charakterstruktur
korrelierte, wie sehr es Bedürfnisse, die aus der psychischen Organisation
des Subjekts stammen, befriedigte, sprich durch Projektion kanalisierte. Es konnte
anhand der jeweiligen "Stärke" der Projektivität, d.h. in welchem
Masse der Stereotyp sich von der Reflexion, dem gedanklichen Rückbezug auf
den zur Debatte stehenden Tatbestand, gelöst hat und offene Wahrnehmung durch
verfestigte Meinung ersetzt (20), eine Bandbreite
von Typologien des autoritären Charakters entwickelt werden. Stark vereinfacht
lassen sich ein "konventionelles" und ein "autoritäres"
Syndrom unterscheiden (Adorno 1980, 319ff.): Ersteres entspricht dem Typus des einigermassen
harmlosen, nicht von aggressiven Wünschen gebeutelten Konformisten. Sein stetes
Lob autoritärer Erziehung beispielsweise geht nicht auf Sadismus zurück,
sondern auf den Wunsch, sich möglichst nicht von der "normalen" Eigengruppe
zu unterscheiden; das Ich ist zwar geschwächt, aber das Über-Ich bleibt
dem Ich als individuell gesetztes Ich-Ideal noch so weit verhaftet, daß das
Es, das kindliche Reich der Omnipotenz, der Unmöglichkeit von Empathie und
Triebaufschub, zumindest eingezäunt bleibt.
Ganz anders dagegen das "autoritäre Syndrom": Im Gegensatz zum "Konventionellen"
hat Stereotypie hier "eine echte, ökonomische" Funktion in der eigenen
Psyche des Individuums: sie hilft seine libidinöse Energie den Forderungen
des gestrengen Über-Ichs entsprechend zu kanalisieren. Als "Pseudokonservativismus"
bezeichnet Adorno die politisch-normative Stereotypie des sozusagen modernen Autoritären.
Dessen Art von Oberflächenkonformismus ist widersprüchlich, "die
autoritäre Unterwürfigkeit in der bewußten Sphäre (wird) begleitet
von Gewalttätigkeit und chaotischer Destruktivität in der unbewußten."
(Adorno 1980, 205) Das Über-Ich, psychische Instanz gesellschaftlicher Autorität,
entzieht sich dem Horizont des Ichs, verfestigt und veräußerlicht sich
zugleich. Das Ich, zum Erfüllungsgehilfen des veräeußerlichten,
nach dem Spiegelbild der Gesellschaft anonym-repressiven Über-Ichs regrediert,
kann das Es nur noch ungenügend rationalisieren, geschweige denn zivilisieren.
Die nur "unterdrückten Triebe" brechen an den Ventilen, die das veräußerlichte
Über-Ich, die gesellschaftliche Autorität, zuläßt, mit gestauter
Energie durch. Der Widerspruch des Pseudokonservativismus zwischen unterwürfiger
Oberfläche und dem aufbegehrenden - im wahrsten Sinne des Wortes asozialen
Es "ist keine bloße Reaktionsbildung gegen verdeckte Rebellionsgelüste;
sie läßt vielmehr indirekt gerade diejenigen destruktiven Tendenzen zu,
die das Individuum durch starre Identifizierung mit einem veräußerlichten
Über-Ich in Schach hält." (Adorno 1980, 206) Ein ausgeprägter
Sadomasochismus (21) ist die Folge: Verlangt die dem
Es fremde Zurückhaltung, die das starre Über-Ich erzwingt, danach, diese
Unterdrückung libidinös - masochistisch - zu besetzen (Ursache des übermäßigen
Scheinkonformismus), so entladen sich die "verbotenen" Wünsche umso
heftiger in einer überbordenden Projektivität, auf der zwanghaften Suche
danach, das Verbotene an anderen zu bestrafen.
Psychoanalyse und Wertkritik
Diese Entdifferenzierung in der Organisation des Subjektes wirft dieses aufs Infantile
zurück. Die Reinfantilisierung forciert "das zwanghafte Wiederaufleben
irrationaler Mechanismen, die das heranwachsende Individuum niemals überwunden
hatte." (Adorno 1980, 189) Die beiden typischen Mechanismen infantiler Umweltsystematisierung
aber sind auch der Wertkritik wohlbekannt : Stereotypie und Personalisierung. An
diesem Punkt greifen die sich zur gesellschaftlichen Totalität materialisierende
Wertform und die Entdifferenzierung des Subjekts wie Zahnräder ineinander.
Die aus dem Fetischcharakter der Ware entspringende "verzauberte, verkehrte
und auf den Kopf gestellte Welt" produziert eine subjektive Konstellation,
deren Projektivität ins Übermass schießt. Die letzterer zugrundeliegende
Wahrnehmungsunfähigkeit, wächst in derselben Geschwindigkeit an, in der
"die Versachlichung der Produktionsverhältnisse und ihre Verselbständigung
gegenüber den Produktionsagenten" (MEW 25, 838f.) die "Ich-Stärke"
des einstmals als Herr seines Geschickes und Eigentumes sich wähnenden Bürgers
kassiert. Schlagend bestätigt denn auch der Warenfetischismus die irreversiblen
Stereotypen, die zur Personalisierung (22) drängen:
"Es ist ferner schon in der Ware eingeschlossen, und noch mehr in der Ware
als Produkt des Kapitals, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Produktionsbestimmungen
und die Versubjektivierung der materiellen Grundlagen der Produktion, welche die
ganze kapitalistische Produktionsweise charakterisiert." (MEW 25, 887)
Die Eigenbewegung und Selbstläufigkeit ("Versubjektivierung"), die
die Dinge als Waren gegenüber ihren Besitzern annehmen, läßt die
Bedingungen der eigenen Reproduktion, die dem Subjekt den Imperativ des "Verwerte
Dich selbst" aufherrscnen, zum unheilvollen Hexensabbat werden. Die zunehmend
undurchdringlichere Herrschaft des Warenfetisch über das gesellschaftliche
Dasein, die der Unberechenbarkeit der gesellschaftlichen Anforderungen zugrundeliegt,
erzwingt deren Personalisierung. Das Mass dieser "Unberechenbarkeit" bestimmt
den Übergang vom konventionellen zum autoritären Syndrom, weil dem Über-Ich
als psychischer Inkorporation der Gesellschaft mit einem in sich schlüssigen,
aufs Private ungebrochen zu übertragenden Normenkatalog nicht mehr genügt
wird, sondern das Über-Ich undurchsichtig, uneingrenzbar und widersprüchlich
ist. In der Zwiespältigkeit des 'Pseudokonservativismus' drückt sich der
Verlust auch des letzten Scheins von Marktautaunomie des Subjektes bei gleichzeitiger
komplettierter Abhängigkeit vom Marktgeschehen aus. Daß diese aber nur
durch "bestimmte gesellschaftliche Charaktere, die der gesellschaftliche Produktionsprozess
den Individuen aufprägt" (MEW 25, 887) zur Geltung gelangt, entspricht
der Ersetzung der Wahrnehmungsfähigkeit durch projektierte Stereotypie aufs
Haar. Die notwendigerweise in Menschengestalt verhüllten "versubjektivierten"
(personalisierten) Produktionsbedingungen zwingen auch der potentiellen Arbeitskraft
die Linearität und Norm des Prozesses auf. Die Stanzung der Individuen auf
die "sozialen Eigenschaften dieser Dinge" (MEW 26.3, 498) prägt ihnen
deren Stereotypie ein, die den Individuen obendrein von ihrer realen Ohnmacht (23) gegenüber diesen "sachlichen Mächten"
höhnisch bestätigt wird. So ist die paradox erscheinende Tatsache, daß
der Verfolgungswahn nur allzu oft a posteriori seine Bestätigung erfährt,
die Welt dem Wahn ähnlich zu werden droht, nicht einem Rest unverstellter Wahrnehmung,
sondern gerade der nicht vorhandenen Wahrnehmungsfähigkeit geschuldet, die
Erfahrung verhindert. Der Projizierende deliriert im Einklang mit der vom Tausch
verhexten Welt.
In der Rearchaisierung der Gesellschaft zu einer "zweiten Natur", rearchaisiert
sich auch das Subjekt. So wie seine Handlungen vom "automatischen Subjekt"
der Gesellschaft, dem Kapital, diktiert sind, büßt es auch seine Ich-bestimmte
Steuerungsfähigkeit ein. Das emporsteigende selbstreferentielle und selbstläufige
Es wirft die Triebsteuerung so ab, wie "die Liebe im Leibe" des wirklichen
Subjekts Kapital im Begriff ist, die Intentionen des empirischen Subjektes auf bloße
Makulatur zu reduzieren. Adornos F-Skala, die Anhaltspunkte für das Maß
der Zwanghaftigkeit der Projektion gab, wurde selbst im Falle des Pseudokonservativismus
noch deshalb gebraucht, weil eine Ich-Filterung Charakterstrukturen, die sich im
vorideologischen, vorpolitischen Bereich offenbarten, von ihren "stereopathischen"
Ausformungen im ideologisch-politischen Bereich trennte.
Noch die beiden Gruppen von Aussagen auf der F- Skala, die am stärksten dem
"autoritären Syndrom" entgegenkommen, diejenigen, welche Projektivität
sans phrase und Sexualität (24) behandeln, gehorchen
der zugrundeliegenden Annahme, daß das politische Vorurteil sich nur Ich-vermittelt
aus diesen Quellen speiste. Bei den im folgenden vorgestellten Skalensätzen
schränken zwar keine vordergründigen Rationalisierungen, wie bei anderen
Variablen, die Projektion mehr ein; aber selbst die ausgeprägte Ich-Schwäche,
die sie illustrieren helfen sollen, indem sie auf Pseudoeinschränkungen im
Sinne wenigstens instrumenteller Vernunft (Rationalisierungen) der vorgestellten
Urteile im Gegensatz zu anderen Variablen verzichten, schien noch nicht bis zum
Punkt des völligen Wegfalls des Ich-Filters gediehen zu sein.
"25. Sittlichkeitsverbrechen, wie Vergewaltigung und Notzucht an Kindern, verdienen
mehr als bloße Gefängnisstrafe: solche Verbrecher sollten öffentlich
ausgepeitscht oder noch härter bestraft werden.
35. Die sexuellen Ausschweifungen der alten Griechen und Römer waren ein Kinderspiel
im Vergleich zu gewissen Vorgängen bei uns, sogar in Kreisen, von denen es
man am wenigsten erwarten würde.
38. Die meisten Menschen erkennen nicht, in welchem Ausmaß unser Leben durch
Verschwörungen bestimmt wird, die im Geheimen ausgeheckt werden." (Adorno
1980, 84)
Ein Blick auf diese drei Variablen genügte um zu sehen, daß sie vollständig
Motivation, Stoßrichtung und Programmatik der belgischen Volksbewegung beschreiben.
Wie der Massenkurzschluss vom Sexualdelikt zur Verschwörungsjagd abläuft,
läßt sich auch an dieser Stelle nochmals in verdichteter Form, anhand
der Person des Privatdetektivs André Rogge, illustrieren. Rogge forscht seit
Jahren im Auftrag der Elterninitiative "Marc et Corinne" (Vgl. Anm. 3)
nach Verflechtungen zwischen mutmaßlichen Sexualdelikten an ca. einem halben
Dutzend längerfristig verschwundener Kinder, internationalen Banden und dem
hochrangigen Staats- und Parteienpersonal. Trotz der Vergeblichkeit, die den Ermittlungen
des Poirot-Nachfahren beschieden war und ist, stieg er in Belgien zum Volksheld,
Leitartikler und Fernsehstar auf.
Von Sexmonstern umstellt
Auf Rogges Angaben basierend erklärte "Der Spiegel" (43/96) die belgische
Volksbewegung wie folgt: "Eine Bürgerbewegung ist entstanden, die rücksichtslose
Aufklärung fordert - nicht nur über das Monster Marc Dutroux und seine
Komplizen, sondern auch über Hintermänner und zahlungskräftige Kunden
... Das Volk weiß, daß auch die Justiz längst zur Beute der Parteien
geworden ist. ... Mehr als ein halbes Dutzend Häuser nennt der Sozialhilfeempfänger
(Dutroux, U.K.) sein eigen ... Im Gefängnis von Arlon hat er die Börsenzeitung
abonniert. Und wahrscheinlich (!) bot er mit Drogen vollgepumpte Kinder auf sogenannten
Partouzes an, privaten Sexpartys, die in Belgien eine gewisse Tradition haben ...
Ins Blickfeld der Ermittler von Neufchateau (warum'? U.K.) geraten jetzt auch wieder
die 'rosa Ballette' Sexfeste der gehobenen Staende, auf denen sich Aerzte, Advokaten,
Politiker, Staatsschuetzer und hohe Justizbeamte vergnügten. Die Orgien waren
Anfang der achtziger Jahre gerichtskundig geworden, nachdem eine Frau auf mysteriöse
Weise umgekommen war - sie hatte auf einer der Partouzes damit gedroht, über
die Teilnahme Minderjähriger (keine Kinder? U.K.) auszupacken ... Nihoul, der
Mann mit den weitreichenden Beziehungen, hatte auch an diesen Festen teilgenommen
... Die Sexpartys, die er in der Bruesseler Rue des Atrébates 124 veranstaltete,
waren so laut, dass sich Anwohner über den nächtlichen Lärm beschwerten.
Die Polizei schritt niemals ein (!) ... Der prominente belgische Detektiv André
Rogge, der ... schon vor Jahren auf ein internationales pädophiles Netzwerk
(für das er - ausser mit im TV kurz gezeigten Pornokasseten - jeden Beweis
schuldig blieb, U.K.) stieß, glaubt nicht, daß der Fall Dutroux ganz
aufgeklärt wird, trotz aller Bemühungen der tapferen Richter von Neufchateau:
"Da stecken zu viele drin, das ist zu explosiv"'.
Verkehrte Welt. Oder: Wie deutsch wird Belgien?
Die sexuelle Projektion, als am unmittelbarsten dem Es verbundene, bündelt
die Projektivität. Die Grenze zwischen dem politischen Vorurteil und den Triebregungen,
die es rationalisiert, scheint im Gegensatz zu der autoritären Struktur, die
Adorno in den 40er Jahren noch vorfand, zu fallen. Gibt es durchaus Extrembeispiele
jener Zeit in der antisemitischen Propaganda (am stärksten im deutschen "Stürmer"),
die jene Grenze überschreiten, so blieben diese randständig, und mit Peinlichkeitsempfindungen
bei der Mehrzahl behaftet. Hier hingegen hat der Es-Impuls, die Projektivität,
die Vermittlung abgestreift, die zuvor der Filterung des wie auch immer geschwächten
Ichs unterlag. Diese Typologie, die noch in Adornos Augen, nur in Folterkellern
und Randbereichen der Gesellschaft auftritt, und ein völliges Scheitern der
Differenzierung dokumentiert (Adorno 1980, 328ff.), besitzt jetzt eine Massenbasis,
die sich sogar ohne nennnenswerte manipulative Beeinflussung (seitens geschickter
Agitatoren) im Selbst]auf mobilisiert. (25)
Daß es der reprimierten, d.h. von keinerlei Hinwendung zum Objekt geformten,
zugleich sadistischen und autistischen, Sexualität gelingt, sonst eher disparate
und von Rationalisierungen eingeschränkte Projektionen zu synthetisiercn, weist
darauf hin, daß die "Autoritäre Persönlickeit" keineswegs
- auch nicht "falsch" - "aufgehoben"
(26) wurde, sondern, daß das "autoritäre Syndrom", wie
es Adorno umriss, zwar den entscheidenden Umschlagspunkt, aber keineswegs einen
Endpunkt in der Entdifferenzierung des Subjekts darstellt. Beim pseudokonservativen
Autoritären wurde der "Angriff des Es" noch durch ein zwar bereits
veräußerlichtes Über-Ich, das aber einigermassen konsistent (und
grausam) war, in ein Überlaufbecken mit - wenn auch mehr schlecht als recht
definierbaren Notventilen umgeleitet. Diese Konsistenz "verdankt" sich
in erster Linie der gesellschaftlichen Struktur des allgegenwärtigen Interventionsstaates:
Massenarbeit, fordistische Disziplinierung, und die durch Familien- und Sozialpolitik
über ihre Verfallszeit hinaus verlängerte Trennung von Privatheit und
Öffentlichkeit, von Familie und Markterfordernissen ans Individuum; all das
diente dort als Zwangsklammer, wo die interne Organisation des Subjekts bereits
in heller Auflösung begriffen war. Die äußerst labile Balance, in
der auch das veräußerlichte Über-Ich die aufsteigende projektive
Destruktivität des Es noch halten kann, weil die Autorität als konkrete
im Leben des Individuums auftritt, gerät in dem Augenblick aus dem Gleichgewicht,
wo diese steuernde Autorität sich zurückzuziehen scheint. Die Abstraktion
des Über-Ichs in Kombination mit dem Wegfall des selektierenden Ichs öffnet
die Schleusen, die das lebens- wie gesellschaftsgeschichtliche Archaische zurückhielten.
Einstürzende Altbauten
Die Krise des Interventionsstaates geht also nicht zufällig mit der Krise der
Wahrnehmung einher. Der schleichende oder, wie im Comecon abrupte Zusammenbruch
der Spielräume, die der "selbstverwertende Wert" der politischen
Steuerung anfangs aufherrschte, gegen Ende aber nur noch zugestand, mündet
mit Konsequenz im hypertrophen Wuchern der Projektivität, das die Reste von
Wahrnehmungsfähigkeit in rasender Geschwindigkeit unter sich begräbt.
Das Wort von der "Deregulierung", Konsequenz der "maßlosen"
Beschleunigung, die "die Zirkulation des Geldes als Kapital (zum) Selbstzweck"
(MEW 23, 167) macht, erhält durch die gleichzeitige Deregulierung des Subjekts
eine unheilschwangere Bedeutung. Die postkeynesianische Dauerkrise zementiert -
sowohl durch die Vollendung der autoritären Persönlickeit, als auch durch
die Vollendung, der scheinbaren Naturgesetzlichkeit, in die die "Ware als Produkt
des Kapitals", die lebenden Produktionsfaktoren einsperrt den psychotischen
Charakter von Volksbewegungen.
Der den staatlichen Notstand einfordernde "lynch-mob" in Belgien stellt
dabei nur eine der Spitzen des Eisbergs dar. Der schlagartige Kollaps der "real-sozialistischen"
Staaten, die bis 1989 wie graue Riesen aus der Vorzeit des durch und durch konventionalisierten
Alltags in der politischen Landschaft standen, hinterläßt eine ebenso
durch und durch traumatisierte Subjektivität, deren zusammenbrechende Organisation
Schritt hält mit den zusammenschrumpfenden Weltmarktchancen. Die durch nichts
mehr rationalisierte Projektivität entschlägt sich eines festen Vorurteils
und wird genauso chaotisch wie das Es, dem sie Abfuhr gewährt. In einem stets
beschleunigten Karussel wechseln die Schuld- und Strafprojektionen - allzuhäufig
befeuert durch echtes Elend - von den "roten Verbrecherbanden" zu den
"historischen Feinden" und vice versa.
Das linke Bewußtsein aber, das jetzt, nach dem 89er Schock, selbstverständlich
so weitermachen möchte, wie bis dahin; die es Bewußtsein, das mit Hilfe
realitätsresistenter, inhaltsleerer Kategorien die immer offenkundigere Pathologie
der Subjektivität krampfhaft verdrängt, um zumindest am Rande auch der
nachkeynesianischen Volksbewegungen mitzuschwimmen, hat die ihm heute mehr denn
je gebührende Antwort bereits vor mehr als 20 Jahren erhalten: "Das Verlangen
nach positiven Vorschlägen wird immer wieder unerfüllbar, und darum Kritik
desto bequemer diffamiert. Genügen mag der Hinweis darauf, daß ... die
Versessenheit aufs Positive ein Deckbild des unter dünner Hülle wirksamen
Destruktionstriebs ist ... Der kollektive Zwang zu einer Positivität, welche
unmittelbare Umsetzung in Praxis erlaubt, hat mittlerweile gerade die erfasst, die
sich in schroffstem Gegensatz zur Gesellschaft meinen ... Dem entgegenzusetzen wäre
... daß das Falsche, einmal bestimmt erkannt und präzisiert, bereits
Index des Richtigen, Besseren ist." (Adorno 1971a, 19) Das "Falsche"
ohne Vorbehalt zu "präzisieren", ist das Maß, welches Kritik
von Affirmation trennt.
Uli Krug
Im Text in Kurzform angegeben:
- Adorno 1963: Meinung, Wahn, Gesellschaft, in: Ders.: Eingriffe, Frankfurt
- Adorno 1971: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda,
in: Ders.: Kritik, Frankfurt
- Adorno 1971a: Kritik, in: Adorno 1971
- Adorno 1978: Minima Moralia, Frankfurt
- Adorno 1980: Studien zum autoritaeren Charakter, Frankfurt
- MEW: Marx-Engels-Werke, Berlin
- Pohrt 1990: Der Weg zur inneren Einheit, Hamburg
Anmerkungen:
1) Diese "Ahnung" bedeutet keineswegs, daß,
beispielsweise in der klassischen Form der Projektion, dem Antisemitismus, damit
auch das Ressentiment gemildert würde. Im Gegenteil: Sollte sich das Projektionsobjekt,
die empirischen Juden also, der Projektion sperren, so steigert das nur die Wut,
die nicht zögert, statt die Meinung zu revidieren, das Objekt passend zuzurichten.
2) Im Fortgang des Textes wird eine Antithese von Wahrnehmung
und Projektivität entwickelt, die einer grundsätzlichen Erläuterung
bedarf: Selbstverständlich ist jede Wahrnehmung, die über das allerunmittelbarste
Reiz-Rektionsschema hinausgeht, auch eine Projektion, denn Wahrnehmung erfolgt durch
"Objektbesetzung" (was dem kruden "sinnlichen" Materialismus
Feuerbachs, Lenins und ihrer Epigonen entgeht). Ob die Wahrnehmung ihrer subjektiven
Beschaffenheit innewird, und durch Reflexion sich möglichst hütet, zu
stereotypisieren, hängt wiederum von der Beschaffenheit des Subjektes ab. Verliert
dieses die Fähigkeit zur Selbstreflexion ("Ich-Schwäche"), unterliegt
die "Objektbesetzung" also dem Unbewußten, so verselbständigen
sich die Projektionen; die Ordnung der Umwelt, die das Individuum vornimmt, löst
sich komplett von dieser ab, um nur noch der Triebdisposition des Individuums zu
genügen. Statt zwischen beispielsweise reflexiver Projektion und ich-schwacher
Projektion zu unterscheiden, was exakt wäre, setze ich, um der Verdeutlichung
des Unterschiedes willen, Wahrnehmung als Gegensatz zur Projektivität.
3) Connerotte hatte an einer öffentlichen Veranstaltung
des Komitees "Marc et Corinne" teilgenommen. Diese Komitee wurde 1992
vom Vater zweier bei einem Raubüberfaell erschossener Teenager gegründet,
der hinter den ihm zu lasch erscheinenden Fahndungsmethoden und Strafmaßgaben
die Umtriebe einer Staatsmafia vermutet. Nach einer Massenhysterie und der folgenden
Intervention des Ministerpräsidenten Dehaene verblieb der Fall Dutroux wider
geltendes Recht bei der nichtzuständigen Behörde Connerottes in Neufchatel.
4) Das herrschende zwanghafte Assoziieren völlig
unzusammenhängender Skandale und Kriminalfälle geben kongenial insbesondere
die "Zeit" vom 13.9.96 ("Korruption und Sexskandale sind Symptome
jener belgischen Krankheit, die tief im Staatsapparat nistet") und der "Spiegel
38/96 ("Kidnapping, Korruption, Mord - Entsetzen über das organisierte
Verbrechen läßt die Belgier an ihrem Staat verzweifeln") wieder.
Die Hauptkomplexe in diesen Klittereien sind "die Supermarktmörder von
Brabant", ein bisher ungeklärtes Massaker in einem Supermarkt in den 80ern,
und die Ermordung des ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Cools,
die möglicherweise mit dem Augusta- Skandal (einer Art belgischer Starfighter-Affaere,
die 1995 den ehemaligen Nato-Generalsekretaer Claes stolpern ließ ) im Zusammenhang
steht. Wie das mit insgesamt 13 verschwunden Kindern und Jugendlichen seit 1990
(Spiegel 37/96) in Begriffen wie "Sumpf" oder "Fäulnis"
in Zusammenhang gebracht wird, sagt nur etwas über die Gemütsverfassung
der zitierten belgischen Medien und Interviewpartner und ihrer deutschen Kolporteure
aus, nicht aber über irgendwelche realistischerweise anzunehmende Tatbestände.
5) Fast überall, wo man Untätigkeit und Korruption
der Polizei- und Justizorgane unterstellte, handelte es sich schlicht um eine in
Deutschland unbekannte Achtung der Persönlichkeitsrechte, die in Belgien sogar
Ex-Sträflingen zukam; die parlamentarische Untersuchungskommision, deren Sitzungen
live (!) im Fernsehen übertragen werden, hat bis jetzt nichts Rechtswidriges
bei den Ermittlungen im Fall Dutroux zutage gefördert - was allerdings die
Verschwörungsphantasien nur noch erbitterter macht (vgl. FAZ v. 20.1.97: "Das
Gift der Gerüchte"). Probeweise werden Postboten von der Gendarmerie verpflichtet
von allem, was ihnen verdächtig vorkommt, Meldung zu machen. (NZZ, 15.12.96)
6) Auf Druck der Proteste und mit Unterstützung
Dehaenes wird ein Gesetz vorbereitet, daß der Justiz und Polizei das Öffnen
der Post und das Abhören der Telefone von Parlamentariern und Ministern ohne
Zustimmung des Parlaments ermöglicht. (NZZ, 15.12.96)
7) Eine Forderung des "weissen Marsches" aufgreifend
forderten die flämischen Liberalen die Einsetzung Connerottes als "Nationalen
Magistrat", eines oberhalb jeder parlamentarischen Legitimation und Kontrolle
stehenden Sittenwächters mit Schnüffelbefugnis. (Novo 6/96).
8) Beispielsweise wird in Belgien die Arbeitslosenversicherung
zu einem großen Teil durch die Gewerkschaften gewährleistet. Zur "keynesianischen"
Beschaffenheit des (sozial)politischen Systems des Nachkriegsbelgiens gibt A. Cossart,
Belgien, Eine Landesgeschichte in 12 Epochen, Berlin 1985 Auskunft
9) Vgl. Bahamas 18/95: C. Nachtmann: "Acht Arschlöcher
und ein Halleluja"
10) Daraus macht nicht einmal der Bundesjustizminister
einen Hehl. Laut FAZ vom 3.2.96 läßt er verlauten, es sei, "völlig
absurd zu glauben, daß ein potentieller Täter ins Strafgesetzbuch schaut
und sich von einer Höchststrafe von 15 Jahren so beeindrucken läßt,
daß er sagt, ich lasse das mal lieber". Schmidt-Jortzig plädierte
für eine deutliche Verbesserung der Therapie fuer Sexualstraftäter.
11) Angabe nach: Munzinger- Archiv/Internationales
Handbuch: Belgien - Chronik 1995
12) Im Brustton preußischer Empörung charakterisiert
das "Zeit"-Dossier vom 13.9.96 das als "Verfilzung im öffentlichen
Apparat. Im Mittelpunkt stehen die Parteien ... Nach (deren) Strickmuster wird überall
ein lähmender Proporz praktiziert ... Die mächtigen Gewerkschaften folgen
dem Grundmuster der Parteien ... sie sind omnipräsent. Über drei Viertel
der Arbeitnehmer sind organisiert, in der Regel zahlt der Arbeitgeber den Mitgliedsbeitrag.
Große Teile des Systems der sozialen Sicherheit sind in Gewerkschaftshand,
man ist entweder christlich, sozialistisch oder liberal gegen Krankheit oder Invalidität
versichert. Auch die Arbeitslosenunterstützung wird von der Gewerkschaft ausbezahlt."
13) Vgl. insb. S. 222: "Am Ende fällt die
Usurpationsidee mit der vom Verschwörer zusammen, der geheime, für das
Land schädliche Abmachungen trifft. Die Häufigkeit und Intensität
der Usurpatoridee und die absurden Behauptungen, in denen sie sich äußert,
berechtigen uns, sie einen 'Komplex' zu nennen, das heißt, nach einer weitverbreiteten
und stabilen psychischen Konfiguration zu suchen, die sie am Leben erhält."
14) Der Vlaams-Block war 1995 im Wahlkreis Antwerpen
zum zweiten Mal in Folge stärkste Partei; die Region Antwerpen erbringt in
Belgien das höchste Pro-Kopf-Steueraufkommen; nach: Munzinger, a.a.0.
15) Die drei klassischen politischen Parteien in Belgien,
die Christdemokraten, die Liberalen und die Sozialisten sind traditionell organisatorisch
zweigeteilt in je eine flämische und eine wallonische selbständig operierende
Partei. Im Gebiet des "flämischen Rates", der Wahlkreise, die nach
der Wahlrechtsreform das flämische Parlament wählen, rangierten die Sozialisten
1995 nur an dritter Stelle; Nach: Munzinger, a.a.0.
16) Das mag auch die Beharrlichkeit erklären,
mit der die PS in der großen Koalition mit den Christdemokraten bleibt obwohl
der rigorose Deregulierungskurs, den Belgien seit 1995 betreibt, dem Stimmenanteil
in der wallonischen Hochburg nicht gut bekommt.
17) 1970 gibt es eine erste Verfassungsänderung
in diese Richtung, die Flamen und Wallonen kulturelle Autonomie als Verfassungsrecht
zubilligt; 1974 erfolgt die Bildung von drei Regiorialparlamenten für die genannten
Regionen und Brüssel, deren Mitglieder aber nicht direkt gewählt werden;
1980 wählen das flämische und das wallonische Parlament je eine eigene
Regierung mit umfassenden semisouveränen Vollmachten. Mit der Reform von 1993
werden die Regionalregierungen direkt gewählt, die deutschsprachige Minderheit
in Eupen-Malmedy erhält einen eigenen Miniaturrat.
18) 5 von 150 Sitzen des belgischen Parlaments fielen
1995 dem wallonischen Front National zu; nach: Munzinger, a.a.0.
19) "Unter Cools' Herrschaft hatte sich die verarmte
Kohle- und Stahlmetropole Lüttich zu einem Palermo an der Maas entwickelt ...
Seine Parteimaschine beherrschte die Stadt bis ins kleinste Detail." (Spiegel
38/96).
20) Adorno hatte zu diesem Zweck die High-Scorer auf
der F-Skala noch einmal mit ihrem Abschneiden bei einem Test, der die Fähigkeit
prüfte, ein Thema zu erfassen, abgeglichen. Bei diesem Thematic Apperception
Test kommt die Projektivität, die mit der zwiespältigen Charakterstruktur
des "autoritaeren Syndroms" einhergeht, voll zum Tragen.
21) Den Sadomasochismus des "Autoritären
Syndroms" verknüpft Adorno mit den entsprechenden Studien Fromms zum "Sadomasochistischen
Charakter" und Horkheimers zu "Autorität und Familie", die ihn
als mißlungene Auflösung der ödipalen Situation begreifen. Beide
sehen im nur reprimierten Fortbestand des archaischen, kindlichen Größenselbst
die Ursache für die dem Syndrom typische unvermittelte Exterritorialisierung
des Über-Ichs aus dem familiären Bereich in die gesellschaftliche Autorität.
Mit der marktgesteuerten Entfunktionalisierung der Familie, der "vorzeitigen
Vergesellschaftung" (Marcuse) des Über-Ichs, kommen die regressiven Tendenzen
des Autoritären voll zum Tragen, die Projektivität "überflutet",
nach Adornos Wort, alle Bereiche, die nicht zur allerunmittelbarsten Selbsterhaltung
gehoeren. Deswegen habe ich die Syndrome, wie das des "Rowdies", der als
1945 noch randständiges die Regressionsdynamik antizipiert, im Text dem Autoritären
zugeschlagen.
22) Vgl. Adorno 1980, 190: "Überdies werden
die Ängste des Individuums, die ihm die Fremdheit ... der politischen Realität
bereite(t), auch durch einen Trick (Stereotypie, U.K.) nicht ganz beseitigt, der
selbst den bedrohlichen, unaufhaltsamen Prozess der wirklichen sozialen Welt widerspiegelt.
So verlangt Stereotypie ... nach ihrem genauen Gegenteil: nach Personalisierung.
Der Ausdruck erhält hier eine präzise Bedeutung: die Tendenz, objektive
gesellschaftliche und ökonomische Prozesse, politische Programme, innere und
äußere Spannungen mittels Personen zu bezeichnen, die mit dem jeweiligen
Fall identifiziert werden, anstatt sich selbst der Anstrengung der unpersönlichen
geistigen Arbeit zu unterziehen, die die Abstraktheit der gesellschaftlichen Prozesse
erfordert."
23) Vgl.: MEW 23, 634: "Alle Kräfte der
Arbeit projektieren sich als Kräfte des Kapitals, wie alle Wertformen der Ware
als Formen des Geldes."
24) Vgl.: Adorno 1980, 45. Es handelt sich um die
Variablengruppen h) und i), die sich ueberschneiden:"h) Projektivitaet: Disposition,
an wüste und gefährliche Vorgänge in der Welt zu glauben; die Projektion
unbewußter Triebimpulse auf die Außenwelt. i) Sexualität: Übertriebene
Beschäftigung mit sexuellen Vorgängen".
25) Damit übertrifft die psychische Konstellation,
wie sie bei der belgischen Volksbewegung zu unterstellen ist, noch Adornos Befürchtungen:
War er noch in den frühen 50ern davon ausgegangen, daß es des Führers
beduerfe, um die Veräußerlichung des Über-Ichs und die "sekundäre
Archaisierung" zu dynamisieren, knüpfte er dementsprechend Hoffnung an
die aufklärerische Bekämpfung des im Führer verkörperten Vater-Imagos.(Vgl.:
Adorno 1971, 63ff.). Deutlich schlägt hier der Einfluß Horkheimers und
Pollocks durch, aufgrund dessen Adorno als Entwicklungstendenz der Gesellschaft
in den "Studien" den "faschistischen Staatskapitalismus" prognostizierte.
Da die Dynamik des Werts auch diese Herrschaftsformen in die "vaterlose Gesellschaft"
und das "lean government" flexibilisiert, sinkt auch die Bedeutung des
faschistischen Agitators für die autoritäre Psyche.
26) Bezieht sich auf F. Böckelmanns an sich sehr
verdienstvolle Schrift gleichen Titels (Reprint d. Originals von 1971: Freiburg
1987), die allerdings, wie die meisten Verlautbarungen aus dem Umfeld des Situationismus
zum Thema, unter der Tendenz leidet, Konventionalismus und Pseudokonservativismus
zu verwechseln.
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt