FORMIERT SICH EINE NEUE SOZIALE BEWEGUNG VON RECHTS?
Folgen der Ethnisierung sozialer Konflikte
Von Hans-Gerd Jaschke
Die Geschichte der Ausländer in Deutschland nach 1945 ist eine Geschichte der
Integration und der Ausgrenzung, eine Geschichte der Diskriminierung und der Assimilierung.
Seit der Zuwanderung von angeworbenen Gastarbeitern in den 60er Jahren und der späteren
Ausdifferenzierung der Ausländerbevölkerung in Gastarbeiter und Einwanderer
verschiedener Generationen, Flüchtlinge und Asylbewerber ist eine konfliktreiche
Vielfalt von ethnisch-kulturellen Lebensformen neben und unterhalb der hegemonialen,
real existierenden deutschen Kultur entstanden. Es waren und sind vor allem Teile
der Kirchen und der Gewerkschaften, die eine offensive Politik der Ausländer-Integration
betreiben und aus verschiedenen Gründen die Bundesrepublik als Einwanderungsland
betrachten. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche betonte schon im Jahr 1980:
"Wir leben in der Bundesrepublik in einer multikulturellen Gesellschaft."
(1)
Fragen des Zusammenlebens von Deutschen und Ausländern sind im Hinblick auf
die Geschichte der alten Bundesländer nicht neu. Anders ist es in den neuen
Bundesländern. Hier mangelt es an Erfahrungen und an Konfliktgeschichten mit
ausländischer Wohnbevölkerung. Die Ideologie der "Völkerfreundschaft"
bietet dafür keinen Ersatz. Es fehlt aber auch nicht an der in Westdeutschland
lange schon vorhandenen, im Osten sich entwickelnden Gegenmacht offen ethnozentristischer,
fremdenfeindlicher Stimmungen und Aktionsformen in der Gesellschaft. Das ist keineswegs
ungewöhnlich: Fremdenfeindlichkeit, Ethnozentrismus und die Diskriminierung
von Minderheiten gehören zur "Normalität" hochentwickelter kapitalistischer
Gesellschaften. Seit Beginn der 90er Jahre allerdings wächst die fremdenfeindlich
motivierte Gewaltbereitschaft in einem den "gewöhnlichen Rassismus"
übersteigenden Ausmaß.
1991 verzeichnen die Sicherheitsbehörden knapp 1500 Gewalttaten gegen Ausländer,
fünfmal mehr als im Jahr zuvor (2). Im Jahr 1992
wurden bis September 970 Gewalttaten von rechts verübt, 700 Verletzte und zehn
Tote waren die Folge (3). Fremdenfeindliche Ausschreitungen
- vom Pogrom von Hoyerswerda im Herbst 1991, als eine Handvoll radikaler und militanter
Skinheads, beifällig begleitet von Teilen der Bevölkerung, die Stadt "ausländerfrei"
machte, bis hin zu den Rostocker Krawallen im August 1992 - stehen für eine
politische Klimaveränderung: Gewalt gegen Andersartige, Ausländer, Nicht-Dazugehörige
in Worten und Taten verbleibt nicht mehr im Tabu privater Mentalitäten, sie
schafft sich öffentliche Räume, tritt unverblümt nach außen
und veranlaßt Politiker, den populistischen fremdenfeindlichen Stimmungen
nachzugeben.
Dieses Szenario provoziert, zumal angesichts ungeklärter Probleme der deutsch-deutschen
Vereinigung, Fragen nach der Struktur und der künftigen Richtung der fremdenfeindlichen
Stimmungen. Über die Ursachen, die Folgen und längerfristigen Konsequenzen
nach den Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein
im Frühjahr 1992 gibt es derzeit wenig Klarheit, obwohl auf dem Markt der wissenschaftlichen
und publizistischen Gewißheiten und Rezepturen Hochkonjunktur herrscht. Dramatisierende
Positionen beklagen den zunehmenden "Rassismus" sowohl in der Gesellschaft
als auch bei den politischen Institutionen und ihren Akteuren (4),
verharmlosende verweisen darauf, es handele sich bei den Steinewerfern um irregeleitete,
unpolitische jugendliche Krawallmacher, die nicht repräsentativ seien für
die Mehrheit der Bevölkerung. Die sozialen Verwerfungen nach der Vereinigung
werden ebenso ins Feld geführt wie die demokratische Unreife der ehemaligen
DDR-Bürger und besonders der Jugendlichen. Rechtsextremismus und rassistische
Konflikte seien, so andere Meinungen, aber auch nach wie vor als Normalität
westlich-kapitalistischer Gesellschaften zu sehen - siehe das Beispiel USA. Doch
ist der ethnische und rassische Separatismus in einem traditionellen "melting
pot" vergleichbar mit einem europäischen Nationalstaat, der sich über
lange Zeit keineswegs als Einwanderungsgebiet verstanden hat und dessen östlicher
Teil über vier Jahrzehnte praktisch abgeschottet war gegenüber dem Ausland?
Die einen beklagen den Ansehensverlust im Ausland einschließlich negativer
Auswirkungen für den Außenhandel und das Investitionsklima in den neuen
Bundesländern, die anderen sehen in verstärkter Polizeipräsenz und
schärferen Gesetzen ein wirkungsvolles Gegenmittel. In der Änderung des
Asylrechts schließen sich möglicherweise die "Altparteien"
zur großen Koalition zusammen. Doch damit wird man den zugrundeliegenden Problemen
kaum beikommen können.
Angesichts der Vielzahl möglicher Deutungen scheint eine Vergewisserung darüber
nützlich, was eigentlich zwischen "Hoyerswerda" und "Rostock"
passiert ist und wofür die gewalttätigen Ereignisse stehen. Die Ereignisse
seit den "Republikaner" -Wahlerfolgen im ersten Halbjahr 1989 und Anfang
1992 (Landtagswahl Baden-Württemberg, Bezirkswahlen in Berlin) sowie den militanten
Aktionen gegen Asylbewerberheime (Hoyerswerda, Rostock usw.) müssen als Teile
ein und desselben soziokulturellen Zusammenhangs gesehen werden. Er entstand nicht
mit den " Republikanern", nicht mit "Hoyerswerda" und auch nicht
mit der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR sondern im Verlauf der 80er Jahre.
Er umfaßt gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die den Spannungsbogen zwischen
den Wahlerfolgen der Rechtsaußen-Parteien und der Gewalt von rechts erst möglich
machen. Er ist gekennzeichnet
- durch die Herausbildung einer Bevölkerungsstruktur, die man als
"eine schrumpfende, multikultlurelle und alternde Gesellschaft" bezeichnen
kann (5). Trotz steigender Ausländeranteile von
1,2% (1961) auf 6,8% (1987) (6) sinkt die Gesamtbevölkerung.
Vorausschätzungen - noch vor der Vereinigung 1990 - gehen davon aus, daß
die Gesamtbevölkerung in den alten Bundesländern von 61,5 Millionen (1988)
auf 43 Millionen (2030) zurückgehen wird (7), wobei
der Anteil der Älteren zunimmt. Diese langfristige Entwicklung bedeutet, ohne
daß dies in den öffentlichen Debatten sonderlich bekannt wäre, schon
deshalb einen systemischen Zwang zur multikulturellen Gesellschaft, weil die Alterssicherungssysteme
andernfalls zusammenbrechen würden. Bevölkerungspolitisch ist die Bundesrepublik
seit langem schon keine homogene Gesellschaft mehr und sie wird es künftig
auch nicht sein können. Die Zuwanderung von Ausländern - in welchem Status
auch immer - bedeutet die Notwendigkeit, sich in der multikulturellen Gesellschaft
einzurichten, ein Vorgang, der konflikthaft ist;
- durch das stetige Anwachsen der Politikdistanz bis hin zu anomischen Potentialen.
Der empirisch vielfach nachgewiesene allgemeine und kontinuierliche Vertrauensverlust
von Institutionen, Parteien, Großorganisationen und Groß-Ideologien
führt in der Mehrheitsgesellschaft zu Skepsis, Abkehr und Distanz zum politischen
System insgesamt. Längsschnitt-Untersuchungen über einen Zeitraum von
zehn Jahren zeigen daß das Vertrauen in die Institutionen (Regierungen, Parlamente,
Parteien, Gerichte Behörden) kontinuierlich abnimmt (8).
Politikdistanz äußert sich in vielfältigen Formen. Die Kritik an
den politischen Zuständen findet freilich keinen zentralen, dominierenden Anlaufpunkt.
Sie hat sich pluralisiert in diffuse Verhaltensdimensionen: in privatistischen Rückzug
aus den politischen Angelegenheiten, in Wahlenthaltung, Parteiaustritte, Protestwahlverhalten,
Bereitschaft zu unkonventionellen Politikformen bis hin zu Gewaltakzeptanz. Besonders
in den neuen, von Armut geprägten sozialen Unterklassen in den großstädtischen
Problemzonen gibt es anomische, geradezu rechtsfreie Räume und wachsende "aggressive
Apathie" (9). Die Spaltung der Gesellschaft in
Besitzer von sicheren Arbeitsplätzen und überschaubaren Biographien in
verläßlichen sozialen Milieus einerseits und an den Rand gedrängten
Menschen mit unsicheren Berufsbiographien, prekären Arbeits- und Wohnverhältnissen
andererseits hat soziale Ängste zur Folge, bei denen Zuwanderer, Ausländer
und Asylbewerber als unliebsame Konkurrenten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt
auftreten und als Sündenböcke fungieren;
- durch die Aufwertung traditioneller rechtskonservativer und rechtsextremer
Politikinhalte zu aktuellen Streitfragen des politischen Diskurses. Volk und
Nation, Schlüsselbegriffe der Gedankenwelt rechtsaußen, waren bis vor
wenigen Jahren eher Thema von Sonntagsreden und konservativen Zirkeln, welche die
geistig-moralische Wende einklagten, nicht aber Gegenstand aktueller politischer
Streitfragen. Das hat sich mittlerweile durch eine Reihe von Entwicklungen verändert.
Die Vereinigung beider deutscher Staaten, die Probleme bei der Nationenbildung in
Osteuropa und die Wanderungsbewegungen nach Europa setzen den Diskurs über
Volk und Nation auf die politische Agenda. Das Spezifikum dieser breiten Debatte
nun besteht darin, daß es kaum noch um die partizipative Komponente des Volkes
geht
- wie es in den Monaten vor und nach der Vereinigung 1990 den Anschein haben konnte
-, sondern vielmehr um die ethnische und kulturelle Identität des Volkes: Fragen
nach Abgrenzung zu den anderen Ethnien und Kulturen, zu Ausländern, Asylbewerbern
usw. stehen auf der Tagesordnung. Dahinter verbirgt sich die Ideologie sozialer
Integration: Wo das Deutsch-Sein wieder als Qualifikationsnachweis gilt, als Ab-
und Ausgrenzungskriterium, wo "die Deutschen" und "das deutsche Volk"
wieder als politische Akteure die Bühne der Weltpolitik betreten, wo "Volk"
nicht als Staatsbürger-, sondern als Schicksalsgemeinschaft aufgefaßt
wird, da ist kein Platz mehr für den sozialen Antagonismus und divergierende
Interessen. Die Beschwörung der Nation, der großen "Gemeinschaft",
dokumentiert nicht nur populistische Sehnsüchte nach Symbolen kollektiver Integration,
mit der harmonistischen Gemeinschafts-Rhetorik werden "Wir-Identitäten
" herbeigerufen, die quer liegen zu den bestehenden gesellschaftlichen Widersprüchen
und die gezielt die gegensätzlichen Interessenstrukturen verwischen und unscharf
machen sollen.
Die extreme Rechte verfügt seit langem über vor- und antidemokratische
Deutungen und aktualisiert und mobilisiert sie jetzt in den Debatten über Asyl,
Einwanderung, Ausländer-Begrenzung, innere Sicherheit, und sie findet eine
relativ breite Zustimmung von Teilen der Bevölkerung zu den rechten
und militanten Protestformen. Die ohnehin porösen Trennlinien zwischen Konservativen
und Rechtsaußen werden durchlässiger, der politische Markt öffnet
sich für rechtspopulistische Brückenparteien wie die "Republikaner"
(10). Autoritäre und restriktive Begrenzungspolitik
gegenüber Fremden und Zuwanderern ergreift mehr und mehr die Mitte der Gesellschaft.
Solidarische, multi-ethnische Lebensentwürfe erstrecken sich allenfalls noch
auf den unmittelbar zugänglüchen alltäglichen Erfahrungshorizont.
Eine gesellschaftliche Perspektive einer breit akzeptierten und in die Praxis umgesetzten
multikulturellen Gesellschaft gibt es kaum noch jenseits kosmopolitischer Orientierungen
von Teilen der Eliten;
- durch die zuvor weit in unterschätzte erfolgreiche Restrukturierung
bereits vorher vorhandener rechtsextremer Netzwerke (Parteien, Jugendgruppen
etc.) (11). Organisierter Rechtsextremismus in der
Bundesrepublik beschränkt sich keineswegs auf ein paar militante anpolitisierte
Skinheads und einen kleinen Kreis ewiggestriger Unbelehrbarer. Ebensowenig ist der
politisch agierende Rechtsextremismus erfaßt, wenn die hohen fremdenfeindlichen
Einstellungen von sozial depravierten Jugendlichen betont werden (12) oder aber von Rassismus in Deutschland die Rede ist. Eine pädagogische
Jugendforschung, die aus der Opfer-Perspektive diese Jugendlichen als Leidtragende
betrachtet, übersieht den politischen Kern des Protests: Die hohen Jungwähler-Anteile
(Infas zählt bei den bis 24jährigen im August 1992 24% in West-, 27% in
Ostdeutschland zum Rechtsaußen-Wählerpotential (13))
reichen weit über diejenigen hinaus, die durch "streetwork" und Sozialarbeit
erreichbar sind. An der überaus geschickten populistischen Strategie des modernen
Rechtsextremismus scheinen zudem Gegenstrategien abzuprallen, die sich auf die historisch-politische
Moral der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit beziehen.
So sehr ein Ansatz richtig ist, der die Entstehung des Rechtsextremismus in der
Mitte der Gesellschaft verortet und nicht an den Rändern, so sehr muß
auf die Dynamik eben dieser Ränder und Subkulturen gerade heute hingewiesen
werden. Der organisierte Rechtsextremismus hat jahrzehntelange personale, publizistische
und politisch-strategische Traditionen ausgebildet, die jetzt zur Triebfeder des
Protests werden. Ein organisiertes, objektiv arbeitsteilig vorgehendes Netzwerk
mit festen Infrastrukturen von rechts besetzt ideologisch (durch die Intellektuellen-Zirkel
der "Neuen Rechten"), parteiförmig ("Republikaner", DVU)
und aktionistisch-militant (Skins u.a.) das Thema "Ausländer" bzw.
multikulturelle Gesellschaft und präsentiert wirkungsvoll Sündenböcke.
Seit Jahren schon verspürt die Rechtsaußen-Szene erheblichen Rückenwind
durch die Wahlerfolge von Rechts-Parteien in Westeuropa, vor allem des französischen
Front National (14). Ungeachtet aller Wahlergebnisse
ist dieses arbeitsteilig operierende Netzwerk der Motor der Ethnisierung der Politik,
indem soziale Ungleichheit als Ungleichwertigkeit der Ethnien propagiert und entsprechende
Konsequenzen eingefordert werden.
Politikdistanz, die Aktivierung des organisierten rechtsextremen Netzwerks und dessen
Verbreiterung sowie das Übergreifen "rechter" Themen und Deutungen
auf die Mitte der Gesellschaft bilden einen Zusammenhang. Es sind mindestens zwei
recht untergründige, aber doch sichtbare Prozesse, die ihn ursächlich
herausgebildet haben. Vor diesem Hintergrund möchte ich zwei Thesen vertreten:
1. These
Die vorgenannten Entwicklungen sind Ausdrucksformen und Symptome für einen
weithin unterschätzten soziokulturellen Umbruch, dessen tatsächliche Ausmaße
noch kaum absehbar sind. Wir erleben den Beginn einer historischen, keineswegs kurzlebigen
Phase, in der soziale Konflikte und soziale Ungleichheiten überlagert werden
durch Bilder von der ethnischen Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Menschen.
"Ethnisierung" ist dabei ein offener, prozeßhafter Begriff. Mit
ihm ist gemeint, daß Sozialbeziehungen auf der Deutungsebene sowohl objektiv,
hinter dem Rücken der Subjekte, wie auch intentional das Element ethnischer
Etikettierung gleichsam angefügt wird. "Ethnisierung" meint einen
sozialen Prozeß, in dem das Anders-Sein des individuellen oder kollektiven
Gegenübers eine zunehmend stärkere Rolle spielt. Der antiliberale und
antidemokratische Aspekt dieses komplizierten Vorgangs folgt aus der abwertenden,
herabsetzenden, die eigene Bezugsgruppe überhöhenden ethnischen Etikettierung.
Sowohl "von unten", in den Alltagserfahrvngen und -orientierungen wie
auch "von oben", aus der Perspektive der politischen Akteure, sind sozialstrukturell,
klassen- und milieuspezifisch definierte Probleme und Interessenlagen mittlerweile
überlagert durch ethnische Deutungsmuster. Ethnische Herkunft, Selbst-Zuordnung
und Zugeordnet-Werden bestimmen mehr und mehr den gesellschaftlichen Status und
das Ausmaß an sozialen, kulturellen und materiellen Gratifikationsmöglichkeiten.
Nicht mehr nur soziale Herkunft und Elternhaus sind heute mitentscheidend für
die erreichbaren Lebenschancen, sondern auch ethnische, nationale Herkunft. In den
Schulen, am Arbeitsplatz und in der Freizeit erzwingt die Verhaltensskala von Sympathie
und Solidarität bis hin zu Ablehnung und Ausgrenzung der und des Fremden einen
permanenten Reflexionsprozeß auf die eigene Identität, auf die Zugehörigkeit
zu einer ethnisch definierten Gruppe.
Was im Alltag den Menschen abverlangt wird - friedliches, kooperationsbereites Verhalten
- wird auf der Systemebene keineswegs fortgeführt: Hier überwiegt der
Bedrohungsaspekt und der Gedanke der Abschottung gegenüber Ethnien, die als
Störfaktoren für das innere Ordnungsgefüge von Staat und Gesellschaft
betrachtet werden (15). In der Asyldebatte kommt dies
am klarsten zum Ausdruck. Was beide, Mikro- und Makroebene miteinander verbindet,
ist der heimliche Konsens über die "Festung Europa", die Verteidigung
materieller und formal-rechtlicher Privilegien gegen die Geltungsansprüche
von Zuwanderern und Nicht-Einheimischen.
Doch die Konfliktstrukturen zwischen den Ethnien basieren nur zum geringeren Teil
auf kulturellen Reibungsflächen oder disharmonischen Lebensgewohnheiten. Die
wachsende Kluft zwischen Arm und Reich innerhalb der Bundesrepublik, zwischen West-
und Ostdeutschland, zwischen Deutschland und Osteuropa und den Dritte-Welt-Ländern
ist im Kern soziale Ungleichheit, die auf der Ungleichverteilung von Lebenschancen,
materiellen und immateriellen Gütern, Bildungschancen und Statuszuweisungen
basiert (16). Ursächlich ist also nicht einfach
der Mangel an Ressourcen (Arbeit, Wohnungen, Grundnahrungsmittel etc.) in rein quantitativer
Hinsicht, sondern ihre ungleiche und ungerechte Verteilung. Das hat tiefgreifende,
nicht zuletzt ökonomische und finanzpolitische Ursachen, deren Aufhebung wenn
überhaupt, so ein zählebiges, schwieriges Unterfangen ist, weil es um
strukturelle Veränderungen geht - zum Beispiel darum, den skandalösen
Zustand aufzuheben, daß die Dritte-Welt-Länder mehr an Zinsen an deutsche
Banken abführen als sie als Entwicklungshilfe bekommen. Eine gerechte Weltwirtschaftsordnung
ist in weiter Ferne. Selbst vor dem unumkehrbaren Faktum weltweiter Armutsmigration
in den kommenden Jahrzehnten, das gravierende soziale Folgeprobleme, eben auch fortschreitende
Ethnisierungen des Politischen und des Sozialen mit sich bringen wird (17), verschließen nicht wenige politische Akteure die Augen.
Die Mehrzahl der politischen Meinungsführer hierzulande hat es zugelassen,
geduldet oder sogar aus wahltaktischen Überlegungen heraus forciert, daß
diese Zusammenhänge als Ursachen der weltweiten sozialen und regionalen Ungleichheit
und der fremdenfeindlichen Protest-Stimmungen nicht in den Blick kommen und daß
langfristige Veränderungen der Bevölkerungsstruktur und der Zwang zur
multikulturellen Gesellschaft kaum diskutiert werden - kein Thema, um Wahlen zu
gewinnen. Statt dessen aber wird von Politikern im Spannungsbogen zwischen Duldung
und aktivem Vorantreiben - in der Aufwertung der Asylproblematik zur Überlebensfrage
des deutschen Volkes - und erst recht von der sich formierenden rechten Protestbewegung
die als solche unaufhebbare ethnisch-kulturelle Ungleichheit entweder wider besseres
Wissen oder in ideologischer Verblendung sowohl als Ursache für die Misere
benannt wie auch zum Programm für die Zukunft erklärt. Wenn dem Publikum
in Aussicht gestellt wird, weniger Asylbewerber seien gleichbedeutend mit besseren
Lebenschancen für alle, so ist dies nicht nur ein fataler Irrtum, sondern ein
gefährlicher Verweis auf eine bestimmte soziale und ethnisch definierte Gruppe
als Verursacher sozialer Krisen. Derartige Ethnisierung der Politik betrifft, wie
die Asyldebatte zeigt, nicht nur den Kreis der Asylbewerber. Die Folgen sind für
alle hier lebenden, politisch ohnehin entrechteten Ausländer spürbar.
Sie finden sich in der Rolle, (noch) geduldet zu sein und gegenüber Deutschen
erst nachrangig soziale und politische Teilhaberechte anmelden zu dürfen. Nach
einem veränderten Asylrecht wird eine weitere Gruppe zu ihnen gehören,
die ungeschützter ökonomischer Ausbeutung und gesellschaftlicher Ächtung
ausgesetzt sein wird: Zehntausende von "Illegalen".
Die Ethnisierung des Politischen geht an den tiefer liegenden strukturellen Ursachen
der sozialen Ungleichheit vorbei. Die Ethnisierung sozialer Konflikte führt
längerfristig mit Notwendigkeit zu verschärften konkurrenten Sozialbeziehungen
der Ethnien, zu sozialen Spannungen, gewalttätigen Ausbrüchen und zur
faktischen Außerkraftsetzung von Grundrechten wie im Artikel 3 GG ("Niemand
darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache,
seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen
Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden."). Der dauerdiskutierte Artikel
16 (mittlerweile im Wesenskern abgeschafft durch den sog. Asylkompromiß MB)
steht zur Disposition, obwohl seine Erweiterung oder sogar Abschaffung nichts anderes
bringen wird als den Abbau von Demokratie und das sprunghafte Anwachsen der "Illegalen".
Daß Artikel 3 längst schon außer Kraft gesetzt zu sein scheint,
wird kaum bemerkt, besser noch: es wird hingenommen (18).
Das Amt der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung wird von dieser permanent
mißachtet. Mit dem Abbröckeln des demokratischen Gleichheitsgedankens,
wie er in Artikel 3 zum Ausdruck kommt und wie er beispielsweise im Amt der Ausländerbeauftragten
institutionalisiert ist, steht aber ein wichtiges Stück Demokratie zur Disposition.
2. These
Verschärft wird der Umbruch, die Ethnisierung sozialer Konflikte, durch
die Formierung des Protests von rechts als soziale Bewegung. Wir haben es heute
nicht mehr, wie noch bis in die 80er Jahre, mit einer politischen Subkultur von
Außenseitern und Ewiggestrigen zu tun, die auf breite Ablehnung in der Mehrheitsgesellschaft
stößt und in ihrem abgeschotteten politisch-sozialen Milieu verbleibt.
Weder die Rechtsaußen-Parteien noch die gewalttätigen Aktionen zwischen
Hoyerswerda und Rostock sind mit Beispielen aus der Geschichte der Bundesrepublik
vergleichbar. Die "antisemitische Schmierwelle" vom Dezember 1959 bis
Ende Januar 1960 fand, wenn überhaupt, den Beifall der Unbelehrbaren nur im
privaten Bereich, nicht öffentlich. Die NPD-Erfolge Ende der 60er Jahre basierten
auf jenem abgrenzbaren Teil der Wählerschaft, der mental und biographisch auf
Restbestände des Nationalsozialismus zurückgreifen konnte (19). Heute jedoch sind die Rechtsaußen "cross-class-parties",
sie schöpfen besonders bei den Jungwählern Stimmen, die sich nicht an
vergangenen Zeiten orientieren, sondern an den sozialen Verwerfungen des Alltags
hier und jetzt.
Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, daß nach der Studentenbewegung der
60er, der Friedens- und Ökologiebewegung der 70er und den "neuen sozialen
Bewegungen" der 80er Jahre nun eine neue, von ihren Zielen her gänzlich
andersartige, nun von rechts kommende soziale Bewegung ihren Anfang nimmt (20). Diese Anzeichen sind:
- ein populistisches Aufgreifen von Alltagsinteressen und eine weithin
akzeptierte Thematik (Ausländer, innere Sicherheit, nationale Identität);
- die Existenz mehrerer rechtsintellektueller Gruppierungen außerhalb der
Universitäten, die Impulse der Weimarer "Konservativen Revolution",
geistesgeschichtliche Traditionen zwischen Carl Schmitt, Moeller van den Bruck und
Ernst Jünger zum Programm erhebt;
- eine partielle, bisweilen terroristische Militanz am Rande (nicht im Zentrum!)
der Bewegung;
- eine beachtliche Breitenwirksamkeit, die in der Lage ist, die politische Klasse
in die argumentative Defensive zu drängen;
- dezentrale Strukturen;
- die Selbststilisierung als einzig wahre Opposition;
- ein "linker" Gegner, dessen Kräfte in jeder Hinsicht historisch
erschöpft erscheinen;
- eine vergleichsweise breite, aktivistische Beteiligung von Jugendlichen;
- eine irrationale, dem vernünftigen Diskurs kaum zugängliche politische
Religiosität, Botschaft statt Programm;
- internationaler, zumindest europaweiter Gleichklang mit ähnlich strukturierten
sozialen Bewegungen (z.B. Front National). Rechtsextremismus als soziale Protestbewegung
entsteht nicht zufällig gerade jetzt. Mit dem vielfach verkündeten "Ende
der Nachkriegszeit" haben, die Konservativen voran, nicht wenige das Ende der
Bescheidenheit verbunden. Jetzt gelte es, unbelastet von historisch-moralischen
Rücksichten das Gewicht Deutschlands in der Welt wieder angemessen zur Geltung
zu bringen. Doch mit solchen Perspektiven werden in Deutschland die Geister herbeigerufen,
derer man sich lange schon entledigt wähnte.
Bis in die 80er Jahre konnte davon ausgegangen werden, daß eine
politische Bewegung, die in wie immer gebrochener Tradition des Rechtsextremismus
der 20er und 30er Jahre steht, in Deutschland keine ernsthaften Chancen haben könnte.
Der Schatten der Vergangenheit erschien Garant dafür, daß politische
Perspektiven in dieser Tradition fortan der Ächtung anheimfallen würden.
Der von vornherein keineswegs stabile Grundkonsens über die historischen Verpflichtungen
und normativen Folg en nach Auschwitz ist aber inzwischen zerbrochen. "Der
Konsens darüber", so Wolfgang Benz, "daß man den Nationalsozialismus
im öffentlichen Bewußtsein halten müsse und die von den Politikern
jahrzehntelang deklamierte Übereinstimmung, daß die Erinnerung an den
Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis bewahrt bleiben müsse, um
seine Wiederholung zu vermeiden - dieser Konsens ging verloren." (21) Der zeitliche Abstand der Nachfolge-Generationen zum Erfahrungshorizont
der direkt betroffenen Generationen ist gewachsen. Damit entfällt ein lebensgeschichtlicher
Zusammenhang, welcher aller Aufarbeitung der Vergangenheit immer auch die Impulse
konkreter Erfahrung verliehen hat. Die konservative Fraktion im "Historikerstreit"
hat historischen Revisionismus gesellschaftsfähig gemacht, und die ohnehin
eher im Verborgenen schlummernde Auffassung, es müsse jetzt Schluß sein
mit einseitiger Schuldzuweisung und Aufarbeitung der Vergangenheit überhaupt,
ist mehrheitsfähig geworden (22). Es schwinden
die politisch-moralischen Hemmschwellen nach rechts, in der politischen Kultur der
Bundesrepublik trifft eine rechtsextreme politische Alternative nicht mehr auf ein
kollektives Gedächtnis, das rechtsradikales Denken wie selbstverständlich
zurückweist. Für das Gebiet der ehemaligen DDR scheint der vierzig Jahre
lang rituell verordnete starre Antifaschismus von oben eher kontraproduktive Folgen
nach sich zu ziehen (23). Die historisch wohlbegründeten
Hemmnisse für eine soziale Bewegung von rechts sind, so scheint es, faktisch
ausgeräumt.
Sollte sich die Annahme bestätigen, daß es sich um den Anfang einer sozialen
Bewegung handelt, so werden Konzessionen, etwa in der Asylfrage, die Dynamik der
Bewegung nicht bremsen, sondern eher vorantreiben. Die bevorstehende Änderung
des Asylrechts ist auch ein sichtbarer und folgenreicher Erfolg des Protests von
rechts. Aus umfangreichen Untersuchungen über Entstehung und Verlauf sozialer
Bewegungen wissen wir, daß deren Ende in aller Regel gegeben ist mit ihrer
Institutionalisierung im politischen System (24). Das
war bei der Studentenbewegung so und das ist bei den Grünen nicht anders. Eine
wie immer geartete, über die Änderung des Asylrechts hinausgehende Institutionalisierung
des gegenwärtigen Protests von rechts hätte allerdings fatale, demokratiegefährdende
Folgewirkungen.
In Frankreich steht der Front National an der Spitze derer, die ein Einwanderungsgesetz
fordern - allerdings als Rückführungsgesetz (25).
Das bedeutet: Konzessionen werden zu noch radikaleren Forderungen von rechts führen,
die das demokratische Fundament ernsthaft gefährden können, langfristig
aber tatsächlich zu einer anderen Republik führen, in der lange Zeit breit
akzeptierte Werte der 68er Revolte (Liberalität, Toleranz, Demokratisierung/
Partizipation, "postmaterielle Werte") nicht mehr gelten bzw. eine ganz
andere Dimension annehmen.
Folgerungen
Die alten Formen des Umgangs mit rechtsextremen Strömungen verlieren angesichts
dieser Entwicklungen an Überzeugungskraft. Ignorieren, Verharmlosen, Dramatisierungen
(= Deutungsebenen), politische Justiz (= Repressionsebene), Aufklärung (= pädagogische
Ebene) sowie betont zelebrierte multikulturelle "Ausländerfreundlichkeit"
oder Antifaschismus/Antirassismus alten, verbrauchten Stils (= ideologische Ebenen)
werden an der Struktur des rechten Protests und den grundlegenden Ursachen nicht
viel ändern. Und zwar schon deshalb nicht, weil der Umgang mit politischen
Außenseitern hierzulande in hohem Maße ritualisiert ist (26). Es bedarf
kaum der Erwähnung, daß der Protest als Gegenstand eines inszenierten,
massenmedial zurechtgeschliffenen Spektakels, und mag er noch so moralisch daherkommen,
an Attraktivität nur noch zunehmen wird.
Es kann keine fertigen Antworten auf die angesprochenen Probleme geben. Zumal auch
deshalb nicht, weil die Ethnisierung des Politischen weit über Deutschland
hinausreicht und ein europäisches Problem ist: Im ehemaligen Jugoslawien wird
ein Krieg mit dem Ziel der "ethnischen Säuberung" geführt (27). Die Ethnisierung des Politischen und der sozialen
Konflikte zielt auf weniger Demokratie. Sie zielt auf Polarisierung und Konflikte
neuen Typs: Verteilungskonflikte werden "verkehrt herum" ausgetragen als
Rivalität ethnischer Gruppen um den bevorrechteten Zugang zu sozialen und kulturellen
staatlichen Leistungen, letztlich um die politische und soziale Hegemonie. Quer
zu den bestehenden organisierten Interessenvertretungen der Verbände entstehen
ethnisch definierte Interessengruppen der Ausländer in Deutschland. Ihr Gegenüber
ist das Kollektiv "der" Deutschen, die sich selbst in nicht zu unterschätzender
Größenordnung als solches gegenüber den Ausländern verstehen.
Die Ethnisierung ist nicht zuletzt eine politisch-geistige Strömung, die sich
in den Köpfen festsetzt. Notwendig erscheint mir auf den Ebenen der Politik,
der Pädagogik, der Publizistik sowohl eine Politik der kleinen Schritte wie
auch ein "geistig-politisches" Umdenken, das mindestens folgende Aspekte
berücksichtigt:
- Die Ethnisierung des Politischen und des Sozialen ist ein an sich
offener Prozeß. Es wird sie geben, solange es Migration gibt. Sie kann, wie
die Debatten über die multikulturelle Gesellschaft und den Multikulturalismus
zeigen, durchaus demokratiefördernde Konzeptionen und Projekte nach sich ziehen.
Sie kann aber auch, zumal in einer Gesellschaft, in deren jüngerer Geschichte
der Rassenwahn Staatsziel war, sehr wohl regressive, demokratiegefährdende
Folgen mit sich bringen. Der Ethnisierung sozialer Ungleichheit muß auf allen
Ebenen dadurch entgegengetreten werden, daß die ökonomisch-weltwirtschaftlichen
Grundstrukturen, national wie international, wieder sicht bar werden. Das heißt
zunächst nichts anderes als die Anerkennung von Tatsachen wie die bestehende
Ausbeutung der Dritten Welt und die humanpolitischen Folgen für die Industrieländer.
Es fehlt an einem geistig-politischen Klima, das Armutswanderungen als zwangsläufige
Folge der Konsumstile der Industrieländer anerkennt. Es fehlt an einem geistig-politischen
Klima, das den Kampf um Wohnungen und Arbeitsplätze als Verteilungskampf mit
strukturellen Ursachen anerkennt, in dem die Widersprüchlichkeiten von Wohnungs-
und Arbeitsmarkt die entscheidenden Bestimmungsgrößen sind, nicht aber
Hautfarbe und Herkunft. Armutswanderungen sind nicht Ursachen der Misere, sondern
Folgewirkungen regionaler sozialer Ungleichheit im Weltmaßstab. Es fehlt an
einem geistig-politischen Klima, in dem Armutswanderungen als Folgeerscheinung von
weltwirtschaftlich bedingten Ausbeutungsverhältnissen gesehen werden. Ein quotenorientiertes
Zuwanderungsgesetz, das Einwandererströme reguliert, wird kaum die Grundprobleme
lösen, es wäre aber ein Beitrag zur Ent-Stigmatisierung der Wanderungsbewegungen.
- Die Ethnisierung des Sozialen und des Politischen ist ein höchst ambivalenter
Prozeß. In ihm verborgen stecken Freund-Feind-Bilder und Gewaltpotentiale.
Die Kehrseite freilich ist das in der Ethnisierung immer auch enthaltene Pochen
auf die Autonomie, das Eigene, das Widerborstige und das sich Nicht-Beugen wollende
Moment ethnischer Identität. Das Leugnen ethnisch-kultureller Autonomie, das
Verkennen des Fremden und die totale Integration können daher kein Ausweg sein.
Es bedarf, zumal angesichts klar erkennbarer Individualisierungsschübe und
der Auflösung traditioneller Milieus, einer breiten Debatte darüber, was
"Gemeinschaft", nationale und regionale Identität heute unter Voraussetzungen
nicht aufhebbarer ethnischer Vielfalt bedeuten können. Es gilt Abschied zu
nehmen von der Vorstellung einer ethnisch homogenen Gesellschaft. In Abkehr von
der Konzentration auf die traditionellen Sozialmilieus verdienen künftig die
vielerlei "Gemeinschaften", Nachbarschaftsbeziehungen, Arbeits- und Freizeitbeziehungen,
lokale Identitäten etc. mehr Aufmerksamkeit. Ihre identitätsstiftende
Bedeutung ist größer als vielfach angenommen.
Das Bedürfnis nach "Gemeinschaft" wächst, der Gegensatz
von "Gesellschaft" und "Gemeinschaft" (Tönnies) scheint
noch gar nicht voll entfaltet (28). Nicht zuletzt
davon profitieren die Rechtsaußen-Parteien. Hinter ihren politischen Botschaften
steht immer auch das Versprechen, die guten alten Zeiten wiederherzustellen. Es
trifft auf Sehnsüchte nach der überschaubaren, "heilen" Welt
in einer Zeit, wo eben nicht nur pluralisierte Lebensstile nebeneinanderher existieren,
sondern eher noch mentale kollektive "Ungleichzeitigkeiten", wie sie Bloch
beschrieben hat (29), eine antimodernistische und
antidemokratische soziale Basis für rechtspopulistische Strömungen bilden.
Sind traditionelle Gemeinschaftsformen in der alten Bundesrepublik einer langandauernden,
schleichenden Erosion unterworfen, so ähneln die Entwicklungen in den neuen
Bundesländern eher einem abrupten Wegfall sozialer Infrastrukturen, ohne daß
die Gesellschaft darauf in irgendeiner Weise vorbereitet wäre. Das bloße
Versprechen auf bessere Zeiten und die sich ausbreitenden Strukturen einer frühkapitalistischen
Eroberungsmentalität, in der sich die Gesetze des Marktes, behindert allenfalls
durch eine träge Verwaltung, ungehindert austoben können, produziert einen
spezifischen Modernisierungsschock, wo rechte Gemeinschafts-Ideologien, die von
völkischer Homogenität ausgehen, auf vielfältige Resonanz, zumal
bei Jugendlichen, stoßen.
Doch die Protestbereitschaft von rechts ist in den alten Bundesländern, gemessen
an der Zahl der Gewalttaten, größer als im Osten. In breiter werdenden
Bevölkerungsteilen ist eine "negative Individualisierung" spürbar:
Nicht Freiheit von Bindungen und Zwängen, mehr individuelle Lebenschancen nach
Gesichtspunkten der Vernunft, sondern Orientierungsarmut unter Bedingungen von mitleidsloser
Konkurrenz, Verteilungs-Ungerechtigkeit und sozialer Diskriminierung sind hier die
Muster politischer Sozialisation. Der zumal in den Städten sichtbare Gegensatz
von "neuer Armut" und "neuem Reichtum" und die soziale Ost-/West-Spaltung
potenziert die Ohnmacht der Verlierer. Der Haß auf die Fremden, Gewaltbereitschaft
und die Überidentifikation mit der Nation sind Ersatzreligionen und -identitäten
in dem Augenblick, wo naturwüchsige "Vergemeinschaftung" nicht mehr
stattfindet. Beides, geistig-politisches Gegensteuern und das Experimentieren mit
neuen Gemeinschaftsformen - im Wohnungsbau, in deutsch-ausländischen Arbeits-
und Freizeitbeziehungen, bei lokalen Projekten, in der Jugendarbeit usw. - ist kurzfristig
nicht zu haben. Langfristig wird daran kein Weg vorbeiführen, wenn die multi-ethnische
Gesellschaft nicht als Bedrohung, sondern als Realität und als Chance begriffen
werden soll.
1) Wir leben in der Bundesrepublik in einer multikulturellen
Gesellschaft, "epd-Dokumentation" Nr. 48 Frankfurt, Oktober 1980.
2) Vgl. "Innere Sicherheit", 3/1992, S. 1
ff.
3) Interview mit dem Hamburger Verfassungsschutzpräsidenten
Ernst Uhrlau, in: "Der Spiegel", 38/1992 S. 30 ff.
4) Vgl. die wohlbegrundete Polemik gegen die "Rassismus"
- bzw. "Antirassismus" -Debatte bei Jochen Blaschke, Ethnizität und
Migration - Wissenschaft und Politik vor einem internationalen Problem, in: "Gewerkschaftliche
Monatshefte", 2/1992, S. 90-98.
5) Stefan Hradil, Epochaler Umbruch oder ganz normaler
Wandel? Wie weit reichen die neueren Veränderungen der Sozialstruktur der Bundesrepublik?,
in: Umbrüche in der Industriegesellschaft, hrsg. von der Bundeszentrale für
politische Bildung, Bonn 1990 (= Schriftenreihe Bd. 284), S. 73-100, hier S. 80.
6) Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1989,
Bonn 1990, S. 47; vgl. auch die zahlreiche Daten enthaltende Einführung von
Detlef Bischoff/Werner Teubner, Zwischen Einbürgerung und Rückkehr. Ausländerpolitik
und Ausländerrecht der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1990.
7) Statistisches Bundesamt, a.a.O., S. 51.
8) Vgl, die Schaubilder über die Entwicklung von
Demokratiezufriedenheit, Institutionenvertrauen und Einstellungen zur Politik zwischen
1980 und 1991, in: Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung, Interne Studien
Nr. 34/1992, S. 7 ff.
9) Vgl. die Hinweise zu längerfristigen Entwicklungen
bei Bettina Westle, Einstellungen zu den politischen Parteien und der Demokratie
in der Bundesrepublik Deutschland, in: Rudolf Wassermann, Volksparteien - Ratlose
Riesen? Baden-Baden 1989, S. 223-239, und bei Karl Starzacher u.a. (Hrsg.), Protestwähler
und Wahlverweigerer, Köln 1992.
10) Vgl. Hans-Gerd Jaschke, Die "Republikaner".
Profile einer Rechtsaußen-Partei, Bonn 2 1993.
11) Richard Stöss, Die extreme Rechte in der
Bundesrepublik. Entwicklung, Ursachen, Gegenmaßnahmen, Opladen 1989.
12) Vgl. dazu vor allem die Arbeiten von Wilhelm Heitmeyer,
zuletzt erschienen: Wilhelm Heitmeyer u.a., Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie,
Weinheim/München 1992.
13) Ursula Feist, Wer wählt die rechtsradikalen
Parteien? (= Arbeitspapier zum 2. Forum der Deutschen Postgewerkschaft gegen Ausländerfeindlichkeit
und Fremdenhaß, 29./30.8.1992, Chemnitz).
14) Dazu: Dietmar M. Loch, Der schnelle Aufstieg des
Front Natioal. Rechtsextremismus im Frankreich der 90er Jahre, München 1990;
Michel Hastings, Der Diskurs Jean-Marie Le Pens und seines Front National, in: Christoph
Butterwegge/Siegfried Jäger (Hrsg.), Rassismus in Europa, Köln 1992, S.
105-118.
15) Vgl. dazu die erhellenden Hinweise bei Dieter
Oberndörfer, Die offene Republik. Zur Zukunft Deutschlands und Europas, Freiburg/Basel/Wien
1991.
16) Zahlreiche empirische Nachweise dazu in: Dieter
Nohlen/Franz Nuscheler (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt. Grundprobleme, Theorien,
Strategien, Bonn 1992. Vgl. auch Franz Nuscheler, Arbeitsmigranten und Müchtlinge:
"Neue Heloten" und "Treibgut der Weltpolitik", in: "Gewerkschaftliche
Monatshefte", 2/1992, S. 81- 89.
17) Vgl. Stephen Castles, Verunsicherte Bevölkerung,
Migranten und wachsender Rassismus. Massenhafte Wanderungsbewegungen erfassen die
gesamte Welt, in: "Frankfurter Rundschau", 12.10.1992 S. 12. Einen historischen
Überblick gibt Peter J. Opitz, Das Weltflüchtlingsproblem im 20. Jahrhundert,
in: "Aus Politik und Zeit- geschichte", B 26/1987, S. 25-39; vgl. auch
Beate Winkler (Hrsg.), Zukunftsangst Einwanderung, München 1992 und Flüchtlinge
in der Bundesrepublik Deutschland. Hintergründe, Fakten, Positionen, hrsg.
vom Informations-, Dokumentations- und Aktionszentrum gegen Ausländerfeindlichkeit,
Düsseldorf 1992.
18) Zur Bedeutung des Artikel 3 GG vgl. Oberndörfer,
Die Entwicklung einer multiethnischen Gesellschaft, in: ders., Die offene Republik,
a.a.O., S. 86 ff.
19) Vgl. daxu Peter Dudek/Hans-Gerd Jaschke, Entstehung
und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik (2 Bde.), Opladen 1984.
20) Beim Begriff der "sozialen Bewegung"
folge ich vor allem dem sehr weiten Begriffsverständnis bei Otthein Rammstedt,
Soziale Bewegung, Frankfurt 1978, und Karl-Werner Brandt/Detlef Büsser/Dieter
Rucht, Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik,
Frankfurt/New York 1983, dort vor allem den Exkurs über "soziale Bewegung",
S. 35 ff.
21) Wolfgang Benz, Der Nationalsozialismus als Problem
der politischen Kultur der Bundesrepublik, in: Irma Hanke/Hannemor Keidel (Hrsg.),
Unruhe ist die erste Bürgerpflicht, Baden-Baden 1988, S. 55-74, hier S. 65
f.
22) Zum Historikerstreit vgl. meine Überlegungen,
in: Streitbare Demokratie und Innere Sicherheit, Opladen 1991, S. 277 ff.
23) Karl-Heinz Heinemann/Wilfried Schubarth (Hrsg.),
Der antifaschistsche Staat entläßt seine Kinder, Köln 1992; Rechtsextremismus
in den neuen Bundesländern. Beiträge zur Diskussion, hg. von der Landeszentrale
für politische Bildung Thüringen, Erfurt 1992, Vgl. auch die auf sieben
Ausgaben konzipierte Schriftenreihe "Hefte zum Rechtsextremismus", hg.
v. Berlin-Brandenburger Bildungswerk, Berlin 1992.
24) Rammstedt beschreibt den typischen Ablauf sozialer
Bewegungen als "1. Propagierung von Krisenfolgen; 2. Artikulation des Protests;
3. Intensivierung des Protests; 4. Artikulation der Ideologie; 5. Ausbreitung der
sozialen Bewegung; 6. Organisierung und 7. Insbtutionalisierung", vgl. Rammstedt,
Soziale Bewegung, a.a,O., S. 138.
25) Jean-Marie Le Pen und die Front National, hg.
vom Germania-Verlag, Weinheim 1992.
26) Vgl. Jaschke, Streitbare Demokratie, a.a.O.
27) Der wiedererstarkende europäische Nationalismus
nach dem Zusammenbruch der europäischen Nachkriegsordnung scheint nur die kollektive,
Nationen-zentrierte Kehrseite der Ethnisierung. Wir können diesem Zusammenhang
hier nicht näher nachgehen. Vgl. zur neueren Diskussion: Alain Minc, Die Wiedergeburt
des Nationalismus in Europa, Hamburg 1992.
28) Ein nicht unbedeutender Nebenaspekt ist die in
den 80er Jahren wieder auflebende Debatte um den Begriff "Heimat", auf
die wir hier nicht eingehen können, vgl. dazu den umfangreichen Reader Heimat.
Analysen, Themen, Perspektiven, hrsg. von der Bundeszentrale für politische
Bildung (= Schriftenreihe Bd. 294/I), Bonn 1990.
29) Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Neuausgabe
Frankfurt 1962, S. 104 ff.
aus: Blätter für d. und internationale Politik 12/92
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Most recent revision: April 07, 1998
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