Detlev Claussen

Ein kategorischer Imperativ

Die politische Linke und ihr Verhältnis zum Staat Israel

Das Thema scheint klar formuliert und klar umrissen. Worum es geht, scheint festzustehen: die politische Linke und ihr Verhältnis zum Staat Israel. Doch wenn man genauer hinsieht, geraten die geraden Kategorien ins Wanken. Was bedeutet überhaupt, 40 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, politisch links? Das angekündigte Thema scheint fast mit Notwendigkeit zu einer Ausstiegsdiskussion zugehören, die mit Abschiedserklärungen abgeschlossen zu werden pflegt. Dieses Thema zieht intellektuelle Richter und Staatsanwälten, die Verfehlungen suchen, veröffentlichen und aburteilen. Wir wollen keineswegs den übriggebliebenen Platz des Advokaten übernehmen, den advocatus diaboli schon garnicht spielen.
Wer von Israel spricht, darf von der Massenvernichtung der europäischen Juden nicht schweigen. Dieses Postulat halte ich konstitutiv für politisches Verhalten nach Auschwitz. die Geschichte der politischen Linken nach 1945 teilt sich in die 20 Jahre der Alten Linken und die 20 Jahre der Neuen Linken. Überwiegend ist in beiden Perioden der Zerfall der Organisationen und ihrer Inhalte. Ausgangspunkt unserer Reflexion auf das Verhältnis von politischer Linker zum Staat Israel muß die Massenvernichtung der europäischen Juden im Zusammenhang des gescheiterten deutschen Griffs zur Weltmacht sein. Die deutsche Linke, die sich einst selbst als die Stärkste außerhalb Sowjetrusslands gepriesen hatte, konnte weder den Nationalsozialismus verhindern noch ihn stürzen. Am Ende der natinalsozialistischen Herrschaft befanden sich deutsche Linke ermordet, zerstört, ausgemergelt, in Abhängigkeit. Die Linke bildete nur noch ein Anhängsel der Siegermächte, schloß sich aber den neuen herrschenden Ideologien von nationaler Befreiung an. Bei den Kommunisten ist das nicht weiter erstaunlich, wenn auch grotesk. Die DDR hat sich nachträglich in die von Hitler überfallenen Staaten und unterdrückten Völker eingereiht, die dann dank der Sowjetsoldaten aus dieser Knechtschaft befreit worden sind. Diese Ideologie ist so wenig fundiert, daß sie eher einer traditionellen Lüge gleicht. Das Verhältnis zum Staat Israel bestimmt sich aus den Grossmachtinteressen der Sowjetunion, die einst aus machtpolitischem Kalkül die Gründung des Staates Israel unterstützte. Die Machtpolitik allein kann aber für die einseitig antiisraelische Politik nicht verantwortlich sein; die Außenpolitik gegen Israel erklärt sich aus dem innenpolitisch funktional genutzten traditionellen Antisemitismus, der dort der nationalistisch-chauvinistische Stabilisator par excellence der realsozialistischen Länder geworden ist.
Die seit Verurteilung immer wiederkehrenden Antizionismuskampagnen besitzen eindeutig antisemitischen Charakter. [*] Die naive Übernahme dieses Begriffs "Antizionismus" durch die Neue Linke nach 1967 muß kritisiert werden. Sie schien mit einem nominalistischen Kniff das Dilemma zu lösen, legitime Israelkritik zu üben, ohne mit dem Antisemitismus identifiziert zu werden, den man subjektiv ablehnte. Verwundern dabei muß die Geschichtslosigkeit, das triumphierende Halbwissen in der linken Politik. Diese mißlichen Tatbestände haben Mitte der siebziger Jahre dazu geführt, daß in der publizistischen Diskussion in Deutschland von einem "ehrbaren Antisemitismus" als gemeinem Kennzeichen der politischen Linken gesprochen werden konnte. Gegenstimmen werden in der Öffentlichkeit nur zur Kenntnis genommen, wenn sie in das Schema antizionistische = neuantisemitische Linke passten. Henryk M. Broder bestreitet einen Grossteil seiner Artikel mit diesen Leuten, die sich wie Hermann L. Gremliza in antifaschistischer Rhetorik erschöpfen. Die Sache wird auch zurückverlängert. In unverantwortlicher Weise werden Karl Marx und Voltaire als personalisierbare Inbegriffe von Aufklärung und Sozialismus zu Urvätern des sogenannten linken Antisemitismus gemacht. Das Fatale an dieser Konstruktion besteht aber nicht nur darin, daß differenzierte Wahrnehmung verhindert wird durch Anklage und Beschuldigung, sondern vor allem, daß der Begriff des Antisemitismus inflationiert wird.
Der Antisemitismus ist aufs engste mit der modernen europäischen Geschichte verknüpft. Aber begreifen laesst sich diese Verknüpfung nur in ihrem konkreten Kontext. Daher muß diese These des "ewigen" Antisemitismus ebenso zurückgewiesen werden wie die Zurückführung des Antisemitismus auf sogenannte nationale Mentalitäten. Horkheimer und Adorno haben im Vorwort von dem immer noch lesenswerten Buch "Vorgeschichte des politischen Antisemitismus" von Paul W. Massing auf eine conditio sine qua non hingewiesen:
"Keineswegs ist der totalitäre Antisemitismus ein spezifisch deutsches Phänomen. Versuche, ihn aus einer fragwürdigen Entität wie dem Nationalcharakter, dem armseligen Abhub dessen, was einmal Volksgeist hiess, abzuleiten, verharmlosen das zu begreifende Unbegreifliche. Das wissenschaftliche Bewußtsein darf sich nicht dabei bescheiden, das Rätsel der antisemitischen Irrationalität auf eine selber irrationale Formel zu bringen, sondern das Rätsel verlangt nach einer gesellschaftlichen Auflösung, und die ist in der Sphäre nationaler Besonderheiten unmöglich." (Frankfurt 1959, S. VI f)
Im Sommer 1959 ist dies aufgeschrieben worden und mir scheint die intellektuelle Aufgabe klar umrissen, die jeder, der in einer antisemitischen Gesellschaft sich befindet, bewältigen muss. Das mag utopisch klingen, ist aber eine politische Notwendigkeit. Adorno hat die gesellschaftsgeschichtliche Erfahrung in seinem Opus magnum, der "Negativen Dialektik", als neuen kategorischen Imperativ formuliert.
"Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe. Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheiten." (Frankfurt 1966, S.356)
Ich möchte dies gleich am Anfang gesagt haben, daß ich diesen neuen kategorischen Imperativ für gültig halte. Nun folgt unausweichlich die Auseinandersetzung mit dem status quo aus diesem Imperativ, das Zerfallen mit der Normalität. Die Überzeugung, Antisemitismus sei das Unnormale, ist nämlich falsch. In der modernen Gesellschaft ist im Gegenteil Antisemitismus das Normale; Sehnsucht nach Normalität, die jeder an sich für legitim hält, produziert neuen Antisemitismus. Einverständnis mit dem status quo bedeutet deswegen auch immer Einverständnis mit dem real existierenden Antisemitismus. Desewegen die Tendenz, den real existierenden Antisemitismus zu leugnen - oder wenn man ihn schon nicht leugnen kann - zu marginalisieren. Nach 1945 - auf Deutschland bezogen - ist dies immer ein Privileg der Rechten, die sich meistens Mitte nennt, gewesen, von Adenauer bis zu seinem selbsternannten Enkel. Es ist aber keine Jahrgangsfrage, sondern ein gesellschaftliches Faktum: Das Antisemitische ist das Normale. Bei gesellschaftlichen Fakten kommt es auch nicht wesentlich auf das Bewußtsein der leitenden Herren - meist sind es ja Herren - an. Ich glaube nicht, daß Adenauer Antisemit war, sondern eher halte ihn ihn für einen "modernen Menschen", wie Karl Kraus ihn charakterisiert hat: ohne Gefühle und Vorurteile.. Das kann man von dem Enkel weniger behaupten, der bei pfälzischem Saumagen schon einmal sagt, der CSU-Abgeordnete Fellner habe doch nur gesagt, was alle denken - im Volke - und das könne doch nicht antisemitisch sein. Der Hilfssoziologe Kohl verwechselt Volk und Gesellschaft. Wenn eine Gesellschaft antisemitisch ist, produziert sie naturwüchsig in jedem Mitglied der Gesellschaft Antisemitismus. Beim Entstehungsprozess antisemitischen Bewußtseins spielen deswegen reale Juden, ob tot oder lebendig, überhaupt keine Rolle.
Bei der traditionellen Linken sollte man zunächst anerkennen, daß sie äußerst bemüht war, ein solidarisches Verhältnis zur Arbeiterbewegung in Israel und zum Staat Israel aufzubauen. Die Kritik von links an ihr entzündet sich nicht an dieser Haltung zu Israel, sondern an ihrem Verhältnis zum Status quo überhaupt. Die sozialdemokratisch inspirierte oder sich an ihr orientierende Linke konstituiert sich nach 1945 schon als Linke - besonders zur Mitte hin offen. Dies drückte sich in einer zunächst fürchterlichen nationalistischen Rhetorik zu Zeiten Schumachers aus. Taktisch wurde behauptet, man wolle die zurückgekehrten Soldaten integrieren. Auch die sozialdemokratische Internationale war zunächst ein nationales Zweckbündnis - zum Schutz gegen den internationalen Kommunismus. Später hat ein sozialdemokratischer Bundeskanzler behauptet, er habe das Solidaritätserlebnis beim Rückzug von der Ostfront erfahren, deswegen habe sich der Ex-Offizier nach dem Krieg den Sozialdemokraten angeschlossen.
Selbstverstäendlich gehen die Wurzeln für dieses Resultat tiefer. Spätestens 1914 hatte sich gezeigt, daß bei einem Konflikt zwischen Nationalismus und Internationalismus letzterer in der Sozialdemokratie auf der Strecke bleibt. Im Grunde begann schon hier die Bezeichnung "links" an Sinn zu verlieren. Seit der Pariser Julirevolution von 1830 bezeichnet man die Unterschiede von rechts und links nach ihrer Stellung zur gesellschaftlichen Freiheit. An die Linke ging daher die Erbschaft der Großen Französischen Revolution über, die sehr schön 1844 in dem ersten politischen kategorischen Imperativ ausgedrückt worden ist, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Wenn Henryk Broder bei seinen Tiraden gegen den linken Antisemitismus von Voltaire bis heute so tut, als sei ab ovo links und antisemitisch identisch, tut diese Darstellung der Geschichte Gewalt an. Links-Sein bedeutet zunächst, die Versprechen der Französischen Revolution in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu materialisieren: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die vorbürgerliche Gesellschaft in Europa und besonders in Deutschland hatte zum Merkmal, daß sie eine christliche Herrschaftsorganisation hervorbrachte. Christliche Herrschaftsorganisation bedeutet eine Gesellschaft, in der die Juden als erniedrigte, geknechtete, verlassene und verächtliche Wesen behandelt werden. Die ersten Theoretiker, die über die bürgerliche Revolution und ihre immanenten Widersprüche nachgedacht haben, bezeichnen den Prozeß, der stattfinden soll, als Emanzipation. Es gehört aber zur Dialektik der Aufklärung, daß sie naturwüchsige Verhältnisse auflöst ohne sie abzuschaffen. Emanzipation trägt das Janusgesicht der individuellen und kollektiven Emanzipation. An den Wechsel von vorbürgerlichen zu bürgerlichen Verhältnissen hat sich systematisch als emanzipatorische Theorie nur die Marxsche herangewagt, die in diesem Sinne die erste kritische Theorie ist.
Die traditionelle Linke nach 1945 hat sich um diese historisch-theoretischen Fragen so gut wie nicht mehr bemüht, sondern das alles einen alten Hut sein lassen. Nur so ist es zu erklären, daß unwidersprochen Aufsätze wie der Edmund Silberners erscheinen konnten. "Was Marx an Anti- Semite" erschien 1948; Silberner hat dieses Thema weiter behandelt - erst in "Sozialisten zur Judenfrage" und kürzlich in "Kommunisten zur Judenfrage". Ich muß dieses Thema ansprechen, weil die meisten Kritiker der Linken aus diesen Büchern abschreiben, während die Linke als organisierte Gestalt kaum noch existiert. In diesen Arbeiten wird mit einer Äquivokation gearbeitet: Die "Judenfrage", wie sie von deutschen Beamten zwischen 1760 und 1848 gestellt wird, wird mit der "Judenfrage" identifiziert, wie sie vor dem nationalistischen Hintergrund von der zionistischen Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts aufgenommen wird. "Die Judenfrage" wurde nämlich zu diesem Zeitpunkt von den politischen antisemitischen - allesamt rechten - Bewegungen gestellt, und man versprach Antworten auf sie, die zionistische Bewegung auch. Vom emanzipatorischen Inhalt der bürgerlichen Revolution war nur übrigeblieben die neue Organisation der Herrschaft und ihre ideologie: der Nationalstaat.
Nationalismus und Antisemitismus gehören in der modernen Gesellschaft zusammen. Geht man von einer einheitlichen Gesellschaft aus, ist der Nationalismus nichts weiter als eine reaktionäre Ideologie. Geht man aber, wie man es in der Wirklichkeit tun muß, von einem ungleichzeitigen internationlen Beziehungsgeflecht aus, gewinnt der Nationalismus bei unterdrückten Völkern ein schillerndes Doppelgesicht: er ist die Form, in der Menschen sich geschichtlich identifizieren, und zugleich die Schranke ihres Bewußtseinsinhaltes, - "eine abscheuliche Notstandsweisheit, dass wir alle im gleichen Boot sitzen", wie Adorno ihn einmal charakterisiert hat. Zu einem gesellschaftlichen kategorischen Imperativ taugt der Nationalismus nicht.
Links-Sein und Nationalismus schließen sich im Prinzip aus; Anpassung der Linken an den Nationalismus bedeutet ein Minus an Links-Sein. Die Unkenntlichkeit ist schnell erreicht. Nationalismus bedeutet aber immer Exklusion des Jüdischen, - so generell und scharf zum Beispiel, daß sich etwa Theodor Herzl - aber nicht nur er allein - ganz explizit antijüdischer Redeweisen bedient, um für die zionistische Bewegung zu werben. Hier liegt eine der Quellen fuer die Inflationierung des Antisemitismusbegriffs, der die Notwendigkeit des zionistischen Unternehmens über die Gegenwart hinaus - nach rückwaerts verlängert. David Ben Gurion soll in einem Gespräch - nach Tamara Deutscher - einmal geäußert haben:
"Ich empfinde keine Feindschaft gegenüber Juden, die Antizionisten, nein Antisemiten sind, wie Karl Marx und Isaac Deutscher ... sie waren durchaus wertvolle Menschen ..."
Strukturell ist an die Vorstellung vom Jüdischen die Vorstellung von Internationalität gebunden, eine jüdisch- nationale Bewegung mußte mit diesem, dem traditionellen Judentum anheftenden Zug brechen. Je mehr sich die bügerlichen Gesellschaften nationalistisch stabilisierten - nach 1848/49 -, um so mehr setzten sich antisemitische Bewegungen in Szene, die im propagandistischen Streit mit den Sozialdemokraten, später zugleich den Zionisten lagen. Kennzeichnend für sie war ein Verbalradikalismus, der später von den nationalsozialistischen Antisemiten abschätzig behandelt wurde und zugleich zur allgemeinen Unterschätzung der Hitlerschen Propaganda führte, die man nur als Neuauflage des alten Antisemitismus begriff. Im Zusammenhang mit der antisemitischen Propaganda und den Pogromen im zaristischen Russischen Reich entstand als Gegenbewegung der Zionismus, der in sich emanzipative Züge trägt, weil er versucht, die Interessen eines unterdrückten Volkes zu artikulieren. Die Härte der Konflikte zwischen Sozialisten und Zionisten, später Kommunisten und Zionisten, ist in der Konkurrenz begründet, die Massen für sich zu gewinnen. In sozialistischen und kommunistischen Organisationen setzte sich die Überzeugung durch, die gegen den Zionismus ins Spiel gebracht wurde, daß eine Befreiung der Unterdrückung nur international vorzustellen wäre, die antisemitischen Bedrohungen würden mit der kapitalistischen Klassengesellschaft insgesamt verschwinden. Die Vereinigung der Unterdrückten geschehe auf der Basis der Gleichheit in den sozialistischen Organisationen, die in dieser Beziehung einen Vorgeschmack auf die klassenlose Gesellschaft gäben. Kennzeichnend für diese Position ist der Rationalismus, der in der radikalisierten Bürgerlichkeit der sozialdemokratischen Parteien bis zum ersten Weltkrieg begründet ist und der an die Kommunistischen Parteien mit der entsprechenden Zunahme machtpolitischer Erfahrung weitergegeben worden ist. Die sozialistischen Theorien und später die marxistisch-leninistischen zum Antisemitismus leiden an diesem Erbe des Rationalismus, der den Antisemitismus nur funktional im Sinne der Herrschaftstechnik begreifen kann.
Schon eingangs habe ich gesagt, daß die traditionelle Linke nach 1945 zunächst ein affirmatives Verhältnis zur israelischen Staatsgründung besaß. Die UdSSR und mit ihr die Kommunistischen Parteien nahmen bald eine andere Position zu Israel ein, die - wie ich sagte - nicht einmal machtpolitisch rational ist. Beibehalten wurde aber der rationalistische Charakter der Antisemitismusauffassung, der nach dem Bruch der Zweck-Mittel-Rationalität in Auschwitz unerträglich ist. Zweifellos besitzt der Antisemitismus ein herrschaftsstabilisierendes Moment - in der bürgerlichen Gesellschaft, Parteiführungen in den realsozialistischen Ländern benutzen dies geradezu in Krisensituationen ihrer eigenen Gesellschaften. In den realsozialistischen Ländern ist es aber gerade nicht das Ökonomische am Antisemitismus, was herrschaftsstabilisierend wirkt, sondern die nationalistische Identitätsstiftung. Während im Bürgerkrieg die bolschewistische Partei es an Eindeutigkeit im Kampf gegen den Antisemitismus nicht hat fehlen lassen, beginnen die Zweideutigkeiten mit der Agitation gegen die NEP, also beschränkter zirkulativer Möglichkeiten, und dem "Sozialismus in einem Land", der zunächst die territoriale Lösung bevorzugt: dem unterdrückten jüdischen Volk wird Land in Birobidjan zugewiesen. Der Rückfall der Sowjetunion in den Nationalismus, der aber sich als Supranationalismus, als Sowjetchauvinismus konstituiert, bahnt sich schon an. Mit der Eroberung des cordon sanitaire nach 1945 wird Antisemitismus abrufbares Herrschaftsmittel und mit der Entwicklung der Nah-Ost-Konstellation der Antizionismus die Flagge sowjetischer Propaganda, der aber mit dem alten Konflikt zwischen Zionisten und Sozialisten/Kommunisten vor Auschwitz nur den Namen gemein hat. Eine aus ganz unterschiedlichen Gründen realistischere Politik der Sowjetunion und Israels kann aber den Antizionismus durchaus - obwohl zur Zeit unwahrscheinlich - in die Mottenkiste verbannen. Solange ein Konzept nationaler Befreiung in die Interessen der Sowjetunion passt, ist Verständigung prinzipiell nicht ausgeschlossen. Gromykos UNO-Begründung für Israel von 1948 muß nicht revidiert werden.
Der nationale Charakter des zionistischen Projekts macht es den rechten wie linken Kräften des status quo leichter, Israel zu akzeptieren. In Deutschland war es der Weg der Sozialdemokratie zur Volkspartei, also der Erfolg des Nationalen über das Linke in ihr - und das nach dem moralischen wie materiellen Bankrott des Nationalismus in Deutschland, der zur Entwicklung einer Neuen Linken führte. In das Vorfeld der später wichtigsten Organisation der Neuen Linken, des SDS, gehörte einerseits der Protest gegen die Stunde-Null-Ideologie, z.B. Aufführungsverbote von Veit- Harlan- und Leni-Riefenstahl-Filmen, gegen Einstellung der Entnazifizierung und für Aufarbeitung der Vergangenheit, z.B. Information über die Fortexistenz der NS-Justizin der BRD-Justiz und Anerkennung der Ergebnisse des zweiten Weltkrieges, vor allem der deutschen Teilung - eine Politik, die zum Ausschluß aus der SPD führte. Ich sage das, weil der Antinationalismus und das Erkennen des Antisemitismus zusammengehören. Vor dem Junikrieg von 1967 führte das zu einer lebhaften Reisetätigkeit nach Israel, vor allem Kibbuzim und Arbeiten in ihnen. Der SDS war eindeutig pro- israelisch eingestellt, - eine der Grundideen seiner Neulinken-Politik, Vereinigung von Arbeit und emanzipatorischen Lebensformen, stammte aus der Kibbuz- Praxis. Der Widerspruch des israelischen Lebens wurde zwar von Berichterstattern schmerzlich vermerkt, konnte aber intellektuell und theoretisch nicht verarbeitet werden.
Den Umschlag proisraelischer Identifikation in abstrakte Negation habe ich an anderer Stelle im einzelnen beschrieben und möchte das nicht wiederholen. Bloß identifikatorisches Verhalten übersteht die Konfrontation mit der widersprüchlichen Wirklichkeit nicht. Das Umschlagen von Identifikation in Gegenidentifikation kann nicht allein aus der Geschichte erklärt werden; denn Entsolidarisierung mit Israel war 1967ff ein internationaler Vorgang der Linken. Es waren wenige und einzelne, die sich diesem Trend entgegengestellt haben, aber sie hat es auch weiter gegeben. Ich möchte mit diesen wenigen und einzelnen nicht hausieren gehen, um die Neue Linke zu exkulpieren, aber ich möchte auf ihre Existenz hinweisen, weil selbst bei klugen und integren Leuten wie Jean Amery und Hans Mayer die Linke in toto mit neuem Antisemitismus identifiziert wird. Es gab und gibt Widersprüchlicheres - auch hier.
Ich bin nun an dem Punkt angekommen, an dem es immer wieder Streit gibt. Ich behaupte nämlich, daß die Linke in der Bundesrepublik schon längst die Sache von Einzelnen geworden ist. Als Beweis müssen die Massenentwicklung von Neuen Linken zu Alten Linken, die sich dann logischerweise selbst auflösen - nur zehn Jahre zu spät - und die Abwesenheit in zentralen gesellschaftlichen Konflikten gesehen werden: Tiefpunkte, die auf der Linie unseres Themas liegen - Entebbe und beinahe zehn Jahre danach Bitburg. Es erinnert an die Hegelsche Wiederholung, die nötig ist, bis ein Ereignis anerkannt wird: In beiden Fällen waren es nur Einzelne, nicht wie Broder sagte: niemand, die ihren Protest gegen die Ignoranz und Abstinenz vom Unangenehmen artikuliert haben.
Der propagandistische Internationalismus der Neuen Linken, der keine differenzierte Haltung zum Palästinenserkonflikt ermöglichte, hat sich in der Praxis als verkappter Nationalismus erwiesen. Die wirklichen antiimperialistischen Revolutionen in der Dritten welt werden mit identifikatorischen Inhalten westlicher Linke gefüllt, Illusionen, die eine nach der anderen zerplatzten wie Seifenblasen. Die wirkliche Beschäftigung mit den Problemen unterdrückter Völker und ihrer Befreiung ist Angelegenheit von wenigen geblieben. Angesichts des vietnamesisch-chinesischen Krieges zeigt sich die Ratlosigkeit dieses identifikatorischen Internationalismus in aller Hilflosigkeitt. Antinationalismus wurde zu einemm ausgehöhlten Tabu, dessen Sin abhanden gekommen war. Dies äußert sich nach dem Zusammenbruch von ML-Linken und der Ausbreitung grüner Scenerie in der proklamierten Suche nach nationaler Identität, die ein soziologisches Wunder vollbringen soll: Aussöhnung mit der Normalität und Konservierung einer kritischen Haltung. Hier entsteht Platz für einen Sentimentalismus, der sich neuerdings in antilinker Selbstanklage und folkloristischem Interesse für Judentum und jüdische Geschichte äußert. Die sentimentale Identifikation mit Judentum und Israel schlägt schon bei der nächsten politischen Konjunktur um. Der Frankfurter Faßbinder-Skandal macht dieses konjunkturelle Schwanken gerade auf der Kippe sichtbar.
Weder eine Abkehr von internationalen politischen Zusammenhängen noch ein sogenannter realistischer Internationalismus, der keiner mehr ist, wie er von Broder und Fichter vor zwei Jahren hier in Arnoldshain proklamiert worden ist, scheint mir die Alternative. Das muß man nicht proklamieren, das ist schon geschehen.
Die offizielle Rhetorik der Bundesrepublik verändert sich gerade: Glotz reklamiert jetzt den Begriff Linke für die SPD und Geißler stimmt ihm zu. Das ist nur wegen der Selbstzerstörung der Neuen Linken möglich, aber es ist auch nur Rhetorik, mehr noch als der Internationalismus der Sozialistischen Internationale. Regeneration kritischer Intellekualität ist gefordert, die sich unter dem von Adorno formulierten neuen kategorischen Imperativ stehend begreift.
Eine Regeneration kritischer Intellektualitaet ist aber nur möglich, wenn sie die Arbeit an kritischer Gesellschaftstheorie als die ihre aufnimmt und sich nicht an die akademischen Moden und an konjunkturellen journalistischen Schwankungen orientiert. Zu dieser kritischen Gesellschaftstheorie gehört wesentlich eine Erkenntnis dessen, was Antisemitismus nach Auschwitz bedeutet. Die Anstrengung, das Unbegreifliche zu begreifen, kann nicht ohne geschichtliche Reflexion geleistet werden, die ein differenziertes Wahrnehmen von Geschichte des Antisemitismus und antisemitischer Gesellschaft ermöglicht. Eine kritische Auseinandersetzung mit zionistischer Geschichtsschreibung und Geistesgeschichte - ich meine vor allem Poliakovs grosse Arbeit und Silberners Bücher - ist unumgänglich; denn wenn ich diese Schriften kritiklos hinnehme, müßten Aufklärung und Internationalismus auf den Kehrichthaufen der Geschichte geworfen werden. In die Konstitution des Staates Israel ist die Energie von Individuen eingegangen, die sich aus Verhältnissen befreien wollten, in der sie als verächtliche Wesen behandelt wurden. Diese emanzipatorische Energie wird im nachkolonialen Kontext verbraucht, sie dauert nicht ewig. Das zionistische Projekt, in das diese Energie eingeflossen ist, scheint langfristig viel bedrohter, als es sich in den Augen der politischen Führer und ihrer Feinde darstellt. Auf die Ewigkeit gewaltsamen Triumphes zu bauen, scheint nur illusionär. Die Vertreibung der Palästinenser und fortwährende Okkupation dürfen im israelischen Selbstbewußtsein nicht ignoriert werden, sonst wird der Konflikt in einer gewaltsamen Konfrontation mit katastrophalem Ausgang enden. Eine apologetische Solidarität mit Israel, wie sie vor 1967 geherrscht hat, kann es nicht geben und wäre auch nicht wünschenswert. Die palästinensischen Politiker haben die Palästinenser in die ausweglose Sackgasse des Nationalismus geführt; der Rückfall in den totalen Terrorismus ist schon vorprogrammiert. Die Kritik am palästinensischen Terrorismus ist immer schon zu schwach gewesen, aber er muß in der praktischen Politik solidaritätsaufkündigend sein. Die Politik der Nicht-Anerkennung stellt sich als selbstsmörderisch heraus. Eine linke Position in diesem Konflikt kann nur in der Forderung nach gegenseitiger Anerkennung der kämpfenden Parteien bestehen, damit der Kampf nicht endet im Untergang der Kämpfenden - eine Gefahr, die ich fuer höchst real halte. Ich kann nur sagen, daß es kein eindeutiger Kampf von Gut und Böse ist, kein eindeutiges Kolonialverhältnis von Kolonialherren und Unterdrückten, sondern ein komplexes Verhältnis in der Konfrontation zweier legitimer Rechte. Ich fürchte, es gibt keine realistischere Feststellung als diese: "Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt" (Karl Marx, MEW23, S.349)
Von der Gewalt emanzipieren kann man sich aber nur durch gegenseitige Anerkennung. Dies zu befördern, scheint mir die einzige legitime linke Position angesichts des Palästinakonflikts zu sein.
Im Verhältnis von politischer Linker und Israel geht es um Solidarität. Schon 1939/40, in finsterster Zeit, ist formuliert worden: "Die Solidarität ist in gemeinsamer Erkenntnis begründet. Aus der notwendigen Unabgeschlossenheit der Erkenntnis scheint es, daß Solidarität notwendig vergänglich ist." Weder die politische Linke noch Israel sind in den letzten vierzig Jahren sich gleich geblieben. Die mangelnde Einsicht der Linken in die widersprüchlichen geschichtlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse des Nahen Ostens hat die abstrakte Negation von Apologetik ermöglicht.
Dies liegt nicht am Nahen Osten, sondern an der Identitätskrise der spätkapitalistischen Linken, namentlich der deutschen. Ein Ausweg bietet sich nur in der intellektuellen Erneuerung politischer Motive,die sich auf die Gegenstände der Erkenntnis einlassen. Die kritische Beschäftigung mit dem Antisemitismus als Gegenwartsproblem kann den Blick auf die eigene Geschichte wie auf den nahöstlichen Zusammenhang von bloß autistischer Verblendung befreien. Solidaritäet aus schlechtem Gewissen hält der Konfrontation mit einer widersprüchlichen Realität nicht lange stand, wie wir aus der Erfahrung wissen. In einem Moment völliger Isolation hat Max Horkheimer notiert: "Was an der Solidarität durch den Prozeß der Erkenntnis bedroht wird, ist das noch Unreine und Schlechte an ihr." Die Augen aufzuschlagen und eine Wirklichkeit wahrzunehmen, kann der Anfang einer neuen Beziehung sein. Der neue kategorische Imperativ, Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnlichesgeschehe, gilt für alle.

aus: Brumlik, Micha u.a. (Hrsg.), Juedisches Leben in Deutschland seit 1945, FfM: Athenaeum 1988

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Most recent revision: April 07, 1998

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