Faschismus und Kapitalismus
Die Abschaffung der Arbeit, die das Kapital geleistet hat, entzieht der Herrschaft
von Menschen über Menschen den im Verhältnis der Menschen zur Natur liegenden
ökonomischen Grund, und der Zwang, stetig und ohne Rücksicht auf die lebendigen
Menschen die Produktivkräfte zu entwickeln, regrediert zur Herrschaft sans
phrase wie in vorgeschichtlichen Zeiten, als sich die Herrschaft zwar konstatieren,
aber nicht verbindlich begründen ließ. Nur ist die Regression stets unausdenkbar
viel schlimmer als der ursprüngliche Zustand, zu dem sie angeblich zurückführt.
Die Willkürherrschaft unter den Primitiven war noch verhältnismäßig
harmlos. Den Untaten selbst der Kannibalen waren durch die Reichweite ihrer Füße,
ihrer Waffen und die Kapazität ihres Magens enge Grenzen gesetzt. Erst die
Willkürherrschaft, auf die eine hochkapitalistische Gesellschaft regrediert,
kann 6 Millionen Menschen planmäßig und weitere 44 Millionen Menschen
außerplanmäßig vernichten.
Sinnlose Willkürherrschaft in vorbürgerlichen Zeiten stand immerhin unter
dem Bann der Hilflosigkeit, mit der die noch ganz in Natur befangenen Menschen ihr
Leben reproduzierten.
Man kann sie daher verstehen, wenn man die ihrerseits unbegreifliche, schlicht vorgegebene
Prämisse akzeptiert, daß die Emanzipation von blinder Naturbefangenheit
nur durch einen Prozeß zu erreichen ist, den man Fortschritt nennt und den
man sich als schleppendes und stolperndes Waten durch ein Meer von Blut, Schweiß
und Tränen vorstellen muß.
Moderne Willkürherrschaft hingegen beginnt an dem Punkt der Geschichte, wo
die Befangenheit der Menschen in Natur materiell aufgehört hat: Wo die Produktivkräfte
so weit entwickelt sind, daß alle glücklich leben könnten, ohne
daß der Eine den Anderen zu diesem Zweck erniedrigen, unterdrücken, ausbeuten
oder gar abschlachten muß. Damit aber wird sie völlig unbegreiflich,
wie sich exemplarisch am deutschen Faschismus, dem Inbegriff und Vorbild moderner
Willkürherrschaft zeigen läßt. Er ist gerade kein auf der Menschheit
lastendes Verhängnis, kein unabwendbares Schicksal wie die historische Arbeit,
die stets ihre furchtbaren Opfer gefordert hat. Seine Verbrechen können sich
auf keine unbegreifliche, weil von den Menschen nicht selbst gesetzte, sondern ihnen
vorausgesetzte Bedingung ihres Lebens herausreden.
Der Faschismus ist nicht etwa wie der Zwang zur Arbeit, wie die Kriege naturwüchsiger
Gemeinwesen ein Produkt der Natur, welche die Menschen nicht selbst gemacht haben,
sondern er ist Produkt einer Geschichte, welche die Menschen sehr wohl selbst gemacht
haben. Und eben daran, daß der Faschismus grundlos verbrochen wurde, daß
er nicht unter der Herrschaft eines von den Menschen zunächst unabhängigen
Naturzwanges entstand, muß sich die Theorie die Zähne ausbeißen.
Theorie setzt immer den Gegenstand unter die Denkbestimmungen der Vernunft. Sie
kann ihn daher nur erreichen, wenn er selbst diese Vernunft, zumindest partiell
und gebrochen, verkörpert.
Wenn Marx das Kapitalverhältnis als Ausbeutungsverhältnis begreift und
kritisiert, begründet er es zugleich vernünftig als ein Produktionsverhältnis,
das die Entwicklung der Produktivkräfte, welche für die Abschaffung der
Ausbeutung eine notwendige Voraussetzung ist, vorantreibt. Das falsche gesellschaftliche
Verhältnis der Menschen, wofür diese selbst verantwortlich sind, findet
hier seinen Grund und seine Erklärung im falschen Verhältnis der Menschen
zur Natur, wofür jene nicht verantwortlich sind: Weder haben sie die Natur
so eingerichtet, daß man sich an ihr abplagen muß, um sie essen zu können,
noch haben sie sich selbst als hilflose Naturwesen in die Welt gesetzt. Ratio und
Rationalisierung hängen hier zusammen, und jede Kritik setzt die Rechtfertigung
des kritisierten Gegenstandes immer schon voraus.
Kritik rechtfertigt ihren Gegenstand allein schon durch die Hoffnung, die sie in
seine Veränderbarkeit setzen muß. Veränderbar aber ist das gesellschaftliche
Verhältnis nur unter der Bedingung, daß sein falscher Zustand auf einen
Grund zurückgeführt werden kann, der von ihm selbst noch einmal verschieden
ist: Auf ein besonderes Verhältnis der Menschen nicht zueinander, sondern zur
Natur. Sonst müßten sich die Menschen wie Münchhausen am eigenen
Schopf aus dem Sumpf ziehen, wenn sie ihr Verhältnis zueinander vernünftig
einrichten wollen.
Der für jede Gesellschaftstheorie konstitutive Widerspruch, daß die Menschen
nicht Subjekt ihrer eigenen Geschichte sind und gleichzeitig dies doch sein könnten,
ist auflösbar nur durch die Konstruktion eines von den Menschen zunächst
unabhängigen, aber von ihnen veränderbaren objektiven Grundes, der für
das falsche Verhältnis der Menschen zueinander ursächlich verantwortlich
ist.
Das Subjekt muß sich gleichsam auf höhere Gewalt berufen, wenn es noch
keines ist und doch die Möglichkeit beansprucht, eines zu werden. Und keine
Gesellschaftstheorie, die immer jene vernunftlose Sequenz von Katastrophen, die
man Weltgeschichte nennt, unter die Denkbestimmungen der Vernunft setzen muß
- keine Gesellschaftstheorie kommt umhin, dem Angeklagten mildernde Umstände
in Form von höherer Gewalt zuzubilligen.
Auf diese aber kann sich der Faschismus nicht berufen, und deshalb ist er unbegreiflich.
Die Theorie sucht stets nach Gründen. Für die planmäßige Vernichtung
von 6 Millionen Menschen, die noch nicht einmal zum Vorteil irgendeines Anderen
ausgebeutet, sondern einfach nur vernichtet wurden, gibt es aber solche nicht. Zwar
lassen sich unendlich viele Funktionszusammenhänge anführen, aber sie
bilden nur eine unendliche Tautologie, weil sie aus dem Zirkel des einfach vorausgesetzten,
immer schon konstituierten Gesellschaftlichen nirgends ausbrechen können. Nach
der Verwandlung des Kapitals in capital fixe hat das Herrschaftsverhältnis
der Menschen untereinander nichts mehr mit der Ökonomie als dem Verhältnis
der Menschen zur Natur zu tun. So gibt es keinen Grund mehr, der vom Begründeten
- eben dem Herrschaftsverhältnis - noch verschieden ist. Damit entfällt
die erste Voraussetzung aller Theorie, die heute offensichtlich am Ende ist. Die
Gleichgültigkeit des gesellschaftlichen Verhältnisses gegen das Verhältnis
der Menschen zur Natur äußert sich darin, daß die materielle Produktion
zum nur mehr stofflichen Prozeß wird, zum Prozeß nur zwischen Gebrauchswerten.
Wo es nur Gebrauchswerte gibt, gibt es aber keinen Gebrauchswert mehr, denn dieser
existiert nicht ohne das die Natur unter seine eigenen subjektiven Zwecke setzende
Subjekt: "Das Verhältnis des Kapitals als des die verwertende Tätigkeit
sich aneignenden Werts, ist in dem fixen Kapital, das als Maschinerie existiert,
zugleich gesetzt als das Verhältnis des Gebrauchswerts des Kapitals zum Gebrauchswert
des Arbeitsvermögens" (Ro/585).
So existiert kein Verhältnis der Menschen untereinander und zur Natur mehr,
welches selbständig Gebrauchswert setzt, so, wie es das Kapitalverhältnis
tat. Den Menschen bleibt angesichts des endlosen Endes vom Kapitalverhältnis
keine Alternative als die, entweder gemeinsam die gegenständliche Welt als
ihren Gebrauchswert zu setzen oder von "sachlichen Mächten, ja übermächtigen
Sachen" (Ro/545) erschlagen oder auch geduldet zu werden - von Sachen, an denen
selbst die Machthaber als bloße Anhängsel erscheinen. Der Dissoziation
des Kapitalverhältnisses in Willkürherrschaft und übermächtige
Sache würde entsprechen, daß die Einheit des Klassenkampfes nicht mehr
gegeben ist. Er zerfiele in die Brechung der Willkürherrschaft, in die militärische
Zerschlagung der modernen Söldnerbanden einerseits, andererseits in das Setzen
der Sachen als Gebrauchswerte. Das Setzen der Sachen als Gebrauchswerte setzt die
Beseitigung des Hungers in der Dritten Welt voraus, setzt also die Beseitigung der
die Dritte Welt ausplündernden Willkürherrschaft wie auch der übermächtigen
Sachen in den Metropolen voraus. Nur in diesem Zusammenhang darf an eine Formulierung
von Marx erinnert werden, die sonst Gefahr liefe, als Reklamespruch für die
Freizeitindustrie mißverstanden zu werden:
"Die wirkliche Ökonomie - Ersparung - besteht in Ersparung von Arbeitszeit
[...]; diese Ersparung aber identisch mit Entwicklung der Produktivkraft. Also keineswegs
Entsagen vom Genuß, sondern Entwicklung von power, von Fähigkeiten zur
Produktion und daher sowohl der Fähigkeiten, wie der Mittel des Genusses. Die
Fähigkeit des Genusses ist Bedingung für denselben, also erstes Mittel
desselben und diese Fähigkeit ist Entwicklung einer individuellen Anlage, Produktivkraft.
Die Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehren der freien Zeit, d. h. Zeit für
die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte
Produktivkraft zurückwirft auf die Produktivkraft der Arbeit." (Ro/599)
aus: Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts, S.263-267
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt