Faschismus und Postfaschismus
Faschismus das ist, wie ich meine, eine ebenso originelle wie effektive Strategie
zur Beendigung des seit dem letzten Jahrhundert andauernden akuten Klassenkampfes,
dem Kampf zwischen den beiden Klassen des Kapitals und der Arbeit. Beendet wird
dabei der Kampf durch die Intervention der Staatsinstitution, die den Versuch unternimmt,
die von der Klasse der Arbeit ausgehende revolutionäre Gefahr für die
bürgerliche Gesellschaft dadurch ein für allemal zu beseitigen, daß
sie die arbeitende Klasse nicht mehr bloß, wie bisher, politisch unterdrückt
und polizeilich- militärisch in Schach hält, sondern mehr noch bzw. vielmehr
ideologisch integriert und organisatorisch-korporativ in die tragende Säule
der kapitalistischen Volkswirtschaft umfunktioniert. Damit der Staat diese Aufgabe
erfüllen kann, muß er in zweierlei Hinsicht eine im Vergleich mit seiner
traditionellen Gestalt markante Fasson gewinnen. Erstens muß er selber eine
pseudo- oder quasi- revolutionäres Aussehen, selber die Züge einer revolutionären
Veranstaltung, sozusagen eines führenden Unternehmens der Revolution annehmen;
d.h. er muß sich der Klasse, die er zum Teufelspakt mit dem Kapital führen
will, im wie immer trügerischen Charakter einer sie repräsentierenden
oder vielmehr inkorporierenden sozialistischen Aufbruchsbewegung assimilieren. Zweitens
muß er zu der bürgerlichen Klasse, seinem bisherigen Realfundament und
Arbeitgeber, auf Distanz gehen, muß er gegen die bürgerliche Klasse sich
verselbständigen, sich von ihr emanzipieren, muß er mit hin die Statur
eines politisch-ökonomischen Generalbevollmächtigten, einer über
gesellschaftlichen Prozesse, insbesondere die der Produktion, und über die
gesellschaftlichen Ressourcen, insbesondere die zentralen Produktionsmittel, vergleichsweise
autokratisch eigenmächtig verfügenden und bürokratisch selbstherrlich
wachenden, unbürgerlich arbiträren Agentur und völkisch totalitären
Instanz gewinnen. Nur insofern er diese beiden Bedingungen, Stilisierung als eigentliches
revolutionäres Subjekt und Verselbstständigung gegen die bürgerliche
Klasse, erfüllt, kann der Staat der ihm gestellten Aufgabe einer Entscheidung
und Beendigung des Klassenkampfes genügen, kann er zu jener ebenso volksgemeinschaftich-
hyperrevolutionären wie leviathanisch-totalen Subjektform werden, in bzw. unter
der die Substanz Arbeit mit dem Substrat Kapital, die gesellschaftliche Produktivkraft
mit den gesellschaftlichen Produktionsmitteln, zu einer schöpferischen Einheit
verschmelzen, einer produktiven Arbeitsfront zusammenbinden. Produktiv tätig
ist und bleibt diese staatlich verfaßte Arbeitsfront zusammenbinden. Produktiv
tätig ist und bleibt diese staatlich verfaßte Arbeitsfront für die
Kapitaleigner, die bürgerliche Klasse; denn die relative Veränderung der
Produktionsverhältnisse, die die politisch-ökonomische Machtübernahme
durch den als revolutionären Massenbeweger und totalitären Volksgemeinschaftsstifter
figurierenden Staat darstellt, bedeutet natürlich alles andere als eine Änderung
der Eigentumsverhältnisse und der in ihnen gründenden kapitalistischen
Mehrwertaneignung- bzw. Ausbeutungsformen. Wenn dieser neue Staat in die Produktionsverhältnisse
eingreift, so ja gerade im Gegenteil, um die Eigentumsverhältnisse sicherzustellen,
um durch Einbindung der revolutionären Klasse in seinen totalitären Zusammenhang
für die Aufrechterhaltung der gewohnten Eigentumsordnung, die Garantie ökonomischer
Sicherheit, ist der Gewinn, den die bürgerliche Klasse sich von der neuen Staatsfunktion
verspricht, und in der Tat der zureichende Grund für das Auftreten der neuen
Funktion. Der Preis, den die bürgerliche Klasse für ihre so erkaufte ökonomische
Sicherheit zahlt, ist ihre teilweise ökonomische und vollständige politische
Entmachtung durch die neue Staatsfunktion. Für die alten Formen einer von der
bürgerlichen Klasse gestellten Öffentlichkeit bzw. eines von der Bourgeoisie
delegierten Staatswesens ist neben bzw. in der neuen, mit ökonomisch weitestgehenden
Vollmachten ausgestatteten, faschistischen Staatsmaschinerie kein Platz mehr. Wo
bürgerliche Öffentlichkeitsanspruch und bürgerliche Staatsrepräsentanz
alter Prägung unter diesen Umständen sich regen, geraten sie automatisch
in Konkurrenz zur neuen Wirklichkeit des faschistischen Staates und werden von diesem
sei's nachdrücklich in die Schranken gewiesen, sei's gewalttätig abgefertigt.
Den Preis also für ihre ökonomische Errettung und Sicherstellung durch
den faschistischen Staat bezahlt die von Kapital profitierende bürgerliche
Klasse mit dem Opfer ihrer politischen Repräsentanz und dem Verlust ihrer gesellschaftlichen
Öffentlichkeit. Das ist ein ziemlich hoher Preis, zumal sich in praxi zeigt,
daß der faschistischer Nothelfer und Revolutionsumwandler vom Dienst ein in
seinen finanziellen Ansprüchen ebenso kostspieliger und zum Gangstertum disponierter
wie in seinem außenpolitischen Ambitionen unberechenbarer und zum militärischen
Abenteurertum neigender Hausgenosse ist, den längerfristig unter Kontrolle
zu halten fast ein Ding der Unmöglichkeit scheint. Aber dennoch bleibt der
faschistische Staat das Patentrezept, das, wenn nicht manifest, so jedenfalls doch
latent, das grundlegende gesellschaftliche Ordnungskonzept der bürgerlichen
Moderne. Das läßt sich beispielhaft an der Bundesrepublik studieren,
an der in ihr praktizierten Mischung aus Abwehrgesten gegen den gehabten Nationalsozialismus
und Festhalten an wesentlichen faschistischen Prinzipien, an der Art, wie in vorerst
abgeschwächter Form die staatliche Arbeitsfront im Konzept der Sozialpartnerschaft,
die verschworene Volksgemeinschaft im Konzept der Solidargemeinschaft aller Demokraten,
die staatlich gelenkte Monopolwirtschaft im Konzept einer staatlich gesteuerten
Marktwirtschaft sich reproduziert; an der Art, wie jede miese kleine Regierung sich
à la 18. Brumaire mit dem revolutionären Anspruch einer umfassenden,
"moralisch-geistigen" Erneuerung einführen und mit dem totalitären
Pathos einer Volksregierung, einer Regierung sei's des "kleinen Mannes auf
der Straße", sei's der "Menschen in unserem Lande", etablieren
muß. Zu attraktiv ist offenbar für die bürgerliche Klasse die "Auflösung"
und "Aufhebung" des Klassenantagonismus im faschistischen Staat, zu sehr
entspricht ihrer kapitalen Rationalität und Logik diese in persona des Faschismus
geleistete Umfunktionierung der Arbeit aus einem dem Kapital tragende Substanz,
als daß sie der Versuchung zur Faschisierung auf Dauer widerstehend könnte,
als daß sie nicht früher oder später bereit sein sollte, dieser
Versuchung auch um den dafür zu zahlenden Preis des Verlusts ihres gesellschaftlichen
Bewußtseins, ihrer öffentlichen Repräsentanz, ihrer politischen
Intelligenz nachzugeben. Wir leben, daran besteht m.E. kein Zweifel, im Zeitalter
des Faschismus in der Ära des manifest oder latent faschistischen Staatsapparats."
(aus: Ulrich Enderwitz Die Herrschaft des Apparats. Science Fiction als Faschismustheorie.
In: Ilse Bindseil/Ulrich Enderwitz, Der Wahnsinn der Wirklichkeit, Ideologiekritische
Essays, tende Verlag 1987, S.56ff)
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt