FORMIERT SICH EINE NEUE SOZIALE BEWEGUNG VON RECHTS?

Folgen der Ethnisierung sozialer Konflikte

Von Hans-Gerd Jaschke


Die Geschichte der Ausländer in Deutschland nach 1945 ist eine Geschichte der Integration und der Ausgrenzung, eine Geschichte der Diskriminierung und der Assimilierung. Seit der Zuwanderung von angeworbenen Gastarbeitern in den 60er Jahren und der späteren Ausdifferenzierung der Ausländerbevölkerung in Gastarbeiter und Einwanderer verschiedener Generationen, Flüchtlinge und Asylbewerber ist eine konfliktreiche Vielfalt von ethnisch-kulturellen Lebensformen neben und unterhalb der hegemonialen, real existierenden deutschen Kultur entstanden. Es waren und sind vor allem Teile der Kirchen und der Gewerkschaften, die eine offensive Politik der Ausländer-Integration betreiben und aus verschiedenen Gründen die Bundesrepublik als Einwanderungsland betrachten. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche betonte schon im Jahr 1980: "Wir leben in der Bundesrepublik in einer multikulturellen Gesellschaft." (1)
Fragen des Zusammenlebens von Deutschen und Ausländern sind im Hinblick auf die Geschichte der alten Bundesländer nicht neu. Anders ist es in den neuen Bundesländern. Hier mangelt es an Erfahrungen und an Konfliktgeschichten mit ausländischer Wohnbevölkerung. Die Ideologie der "Völkerfreundschaft" bietet dafür keinen Ersatz. Es fehlt aber auch nicht an der in Westdeutschland lange schon vorhandenen, im Osten sich entwickelnden Gegenmacht offen ethnozentristischer, fremdenfeindlicher Stimmungen und Aktionsformen in der Gesellschaft. Das ist keineswegs ungewöhnlich: Fremdenfeindlichkeit, Ethnozentrismus und die Diskriminierung von Minderheiten gehören zur "Normalität" hochentwickelter kapitalistischer Gesellschaften. Seit Beginn der 90er Jahre allerdings wächst die fremdenfeindlich motivierte Gewaltbereitschaft in einem den "gewöhnlichen Rassismus" übersteigenden Ausmaß.
1991 verzeichnen die Sicherheitsbehörden knapp 1500 Gewalttaten gegen Ausländer, fünfmal mehr als im Jahr zuvor (2). Im Jahr 1992 wurden bis September 970 Gewalttaten von rechts verübt, 700 Verletzte und zehn Tote waren die Folge (3). Fremdenfeindliche Ausschreitungen - vom Pogrom von Hoyerswerda im Herbst 1991, als eine Handvoll radikaler und militanter Skinheads, beifällig begleitet von Teilen der Bevölkerung, die Stadt "ausländerfrei" machte, bis hin zu den Rostocker Krawallen im August 1992 - stehen für eine politische Klimaveränderung: Gewalt gegen Andersartige, Ausländer, Nicht-Dazugehörige in Worten und Taten verbleibt nicht mehr im Tabu privater Mentalitäten, sie schafft sich öffentliche Räume, tritt unverblümt nach außen und veranlaßt Politiker, den populistischen fremdenfeindlichen Stimmungen nachzugeben.
Dieses Szenario provoziert, zumal angesichts ungeklärter Probleme der deutsch-deutschen Vereinigung, Fragen nach der Struktur und der künftigen Richtung der fremdenfeindlichen Stimmungen. Über die Ursachen, die Folgen und längerfristigen Konsequenzen nach den Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein im Frühjahr 1992 gibt es derzeit wenig Klarheit, obwohl auf dem Markt der wissenschaftlichen und publizistischen Gewißheiten und Rezepturen Hochkonjunktur herrscht. Dramatisierende Positionen beklagen den zunehmenden "Rassismus" sowohl in der Gesellschaft als auch bei den politischen Institutionen und ihren Akteuren (4), verharmlosende verweisen darauf, es handele sich bei den Steinewerfern um irregeleitete, unpolitische jugendliche Krawallmacher, die nicht repräsentativ seien für die Mehrheit der Bevölkerung. Die sozialen Verwerfungen nach der Vereinigung werden ebenso ins Feld geführt wie die demokratische Unreife der ehemaligen DDR-Bürger und besonders der Jugendlichen. Rechtsextremismus und rassistische Konflikte seien, so andere Meinungen, aber auch nach wie vor als Normalität westlich-kapitalistischer Gesellschaften zu sehen - siehe das Beispiel USA. Doch ist der ethnische und rassische Separatismus in einem traditionellen "melting pot" vergleichbar mit einem europäischen Nationalstaat, der sich über lange Zeit keineswegs als Einwanderungsgebiet verstanden hat und dessen östlicher Teil über vier Jahrzehnte praktisch abgeschottet war gegenüber dem Ausland?
Die einen beklagen den Ansehensverlust im Ausland einschließlich negativer Auswirkungen für den Außenhandel und das Investitionsklima in den neuen Bundesländern, die anderen sehen in verstärkter Polizeipräsenz und schärferen Gesetzen ein wirkungsvolles Gegenmittel. In der Änderung des Asylrechts schließen sich möglicherweise die "Altparteien" zur großen Koalition zusammen. Doch damit wird man den zugrundeliegenden Problemen kaum beikommen können.
Angesichts der Vielzahl möglicher Deutungen scheint eine Vergewisserung darüber nützlich, was eigentlich zwischen "Hoyerswerda" und "Rostock" passiert ist und wofür die gewalttätigen Ereignisse stehen. Die Ereignisse seit den "Republikaner" -Wahlerfolgen im ersten Halbjahr 1989 und Anfang 1992 (Landtagswahl Baden-Württemberg, Bezirkswahlen in Berlin) sowie den militanten Aktionen gegen Asylbewerberheime (Hoyerswerda, Rostock usw.) müssen als Teile ein und desselben soziokulturellen Zusammenhangs gesehen werden. Er entstand nicht mit den " Republikanern", nicht mit "Hoyerswerda" und auch nicht mit der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR sondern im Verlauf der 80er Jahre. Er umfaßt gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die den Spannungsbogen zwischen den Wahlerfolgen der Rechtsaußen-Parteien und der Gewalt von rechts erst möglich machen. Er ist gekennzeichnet
- durch die Herausbildung einer Bevölkerungsstruktur, die man als "eine schrumpfende, multikultlurelle und alternde Gesellschaft" bezeichnen kann (5). Trotz steigender Ausländeranteile von 1,2% (1961) auf 6,8% (1987) (6) sinkt die Gesamtbevölkerung. Vorausschätzungen - noch vor der Vereinigung 1990 - gehen davon aus, daß die Gesamtbevölkerung in den alten Bundesländern von 61,5 Millionen (1988) auf 43 Millionen (2030) zurückgehen wird (7), wobei der Anteil der Älteren zunimmt. Diese langfristige Entwicklung bedeutet, ohne daß dies in den öffentlichen Debatten sonderlich bekannt wäre, schon deshalb einen systemischen Zwang zur multikulturellen Gesellschaft, weil die Alterssicherungssysteme andernfalls zusammenbrechen würden. Bevölkerungspolitisch ist die Bundesrepublik seit langem schon keine homogene Gesellschaft mehr und sie wird es künftig auch nicht sein können. Die Zuwanderung von Ausländern - in welchem Status auch immer - bedeutet die Notwendigkeit, sich in der multikulturellen Gesellschaft einzurichten, ein Vorgang, der konflikthaft ist;
- durch das stetige Anwachsen der Politikdistanz bis hin zu anomischen Potentialen. Der empirisch vielfach nachgewiesene allgemeine und kontinuierliche Vertrauensverlust von Institutionen, Parteien, Großorganisationen und Groß-Ideologien führt in der Mehrheitsgesellschaft zu Skepsis, Abkehr und Distanz zum politischen System insgesamt. Längsschnitt-Untersuchungen über einen Zeitraum von zehn Jahren zeigen daß das Vertrauen in die Institutionen (Regierungen, Parlamente, Parteien, Gerichte Behörden) kontinuierlich abnimmt (8). Politikdistanz äußert sich in vielfältigen Formen. Die Kritik an den politischen Zuständen findet freilich keinen zentralen, dominierenden Anlaufpunkt. Sie hat sich pluralisiert in diffuse Verhaltensdimensionen: in privatistischen Rückzug aus den politischen Angelegenheiten, in Wahlenthaltung, Parteiaustritte, Protestwahlverhalten, Bereitschaft zu unkonventionellen Politikformen bis hin zu Gewaltakzeptanz. Besonders in den neuen, von Armut geprägten sozialen Unterklassen in den großstädtischen Problemzonen gibt es anomische, geradezu rechtsfreie Räume und wachsende "aggressive Apathie" (9). Die Spaltung der Gesellschaft in Besitzer von sicheren Arbeitsplätzen und überschaubaren Biographien in verläßlichen sozialen Milieus einerseits und an den Rand gedrängten Menschen mit unsicheren Berufsbiographien, prekären Arbeits- und Wohnverhältnissen andererseits hat soziale Ängste zur Folge, bei denen Zuwanderer, Ausländer und Asylbewerber als unliebsame Konkurrenten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt auftreten und als Sündenböcke fungieren;
- durch die Aufwertung traditioneller rechtskonservativer und rechtsextremer Politikinhalte zu aktuellen Streitfragen des politischen Diskurses. Volk und Nation, Schlüsselbegriffe der Gedankenwelt rechtsaußen, waren bis vor wenigen Jahren eher Thema von Sonntagsreden und konservativen Zirkeln, welche die geistig-moralische Wende einklagten, nicht aber Gegenstand aktueller politischer Streitfragen. Das hat sich mittlerweile durch eine Reihe von Entwicklungen verändert. Die Vereinigung beider deutscher Staaten, die Probleme bei der Nationenbildung in Osteuropa und die Wanderungsbewegungen nach Europa setzen den Diskurs über Volk und Nation auf die politische Agenda. Das Spezifikum dieser breiten Debatte nun besteht darin, daß es kaum noch um die partizipative Komponente des Volkes geht
- wie es in den Monaten vor und nach der Vereinigung 1990 den Anschein haben konnte -, sondern vielmehr um die ethnische und kulturelle Identität des Volkes: Fragen nach Abgrenzung zu den anderen Ethnien und Kulturen, zu Ausländern, Asylbewerbern usw. stehen auf der Tagesordnung. Dahinter verbirgt sich die Ideologie sozialer Integration: Wo das Deutsch-Sein wieder als Qualifikationsnachweis gilt, als Ab- und Ausgrenzungskriterium, wo "die Deutschen" und "das deutsche Volk" wieder als politische Akteure die Bühne der Weltpolitik betreten, wo "Volk" nicht als Staatsbürger-, sondern als Schicksalsgemeinschaft aufgefaßt wird, da ist kein Platz mehr für den sozialen Antagonismus und divergierende Interessen. Die Beschwörung der Nation, der großen "Gemeinschaft", dokumentiert nicht nur populistische Sehnsüchte nach Symbolen kollektiver Integration, mit der harmonistischen Gemeinschafts-Rhetorik werden "Wir-Identitäten " herbeigerufen, die quer liegen zu den bestehenden gesellschaftlichen Widersprüchen und die gezielt die gegensätzlichen Interessenstrukturen verwischen und unscharf machen sollen.

Die extreme Rechte verfügt seit langem über vor- und antidemokratische Deutungen und aktualisiert und mobilisiert sie jetzt in den Debatten über Asyl, Einwanderung, Ausländer-Begrenzung, innere Sicherheit, und sie findet eine relativ breite Zustimmung von Teilen der Bevölkerung zu den rechten und militanten Protestformen. Die ohnehin porösen Trennlinien zwischen Konservativen und Rechtsaußen werden durchlässiger, der politische Markt öffnet sich für rechtspopulistische Brückenparteien wie die "Republikaner" (10). Autoritäre und restriktive Begrenzungspolitik gegenüber Fremden und Zuwanderern ergreift mehr und mehr die Mitte der Gesellschaft. Solidarische, multi-ethnische Lebensentwürfe erstrecken sich allenfalls noch auf den unmittelbar zugänglüchen alltäglichen Erfahrungshorizont. Eine gesellschaftliche Perspektive einer breit akzeptierten und in die Praxis umgesetzten multikulturellen Gesellschaft gibt es kaum noch jenseits kosmopolitischer Orientierungen von Teilen der Eliten;
- durch die zuvor weit in unterschätzte erfolgreiche Restrukturierung bereits vorher vorhandener rechtsextremer Netzwerke (Parteien, Jugendgruppen etc.) (11). Organisierter Rechtsextremismus in der Bundesrepublik beschränkt sich keineswegs auf ein paar militante anpolitisierte Skinheads und einen kleinen Kreis ewiggestriger Unbelehrbarer. Ebensowenig ist der politisch agierende Rechtsextremismus erfaßt, wenn die hohen fremdenfeindlichen Einstellungen von sozial depravierten Jugendlichen betont werden (12) oder aber von Rassismus in Deutschland die Rede ist. Eine pädagogische Jugendforschung, die aus der Opfer-Perspektive diese Jugendlichen als Leidtragende betrachtet, übersieht den politischen Kern des Protests: Die hohen Jungwähler-Anteile (Infas zählt bei den bis 24jährigen im August 1992 24% in West-, 27% in Ostdeutschland zum Rechtsaußen-Wählerpotential (13)) reichen weit über diejenigen hinaus, die durch "streetwork" und Sozialarbeit erreichbar sind. An der überaus geschickten populistischen Strategie des modernen Rechtsextremismus scheinen zudem Gegenstrategien abzuprallen, die sich auf die historisch-politische Moral der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit beziehen.

So sehr ein Ansatz richtig ist, der die Entstehung des Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft verortet und nicht an den Rändern, so sehr muß auf die Dynamik eben dieser Ränder und Subkulturen gerade heute hingewiesen werden. Der organisierte Rechtsextremismus hat jahrzehntelange personale, publizistische und politisch-strategische Traditionen ausgebildet, die jetzt zur Triebfeder des Protests werden. Ein organisiertes, objektiv arbeitsteilig vorgehendes Netzwerk mit festen Infrastrukturen von rechts besetzt ideologisch (durch die Intellektuellen-Zirkel der "Neuen Rechten"), parteiförmig ("Republikaner", DVU) und aktionistisch-militant (Skins u.a.) das Thema "Ausländer" bzw. multikulturelle Gesellschaft und präsentiert wirkungsvoll Sündenböcke. Seit Jahren schon verspürt die Rechtsaußen-Szene erheblichen Rückenwind durch die Wahlerfolge von Rechts-Parteien in Westeuropa, vor allem des französischen Front National (14). Ungeachtet aller Wahlergebnisse ist dieses arbeitsteilig operierende Netzwerk der Motor der Ethnisierung der Politik, indem soziale Ungleichheit als Ungleichwertigkeit der Ethnien propagiert und entsprechende Konsequenzen eingefordert werden.
Politikdistanz, die Aktivierung des organisierten rechtsextremen Netzwerks und dessen Verbreiterung sowie das Übergreifen "rechter" Themen und Deutungen auf die Mitte der Gesellschaft bilden einen Zusammenhang. Es sind mindestens zwei recht untergründige, aber doch sichtbare Prozesse, die ihn ursächlich herausgebildet haben. Vor diesem Hintergrund möchte ich zwei Thesen vertreten:

1. These
Die vorgenannten Entwicklungen sind Ausdrucksformen und Symptome für einen weithin unterschätzten soziokulturellen Umbruch, dessen tatsächliche Ausmaße noch kaum absehbar sind. Wir erleben den Beginn einer historischen, keineswegs kurzlebigen Phase, in der soziale Konflikte und soziale Ungleichheiten überlagert werden durch Bilder von der ethnischen Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Menschen. "Ethnisierung" ist dabei ein offener, prozeßhafter Begriff. Mit ihm ist gemeint, daß Sozialbeziehungen auf der Deutungsebene sowohl objektiv, hinter dem Rücken der Subjekte, wie auch intentional das Element ethnischer Etikettierung gleichsam angefügt wird. "Ethnisierung" meint einen sozialen Prozeß, in dem das Anders-Sein des individuellen oder kollektiven Gegenübers eine zunehmend stärkere Rolle spielt. Der antiliberale und antidemokratische Aspekt dieses komplizierten Vorgangs folgt aus der abwertenden, herabsetzenden, die eigene Bezugsgruppe überhöhenden ethnischen Etikettierung.
Sowohl "von unten", in den Alltagserfahrvngen und -orientierungen wie auch "von oben", aus der Perspektive der politischen Akteure, sind sozialstrukturell, klassen- und milieuspezifisch definierte Probleme und Interessenlagen mittlerweile überlagert durch ethnische Deutungsmuster. Ethnische Herkunft, Selbst-Zuordnung und Zugeordnet-Werden bestimmen mehr und mehr den gesellschaftlichen Status und das Ausmaß an sozialen, kulturellen und materiellen Gratifikationsmöglichkeiten. Nicht mehr nur soziale Herkunft und Elternhaus sind heute mitentscheidend für die erreichbaren Lebenschancen, sondern auch ethnische, nationale Herkunft. In den Schulen, am Arbeitsplatz und in der Freizeit erzwingt die Verhaltensskala von Sympathie und Solidarität bis hin zu Ablehnung und Ausgrenzung der und des Fremden einen permanenten Reflexionsprozeß auf die eigene Identität, auf die Zugehörigkeit zu einer ethnisch definierten Gruppe.
Was im Alltag den Menschen abverlangt wird - friedliches, kooperationsbereites Verhalten - wird auf der Systemebene keineswegs fortgeführt: Hier überwiegt der Bedrohungsaspekt und der Gedanke der Abschottung gegenüber Ethnien, die als Störfaktoren für das innere Ordnungsgefüge von Staat und Gesellschaft betrachtet werden (15). In der Asyldebatte kommt dies am klarsten zum Ausdruck. Was beide, Mikro- und Makroebene miteinander verbindet, ist der heimliche Konsens über die "Festung Europa", die Verteidigung materieller und formal-rechtlicher Privilegien gegen die Geltungsansprüche von Zuwanderern und Nicht-Einheimischen.
Doch die Konfliktstrukturen zwischen den Ethnien basieren nur zum geringeren Teil auf kulturellen Reibungsflächen oder disharmonischen Lebensgewohnheiten. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich innerhalb der Bundesrepublik, zwischen West- und Ostdeutschland, zwischen Deutschland und Osteuropa und den Dritte-Welt-Ländern ist im Kern soziale Ungleichheit, die auf der Ungleichverteilung von Lebenschancen, materiellen und immateriellen Gütern, Bildungschancen und Statuszuweisungen basiert (16). Ursächlich ist also nicht einfach der Mangel an Ressourcen (Arbeit, Wohnungen, Grundnahrungsmittel etc.) in rein quantitativer Hinsicht, sondern ihre ungleiche und ungerechte Verteilung. Das hat tiefgreifende, nicht zuletzt ökonomische und finanzpolitische Ursachen, deren Aufhebung wenn überhaupt, so ein zählebiges, schwieriges Unterfangen ist, weil es um strukturelle Veränderungen geht - zum Beispiel darum, den skandalösen Zustand aufzuheben, daß die Dritte-Welt-Länder mehr an Zinsen an deutsche Banken abführen als sie als Entwicklungshilfe bekommen. Eine gerechte Weltwirtschaftsordnung ist in weiter Ferne. Selbst vor dem unumkehrbaren Faktum weltweiter Armutsmigration in den kommenden Jahrzehnten, das gravierende soziale Folgeprobleme, eben auch fortschreitende Ethnisierungen des Politischen und des Sozialen mit sich bringen wird (17), verschließen nicht wenige politische Akteure die Augen.
Die Mehrzahl der politischen Meinungsführer hierzulande hat es zugelassen, geduldet oder sogar aus wahltaktischen Überlegungen heraus forciert, daß diese Zusammenhänge als Ursachen der weltweiten sozialen und regionalen Ungleichheit und der fremdenfeindlichen Protest-Stimmungen nicht in den Blick kommen und daß langfristige Veränderungen der Bevölkerungsstruktur und der Zwang zur multikulturellen Gesellschaft kaum diskutiert werden - kein Thema, um Wahlen zu gewinnen. Statt dessen aber wird von Politikern im Spannungsbogen zwischen Duldung und aktivem Vorantreiben - in der Aufwertung der Asylproblematik zur Überlebensfrage des deutschen Volkes - und erst recht von der sich formierenden rechten Protestbewegung die als solche unaufhebbare ethnisch-kulturelle Ungleichheit entweder wider besseres Wissen oder in ideologischer Verblendung sowohl als Ursache für die Misere benannt wie auch zum Programm für die Zukunft erklärt. Wenn dem Publikum in Aussicht gestellt wird, weniger Asylbewerber seien gleichbedeutend mit besseren Lebenschancen für alle, so ist dies nicht nur ein fataler Irrtum, sondern ein gefährlicher Verweis auf eine bestimmte soziale und ethnisch definierte Gruppe als Verursacher sozialer Krisen. Derartige Ethnisierung der Politik betrifft, wie die Asyldebatte zeigt, nicht nur den Kreis der Asylbewerber. Die Folgen sind für alle hier lebenden, politisch ohnehin entrechteten Ausländer spürbar. Sie finden sich in der Rolle, (noch) geduldet zu sein und gegenüber Deutschen erst nachrangig soziale und politische Teilhaberechte anmelden zu dürfen. Nach einem veränderten Asylrecht wird eine weitere Gruppe zu ihnen gehören, die ungeschützter ökonomischer Ausbeutung und gesellschaftlicher Ächtung ausgesetzt sein wird: Zehntausende von "Illegalen".
Die Ethnisierung des Politischen geht an den tiefer liegenden strukturellen Ursachen der sozialen Ungleichheit vorbei. Die Ethnisierung sozialer Konflikte führt längerfristig mit Notwendigkeit zu verschärften konkurrenten Sozialbeziehungen der Ethnien, zu sozialen Spannungen, gewalttätigen Ausbrüchen und zur faktischen Außerkraftsetzung von Grundrechten wie im Artikel 3 GG ("Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden."). Der dauerdiskutierte Artikel 16 (mittlerweile im Wesenskern abgeschafft durch den sog. Asylkompromiß MB) steht zur Disposition, obwohl seine Erweiterung oder sogar Abschaffung nichts anderes bringen wird als den Abbau von Demokratie und das sprunghafte Anwachsen der "Illegalen". Daß Artikel 3 längst schon außer Kraft gesetzt zu sein scheint, wird kaum bemerkt, besser noch: es wird hingenommen (18). Das Amt der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung wird von dieser permanent mißachtet. Mit dem Abbröckeln des demokratischen Gleichheitsgedankens, wie er in Artikel 3 zum Ausdruck kommt und wie er beispielsweise im Amt der Ausländerbeauftragten institutionalisiert ist, steht aber ein wichtiges Stück Demokratie zur Disposition.

2. These
Verschärft wird der Umbruch, die Ethnisierung sozialer Konflikte, durch die Formierung des Protests von rechts als soziale Bewegung. Wir haben es heute nicht mehr, wie noch bis in die 80er Jahre, mit einer politischen Subkultur von Außenseitern und Ewiggestrigen zu tun, die auf breite Ablehnung in der Mehrheitsgesellschaft stößt und in ihrem abgeschotteten politisch-sozialen Milieu verbleibt. Weder die Rechtsaußen-Parteien noch die gewalttätigen Aktionen zwischen Hoyerswerda und Rostock sind mit Beispielen aus der Geschichte der Bundesrepublik vergleichbar. Die "antisemitische Schmierwelle" vom Dezember 1959 bis Ende Januar 1960 fand, wenn überhaupt, den Beifall der Unbelehrbaren nur im privaten Bereich, nicht öffentlich. Die NPD-Erfolge Ende der 60er Jahre basierten auf jenem abgrenzbaren Teil der Wählerschaft, der mental und biographisch auf Restbestände des Nationalsozialismus zurückgreifen konnte (19). Heute jedoch sind die Rechtsaußen "cross-class-parties", sie schöpfen besonders bei den Jungwählern Stimmen, die sich nicht an vergangenen Zeiten orientieren, sondern an den sozialen Verwerfungen des Alltags hier und jetzt.
Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, daß nach der Studentenbewegung der 60er, der Friedens- und Ökologiebewegung der 70er und den "neuen sozialen Bewegungen" der 80er Jahre nun eine neue, von ihren Zielen her gänzlich andersartige, nun von rechts kommende soziale Bewegung ihren Anfang nimmt (20). Diese Anzeichen sind:
- ein populistisches Aufgreifen von Alltagsinteressen und eine weithin akzeptierte Thematik (Ausländer, innere Sicherheit, nationale Identität);
- die Existenz mehrerer rechtsintellektueller Gruppierungen außerhalb der Universitäten, die Impulse der Weimarer "Konservativen Revolution", geistesgeschichtliche Traditionen zwischen Carl Schmitt, Moeller van den Bruck und Ernst Jünger zum Programm erhebt;
- eine partielle, bisweilen terroristische Militanz am Rande (nicht im Zentrum!) der Bewegung;
- eine beachtliche Breitenwirksamkeit, die in der Lage ist, die politische Klasse in die argumentative Defensive zu drängen;
- dezentrale Strukturen;
- die Selbststilisierung als einzig wahre Opposition;
- ein "linker" Gegner, dessen Kräfte in jeder Hinsicht historisch erschöpft erscheinen;
- eine vergleichsweise breite, aktivistische Beteiligung von Jugendlichen;
- eine irrationale, dem vernünftigen Diskurs kaum zugängliche politische Religiosität, Botschaft statt Programm;
- internationaler, zumindest europaweiter Gleichklang mit ähnlich strukturierten sozialen Bewegungen (z.B. Front National). Rechtsextremismus als soziale Protestbewegung entsteht nicht zufällig gerade jetzt. Mit dem vielfach verkündeten "Ende der Nachkriegszeit" haben, die Konservativen voran, nicht wenige das Ende der Bescheidenheit verbunden. Jetzt gelte es, unbelastet von historisch-moralischen Rücksichten das Gewicht Deutschlands in der Welt wieder angemessen zur Geltung zu bringen. Doch mit solchen Perspektiven werden in Deutschland die Geister herbeigerufen, derer man sich lange schon entledigt wähnte.
Bis in die 80er Jahre konnte davon ausgegangen werden, daß eine politische Bewegung, die in wie immer gebrochener Tradition des Rechtsextremismus der 20er und 30er Jahre steht, in Deutschland keine ernsthaften Chancen haben könnte. Der Schatten der Vergangenheit erschien Garant dafür, daß politische Perspektiven in dieser Tradition fortan der Ächtung anheimfallen würden. Der von vornherein keineswegs stabile Grundkonsens über die historischen Verpflichtungen und normativen Folg en nach Auschwitz ist aber inzwischen zerbrochen. "Der Konsens darüber", so Wolfgang Benz, "daß man den Nationalsozialismus im öffentlichen Bewußtsein halten müsse und die von den Politikern jahrzehntelang deklamierte Übereinstimmung, daß die Erinnerung an den Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis bewahrt bleiben müsse, um seine Wiederholung zu vermeiden - dieser Konsens ging verloren." (21) Der zeitliche Abstand der Nachfolge-Generationen zum Erfahrungshorizont der direkt betroffenen Generationen ist gewachsen. Damit entfällt ein lebensgeschichtlicher Zusammenhang, welcher aller Aufarbeitung der Vergangenheit immer auch die Impulse konkreter Erfahrung verliehen hat. Die konservative Fraktion im "Historikerstreit" hat historischen Revisionismus gesellschaftsfähig gemacht, und die ohnehin eher im Verborgenen schlummernde Auffassung, es müsse jetzt Schluß sein mit einseitiger Schuldzuweisung und Aufarbeitung der Vergangenheit überhaupt, ist mehrheitsfähig geworden (22). Es schwinden die politisch-moralischen Hemmschwellen nach rechts, in der politischen Kultur der Bundesrepublik trifft eine rechtsextreme politische Alternative nicht mehr auf ein kollektives Gedächtnis, das rechtsradikales Denken wie selbstverständlich zurückweist. Für das Gebiet der ehemaligen DDR scheint der vierzig Jahre lang rituell verordnete starre Antifaschismus von oben eher kontraproduktive Folgen nach sich zu ziehen (23). Die historisch wohlbegründeten Hemmnisse für eine soziale Bewegung von rechts sind, so scheint es, faktisch ausgeräumt.
Sollte sich die Annahme bestätigen, daß es sich um den Anfang einer sozialen Bewegung handelt, so werden Konzessionen, etwa in der Asylfrage, die Dynamik der Bewegung nicht bremsen, sondern eher vorantreiben. Die bevorstehende Änderung des Asylrechts ist auch ein sichtbarer und folgenreicher Erfolg des Protests von rechts. Aus umfangreichen Untersuchungen über Entstehung und Verlauf sozialer Bewegungen wissen wir, daß deren Ende in aller Regel gegeben ist mit ihrer Institutionalisierung im politischen System (24). Das war bei der Studentenbewegung so und das ist bei den Grünen nicht anders. Eine wie immer geartete, über die Änderung des Asylrechts hinausgehende Institutionalisierung des gegenwärtigen Protests von rechts hätte allerdings fatale, demokratiegefährdende Folgewirkungen.
In Frankreich steht der Front National an der Spitze derer, die ein Einwanderungsgesetz fordern - allerdings als Rückführungsgesetz (25). Das bedeutet: Konzessionen werden zu noch radikaleren Forderungen von rechts führen, die das demokratische Fundament ernsthaft gefährden können, langfristig aber tatsächlich zu einer anderen Republik führen, in der lange Zeit breit akzeptierte Werte der 68er Revolte (Liberalität, Toleranz, Demokratisierung/ Partizipation, "postmaterielle Werte") nicht mehr gelten bzw. eine ganz andere Dimension annehmen.

Folgerungen
Die alten Formen des Umgangs mit rechtsextremen Strömungen verlieren angesichts dieser Entwicklungen an Überzeugungskraft. Ignorieren, Verharmlosen, Dramatisierungen (= Deutungsebenen), politische Justiz (= Repressionsebene), Aufklärung (= pädagogische Ebene) sowie betont zelebrierte multikulturelle "Ausländerfreundlichkeit" oder Antifaschismus/Antirassismus alten, verbrauchten Stils (= ideologische Ebenen) werden an der Struktur des rechten Protests und den grundlegenden Ursachen nicht viel ändern. Und zwar schon deshalb nicht, weil der Umgang mit politischen Außenseitern hierzulande in hohem Maße ritualisiert ist (26). Es bedarf kaum der Erwähnung, daß der Protest als Gegenstand eines inszenierten, massenmedial zurechtgeschliffenen Spektakels, und mag er noch so moralisch daherkommen, an Attraktivität nur noch zunehmen wird.
Es kann keine fertigen Antworten auf die angesprochenen Probleme geben. Zumal auch deshalb nicht, weil die Ethnisierung des Politischen weit über Deutschland hinausreicht und ein europäisches Problem ist: Im ehemaligen Jugoslawien wird ein Krieg mit dem Ziel der "ethnischen Säuberung" geführt (27). Die Ethnisierung des Politischen und der sozialen Konflikte zielt auf weniger Demokratie. Sie zielt auf Polarisierung und Konflikte neuen Typs: Verteilungskonflikte werden "verkehrt herum" ausgetragen als Rivalität ethnischer Gruppen um den bevorrechteten Zugang zu sozialen und kulturellen staatlichen Leistungen, letztlich um die politische und soziale Hegemonie. Quer zu den bestehenden organisierten Interessenvertretungen der Verbände entstehen ethnisch definierte Interessengruppen der Ausländer in Deutschland. Ihr Gegenüber ist das Kollektiv "der" Deutschen, die sich selbst in nicht zu unterschätzender Größenordnung als solches gegenüber den Ausländern verstehen.
Die Ethnisierung ist nicht zuletzt eine politisch-geistige Strömung, die sich in den Köpfen festsetzt. Notwendig erscheint mir auf den Ebenen der Politik, der Pädagogik, der Publizistik sowohl eine Politik der kleinen Schritte wie auch ein "geistig-politisches" Umdenken, das mindestens folgende Aspekte berücksichtigt:
- Die Ethnisierung des Politischen und des Sozialen ist ein an sich offener Prozeß. Es wird sie geben, solange es Migration gibt. Sie kann, wie die Debatten über die multikulturelle Gesellschaft und den Multikulturalismus zeigen, durchaus demokratiefördernde Konzeptionen und Projekte nach sich ziehen. Sie kann aber auch, zumal in einer Gesellschaft, in deren jüngerer Geschichte der Rassenwahn Staatsziel war, sehr wohl regressive, demokratiegefährdende Folgen mit sich bringen. Der Ethnisierung sozialer Ungleichheit muß auf allen Ebenen dadurch entgegengetreten werden, daß die ökonomisch-weltwirtschaftlichen Grundstrukturen, national wie international, wieder sicht bar werden. Das heißt zunächst nichts anderes als die Anerkennung von Tatsachen wie die bestehende Ausbeutung der Dritten Welt und die humanpolitischen Folgen für die Industrieländer. Es fehlt an einem geistig-politischen Klima, das Armutswanderungen als zwangsläufige Folge der Konsumstile der Industrieländer anerkennt. Es fehlt an einem geistig-politischen Klima, das den Kampf um Wohnungen und Arbeitsplätze als Verteilungskampf mit strukturellen Ursachen anerkennt, in dem die Widersprüchlichkeiten von Wohnungs- und Arbeitsmarkt die entscheidenden Bestimmungsgrößen sind, nicht aber Hautfarbe und Herkunft. Armutswanderungen sind nicht Ursachen der Misere, sondern Folgewirkungen regionaler sozialer Ungleichheit im Weltmaßstab. Es fehlt an einem geistig-politischen Klima, in dem Armutswanderungen als Folgeerscheinung von weltwirtschaftlich bedingten Ausbeutungsverhältnissen gesehen werden. Ein quotenorientiertes Zuwanderungsgesetz, das Einwandererströme reguliert, wird kaum die Grundprobleme lösen, es wäre aber ein Beitrag zur Ent-Stigmatisierung der Wanderungsbewegungen.
- Die Ethnisierung des Sozialen und des Politischen ist ein höchst ambivalenter Prozeß. In ihm verborgen stecken Freund-Feind-Bilder und Gewaltpotentiale. Die Kehrseite freilich ist das in der Ethnisierung immer auch enthaltene Pochen auf die Autonomie, das Eigene, das Widerborstige und das sich Nicht-Beugen wollende Moment ethnischer Identität. Das Leugnen ethnisch-kultureller Autonomie, das Verkennen des Fremden und die totale Integration können daher kein Ausweg sein. Es bedarf, zumal angesichts klar erkennbarer Individualisierungsschübe und der Auflösung traditioneller Milieus, einer breiten Debatte darüber, was "Gemeinschaft", nationale und regionale Identität heute unter Voraussetzungen nicht aufhebbarer ethnischer Vielfalt bedeuten können. Es gilt Abschied zu nehmen von der Vorstellung einer ethnisch homogenen Gesellschaft. In Abkehr von der Konzentration auf die traditionellen Sozialmilieus verdienen künftig die vielerlei "Gemeinschaften", Nachbarschaftsbeziehungen, Arbeits- und Freizeitbeziehungen, lokale Identitäten etc. mehr Aufmerksamkeit. Ihre identitätsstiftende Bedeutung ist größer als vielfach angenommen.
Das Bedürfnis nach "Gemeinschaft" wächst, der Gegensatz von "Gesellschaft" und "Gemeinschaft" (Tönnies) scheint noch gar nicht voll entfaltet (28). Nicht zuletzt davon profitieren die Rechtsaußen-Parteien. Hinter ihren politischen Botschaften steht immer auch das Versprechen, die guten alten Zeiten wiederherzustellen. Es trifft auf Sehnsüchte nach der überschaubaren, "heilen" Welt in einer Zeit, wo eben nicht nur pluralisierte Lebensstile nebeneinanderher existieren, sondern eher noch mentale kollektive "Ungleichzeitigkeiten", wie sie Bloch beschrieben hat (29), eine antimodernistische und antidemokratische soziale Basis für rechtspopulistische Strömungen bilden. Sind traditionelle Gemeinschaftsformen in der alten Bundesrepublik einer langandauernden, schleichenden Erosion unterworfen, so ähneln die Entwicklungen in den neuen Bundesländern eher einem abrupten Wegfall sozialer Infrastrukturen, ohne daß die Gesellschaft darauf in irgendeiner Weise vorbereitet wäre. Das bloße Versprechen auf bessere Zeiten und die sich ausbreitenden Strukturen einer frühkapitalistischen Eroberungsmentalität, in der sich die Gesetze des Marktes, behindert allenfalls durch eine träge Verwaltung, ungehindert austoben können, produziert einen spezifischen Modernisierungsschock, wo rechte Gemeinschafts-Ideologien, die von völkischer Homogenität ausgehen, auf vielfältige Resonanz, zumal bei Jugendlichen, stoßen.
Doch die Protestbereitschaft von rechts ist in den alten Bundesländern, gemessen an der Zahl der Gewalttaten, größer als im Osten. In breiter werdenden Bevölkerungsteilen ist eine "negative Individualisierung" spürbar: Nicht Freiheit von Bindungen und Zwängen, mehr individuelle Lebenschancen nach Gesichtspunkten der Vernunft, sondern Orientierungsarmut unter Bedingungen von mitleidsloser Konkurrenz, Verteilungs-Ungerechtigkeit und sozialer Diskriminierung sind hier die Muster politischer Sozialisation. Der zumal in den Städten sichtbare Gegensatz von "neuer Armut" und "neuem Reichtum" und die soziale Ost-/West-Spaltung potenziert die Ohnmacht der Verlierer. Der Haß auf die Fremden, Gewaltbereitschaft und die Überidentifikation mit der Nation sind Ersatzreligionen und -identitäten in dem Augenblick, wo naturwüchsige "Vergemeinschaftung" nicht mehr stattfindet. Beides, geistig-politisches Gegensteuern und das Experimentieren mit neuen Gemeinschaftsformen - im Wohnungsbau, in deutsch-ausländischen Arbeits- und Freizeitbeziehungen, bei lokalen Projekten, in der Jugendarbeit usw. - ist kurzfristig nicht zu haben. Langfristig wird daran kein Weg vorbeiführen, wenn die multi-ethnische Gesellschaft nicht als Bedrohung, sondern als Realität und als Chance begriffen werden soll.

1) Wir leben in der Bundesrepublik in einer multikulturellen Gesellschaft, "epd-Dokumentation" Nr. 48 Frankfurt, Oktober 1980.
2) Vgl. "Innere Sicherheit", 3/1992, S. 1 ff.
3) Interview mit dem Hamburger Verfassungsschutzpräsidenten Ernst Uhrlau, in: "Der Spiegel", 38/1992 S. 30 ff.
4) Vgl. die wohlbegrundete Polemik gegen die "Rassismus" - bzw. "Antirassismus" -Debatte bei Jochen Blaschke, Ethnizität und Migration - Wissenschaft und Politik vor einem internationalen Problem, in: "Gewerkschaftliche Monatshefte", 2/1992, S. 90-98.
5) Stefan Hradil, Epochaler Umbruch oder ganz normaler Wandel? Wie weit reichen die neueren Veränderungen der Sozialstruktur der Bundesrepublik?, in: Umbrüche in der Industriegesellschaft, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1990 (= Schriftenreihe Bd. 284), S. 73-100, hier S. 80.
6) Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1989, Bonn 1990, S. 47; vgl. auch die zahlreiche Daten enthaltende Einführung von Detlef Bischoff/Werner Teubner, Zwischen Einbürgerung und Rückkehr. Ausländerpolitik und Ausländerrecht der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1990.
7) Statistisches Bundesamt, a.a.O., S. 51.
8) Vgl, die Schaubilder über die Entwicklung von Demokratiezufriedenheit, Institutionenvertrauen und Einstellungen zur Politik zwischen 1980 und 1991, in: Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung, Interne Studien Nr. 34/1992, S. 7 ff.
9) Vgl. die Hinweise zu längerfristigen Entwicklungen bei Bettina Westle, Einstellungen zu den politischen Parteien und der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland, in: Rudolf Wassermann, Volksparteien - Ratlose Riesen? Baden-Baden 1989, S. 223-239, und bei Karl Starzacher u.a. (Hrsg.), Protestwähler und Wahlverweigerer, Köln 1992.
10) Vgl. Hans-Gerd Jaschke, Die "Republikaner". Profile einer Rechtsaußen-Partei, Bonn 2 1993.
11) Richard Stöss, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik. Entwicklung, Ursachen, Gegenmaßnahmen, Opladen 1989.
12) Vgl. dazu vor allem die Arbeiten von Wilhelm Heitmeyer, zuletzt erschienen: Wilhelm Heitmeyer u.a., Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie, Weinheim/München 1992.
13) Ursula Feist, Wer wählt die rechtsradikalen Parteien? (= Arbeitspapier zum 2. Forum der Deutschen Postgewerkschaft gegen Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhaß, 29./30.8.1992, Chemnitz).
14) Dazu: Dietmar M. Loch, Der schnelle Aufstieg des Front Natioal. Rechtsextremismus im Frankreich der 90er Jahre, München 1990; Michel Hastings, Der Diskurs Jean-Marie Le Pens und seines Front National, in: Christoph Butterwegge/Siegfried Jäger (Hrsg.), Rassismus in Europa, Köln 1992, S. 105-118.
15) Vgl. dazu die erhellenden Hinweise bei Dieter Oberndörfer, Die offene Republik. Zur Zukunft Deutschlands und Europas, Freiburg/Basel/Wien 1991.
16) Zahlreiche empirische Nachweise dazu in: Dieter Nohlen/Franz Nuscheler (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt. Grundprobleme, Theorien, Strategien, Bonn 1992. Vgl. auch Franz Nuscheler, Arbeitsmigranten und Müchtlinge: "Neue Heloten" und "Treibgut der Weltpolitik", in: "Gewerkschaftliche Monatshefte", 2/1992, S. 81- 89.
17) Vgl. Stephen Castles, Verunsicherte Bevölkerung, Migranten und wachsender Rassismus. Massenhafte Wanderungsbewegungen erfassen die gesamte Welt, in: "Frankfurter Rundschau", 12.10.1992 S. 12. Einen historischen Überblick gibt Peter J. Opitz, Das Weltflüchtlingsproblem im 20. Jahrhundert, in: "Aus Politik und Zeit- geschichte", B 26/1987, S. 25-39; vgl. auch Beate Winkler (Hrsg.), Zukunftsangst Einwanderung, München 1992 und Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland. Hintergründe, Fakten, Positionen, hrsg. vom Informations-, Dokumentations- und Aktionszentrum gegen Ausländerfeindlichkeit, Düsseldorf 1992.
18) Zur Bedeutung des Artikel 3 GG vgl. Oberndörfer, Die Entwicklung einer multiethnischen Gesellschaft, in: ders., Die offene Republik, a.a.O., S. 86 ff.
19) Vgl. daxu Peter Dudek/Hans-Gerd Jaschke, Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik (2 Bde.), Opladen 1984.
20) Beim Begriff der "sozialen Bewegung" folge ich vor allem dem sehr weiten Begriffsverständnis bei Otthein Rammstedt, Soziale Bewegung, Frankfurt 1978, und Karl-Werner Brandt/Detlef Büsser/Dieter Rucht, Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt/New York 1983, dort vor allem den Exkurs über "soziale Bewegung", S. 35 ff.
21) Wolfgang Benz, Der Nationalsozialismus als Problem der politischen Kultur der Bundesrepublik, in: Irma Hanke/Hannemor Keidel (Hrsg.), Unruhe ist die erste Bürgerpflicht, Baden-Baden 1988, S. 55-74, hier S. 65 f.
22) Zum Historikerstreit vgl. meine Überlegungen, in: Streitbare Demokratie und Innere Sicherheit, Opladen 1991, S. 277 ff.
23) Karl-Heinz Heinemann/Wilfried Schubarth (Hrsg.), Der antifaschistsche Staat entläßt seine Kinder, Köln 1992; Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern. Beiträge zur Diskussion, hg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 1992, Vgl. auch die auf sieben Ausgaben konzipierte Schriftenreihe "Hefte zum Rechtsextremismus", hg. v. Berlin-Brandenburger Bildungswerk, Berlin 1992.
24) Rammstedt beschreibt den typischen Ablauf sozialer Bewegungen als "1. Propagierung von Krisenfolgen; 2. Artikulation des Protests; 3. Intensivierung des Protests; 4. Artikulation der Ideologie; 5. Ausbreitung der sozialen Bewegung; 6. Organisierung und 7. Insbtutionalisierung", vgl. Rammstedt, Soziale Bewegung, a.a,O., S. 138.
25) Jean-Marie Le Pen und die Front National, hg. vom Germania-Verlag, Weinheim 1992.
26) Vgl. Jaschke, Streitbare Demokratie, a.a.O.
27) Der wiedererstarkende europäische Nationalismus nach dem Zusammenbruch der europäischen Nachkriegsordnung scheint nur die kollektive, Nationen-zentrierte Kehrseite der Ethnisierung. Wir können diesem Zusammenhang hier nicht näher nachgehen. Vgl. zur neueren Diskussion: Alain Minc, Die Wiedergeburt des Nationalismus in Europa, Hamburg 1992.
28) Ein nicht unbedeutender Nebenaspekt ist die in den 80er Jahren wieder auflebende Debatte um den Begriff "Heimat", auf die wir hier nicht eingehen können, vgl. dazu den umfangreichen Reader Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung (= Schriftenreihe Bd. 294/I), Bonn 1990.
29) Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Neuausgabe Frankfurt 1962, S. 104 ff.

aus: Blätter für d. und internationale Politik 12/92

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Most recent revision: April 07, 1998

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