von Gudrun Hentges
Rassismus entsteht durch die "verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung
tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers
und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder Aggressionen
gerechtfertigt werden sollen." (Memmi 1987)
Thema dieses Textes ist die Frage nach den Ursachen des Rassismus.
Folgende Ursachenerklärungen werde ich kurz vorstellen.
1. Die Angst vor dem Fremden - eine anthropologische Grundkonstante?
In Diskussionen über Fremdenangst und Rassismus wird oft auf die
Biologie verwiesen. Einige Theoretiker wie beispielsweise Robert Ardrey
versuchen, eine Entwicklungslinie von den Schleimpilzen bis hin zur Nation
zu ziehen, um somit die Aggression gegen Fremde zu begründen. Ardrey
verweist auf einen US-amerikanischen Biologen, der nachgewiesen habe, daß
die Größe des sozialen Territoriums bei allen Arten von Schleimpilzen
konstant sei. Er konnte auch nachweisen, daß die Schleimpilze zur
Verteidigung ihres Territoriums ein bestimmtes Gas verwenden, um ihr Territorium
vor Eindringlingen zu schützen. Ähnlich verhielten sich auch
Ameisen und Termiten. Jede Kolonie verfüge über einen bestimmten
Geruch, so daß die Insekten, wenn sie zur falschen Kolonie zurückkehrten,
sofort angegriffen würden. Daraus folgert Ardrey, daß die Abgrenzung
und die Aggression gegenüber Fremden im genetischen Programm des Menschen
festgeschrieben sei.
Andere Soziobiologen wie beispielsweise Irenäus Eibl-Eibesfeldt
behaupten ebenfalls, es gebe eine dem Menschen angeborene "Fremdenfurcht".
Diese Xenophobie sei verantwortlich für ein "Urmißtrauen" zwischen
einander fremden Menschen und Menschengruppen. Als Indiz führt er
an, daß bei Säuglingen in einer bestimmten Phase zu beobachten
sei, daß sie fremden Personen mißtrauisch bis ängstlich
begegneten, auch dann, wenn sie zuvor keinerlei schlechte Erfahrungen gemacht
hätten. Dieses "Fremdeln" sei ein Indiz für die dem Menschen
angeborene Xenophobie. Als weiteres Indiz führt Eibl-Eibesfeldt die
Beobachtung an, daß Fremdenfurcht und Fremdenhaß keine Fiktionen
von Wissenschaftlern seien, sondern alltägliche Realität. Eibl-Eibesfeldt
sieht die Ursachen des Rassismus in der biologischen Disposition des Menschen
verwurzelt, in der ihm eigenen Xenophobie.
Die Wochenzeitung "Die Zeit" befaßte sich im Juli 1993 in einer
dreiteiligen Artikelfolge mit der Frage "Werden wir mit einem Urmißtrauen
gegen Fremde geboren?" Dieter E. Zimmer, der Autor dieser Artikelfolge,
stellt hier ausführlich die Position von Eibl-Eibesfeldt dar, teilt
sie zwar nicht in allen Punkten, trägt jedoch dazu bei, daß
dessen Positionen in einer sich als liberal verstehenden Wochenzeitung
diskussionswürdig werden. Im dritten Teil der Serie mit dem Titel
"Wer ist das Volk?" vertritt Zimmer folgende Thesen:
Je heftiger die ethnische Zugehörigkeit heute verleugnet werde,
desto unkontrollierter werde sie eines Tages wieder hervorbrechen. - Demnach
plädiert er für eine ethnische Identität der Deutschen,
für ein "Deutschtum". Dieses sei die beste Prävention gegen Fremdenfeindlichkeit.
Diejenigen, die Brandsätze werfen, seien nur vage politisiert
und ließen ihrem atavistischen (einem früheren Stadium der Menschheitsentwicklung
entsprechenden) Effekt freien Lauf. - Rassistisch motivierte Gewalttaten
sind nach Meinung von Zimmer nicht politisch, sondern lediglich soziobiologisch
zu erklären.
Dieser atavistische Reflex könne durch ein ebenso mächtiges
Bedürfnis gebremst werden: durch "das Bedürfnis, in Harmonie
mit der eigenen Gruppe zu leben." - Auch hier beschwört Zimmer wieder
die nationale oder ethnische Identität aller Deutschen.
Die Ethnizität sei ein biologisches Schicksal. Auch für die
Deutschen gelte: "Die Hoffnung mancher Deutscher, sie könnten irgendwie
ihr Deutschtum ablegen und schnurstracks zu Europäern oder Weltbürgern,
schlicht zu Menschen werden, ist trügerisch." - Hier findet sich eine
gefährliche Nähe zur Ideologie der Neuen Rechten: die Menschheit
wird von der Neuen Rechten als ein bloßes Konstrukt, "Rassen" oder
Ethnien demgegenüber als organische Einheiten betrachtet.
Den zuvor bereits erwähnten atavistischen Affekten könne
man nur mit einem angeblichen Realitätssinn begegnen. Die unterschiedlich
großen Distanzen zwischen den verschiedenen Ethnien müßten
berücksichtigt werden. (Die ethnische Distanz zwischen Polen und Deutschen
sei geringer als die zwischen Deutschen und anderen Gruppen.) - Zimmers
Argumentation liegt ein ethnopluralistisches Denken zugrunde: die Position,
daß eine Vermischung der Ethnien schädlich, eine Reinhaltung
hingegen erstrebenswert ist.
Den Deutschen müsse ein Bedürfnis nach Ethnizität zugestanden
werden. Das Bedürfnis danach, "sich nicht auch zu Hause als Ausländer
vorkommen zu müssen," sei "nur menschlich und noch lange nicht dasselbe
wie nationalistischer Taumel". - Demnach geht Zimmer davon aus, daß
jegliche politischeÄußerungen, die auf einen Zuzugsstopp oder
eine Ausweisung von Ausländern hinauslaufen, nicht Ausdruck eines
nationalistischen Taumels, sondern ein menschliches Bedürfnis schlechthin
seien.
Abschließend fordert Zimmer die Begrenzung des Zuzugs von Ausländern
als "Vorbedingung dafür, daß der Kampf gegen die Ausländerfeindlichkeit
nicht von vornherein verloren ist." Diese Forderung begründet er damit,
daß man die "ethnische Absorptionsfähigkeit" nicht überfordern
dürfe.
Der hier von Dieter E. Zimmer vorgelegte Begründungszusammenhang
für das Entstehen von Fremdenfeindlichkeit und Fremdenhaß könnte
auch in der Weise von Ideologen der Neuen Rechten vertreten werden (Triebstruktur
der Menschen, Territorialtrieb, Absage an den Universalismus, Ethnopluralismus,
Überfremdung). Anhand dieses Erklärungsansatzes wird deutlich,
welche politischen Konsequenzen aus einer (sozio-) biologischen Ursachenerklärung
erwachsen.
2. Ethnopsychoanalyse: das ambivalente Verhältnis zum Fremden
Die Ethnopsychoanalyse arbeitet ebenso wie die hier besprochenen Ansätze
mit den Kategorien "das Eigene", "das Andere", "das Fremde", die "ethnische
Identität". Im Gegensatz zu den oben vorgestellten Interpretationsansätzen
(Ardrey, Eibl-Eibesfeld, Zimmer) gehen die VertreterInnen der Ethnopsychoanalyse
jedoch davon aus, daß das "Fremde" nicht ausschließlich als
Bedrohung erlebt wird, sondern von dem Fremden auch eine Faszination ausgeht.(...)
Eine fremde Ethnie könne zum Inbegriff all dessen werden, was in der
eigenen Kultur verleugnet werden muß. Demgegenüber biete die
Faszination, die vom Fremden ausgehe, eine Möglichkeit zur Überwindung
der Angst. In Abgrenzung zur biologischen Argumentation weist Erdheim darauf
hin, daß die Kultur neue Maßstäbe setze und Grenzen überschreite
(Sprachen, Mythen, Eßgewohnheiten, technische Geräte). "Kultur
ist das, was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht, sie stellt
das Produkt der Veränderung des Eigenen durch die Aufnahme des Fremden
dar."
Die Position Erdheims läßt sich folgendermaßen zusammenfassen:
In jeder Kultur lassen sich Spannungsherde finden, von denen Konflikte
ausgehen, und die ihrerseits den Kulturwandel vorantreiben: das Verhältnis
zwischen den Geschlechtern, den Generationen und den verschiedenen Ethnien.
Geht der Kulturwandel zu schnell vonstatten, setzen Identitätsformen
Angst frei. Es kommt zu Orientierungslosigkeit, Sinnverlust, Verunsicherung
und Ohnmacht. Aufgrund dieser Angst erfolgt ein Rückgriff auf die
(infantile) psychohygienische Methode: negative Anteile der Eigenen werden
auf das Fremde projiziert. Fremdenfeindlichkeit führt zu erstarrten
Identitätsformen, die z.B. in Form des Rechtsextremismus ihren Ausdruck
finden.
Kritik an Erdheim: Die Vertreter der Ethnopsychoanalyse unterscheiden
sich in einem wesentlichen Punkt von den eingangs erwähnten Soziobiologen:
sie unterscheiden zwischen dem Verhalten von Tieren und dem von Menschen.
Kultur ist für die Ethnopsychoanalyse ein Produkt der menschlichen
Vergesellschaftung und als solches immer auch Produkt von Grenzüberschreitungen.
Insofern läuft die Ethnopsychoanalyse auch nicht Gefahr, für
eine Abgrenzung der Ethnien untereinander zu plädieren, wohl aber
für einen langsamer vonstatten gehenden Kulturwandel, um die ethnische
Identität nicht zu gefährden.
Die Ethnopsychoanalyse benennt lediglich die individualgeschichtlichen
Voraussetzungen für die Entstehung des Bild des Fremden. Sie ignoriert
sowohl den konkreten gesellschaftlichen Kontext, in dem das Fremde wahrgenommen
wird - Kolonialismus, Sklaverei, Eurozentrismus, Zwangsarbeit, Feindbildkonstruktion
etc. - als auch die ökonomische und politische Funktion, die damit
verbunden ist. Insofern ist auch der Erklärungsansatz, den die Ethnopsychoanalyse
liefert, unzureichend.
3. Rassismus - Ausdruck der Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen
und Kompensation der erfahrenen Ausgeliefertheit und Bedeutungslosigkeit
VertreterInnen der Kritischen Psychologie (u.a. Ute Osterkamp) warnen
vor der Gefahr der Psychologisierung bzw. der Personalisierung von Ausländerfeindlichkeit
und Rassismus. Weder die persönliche oder nationale Eigenart der einheimischen
noch die der "ausländischen" Bevölkerung könnten als Ursache
für Rassismus in Betracht gezogen werden. In das Zentrum ihrer Betrachtung
stellt Osterkamp das Kapitalverhältnis, welches nicht nur den Produktionsbereich
bestimmt, sondern in alle übrigen Lebensbereiche hineinreicht und
prägend wirkt.
Aufgrund der Tatsache, daß die Menschen diesen gesellschaftlichen
Verhältnissen ausgeliefert sind und sie nicht - oder zumindest nur
geringfügig - beeinflussen können, entsteht eine Angst vor gesellschaftlichen
Veränderungen. Diese Angst ist, wie Osterkamp richtig bemerkt, keine
"menschliche Naturkonstante", sondern gesellschaftlich produziert.
Unter solchen Bedingungen beugen sich die Menschen den Interessen jener,
"die über die Mittel der Bedürfnisbefriedigung verfügen."
Ebenso bleibt, so Osterkamp, außer Acht, daß "Freiräume
nur in dem Maße zugestanden werden, wie sie sich mit den herrschenden
Interessen vereinbaren lassen und diese somit ideologisch festigen." Bezogen
auf die Erklärung des Phänomens Rassismus bedeutet dies, daß
hier eine "Identifikation mit dem Aggressor" festzustellen ist. Die Beherrschten
machen sich die Interessen der Herrschenden zu eigen, sie stellen sich
in den Dienst der Herrschenden, um deren Aggressionen von sich abzuwenden.
Jede Form von Widerständigkeit - sei es die eigene oder die der anderen
- unterdrücken sie.
Gefühle wie Angst und Aggression sind somit Ausdruck der ungesicherten
individuellen Existenz, verweisen auf die mangelnde Befriedigung zentralen
Lebensansprüche und implizieren eine Kritik an den gesellschaftlichen
Verhältnissen. Rassistisch motivierte Gewalttaten gründen nach
Meinung von Osterkamp weniger in Aggressionen gegenüber Nichtdeutschen,
sondern eher in der Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen, durch
die Menschen überrollt und marginalisiert zu werden drohen. Der herrschenden
Politik gelingt es, dieses Gefühle allgemeiner Ausgeliefertheit und
Ohnmacht systematisch in Bereiche umzulenken, die scheinbar in den Gestaltungsspielraum
der Einheimischen fallen: Die Ausländer- und Asylpolitik ist für
eine solche Strategie der Umlenkung prädestiniert.
Osterkamp hat - in Abgrenzung von den biologistischen und ethnopsychoanalytischen
Interpretationsansätzen - einen theoretischen Ansatz formuliert, der
den Zusammenhang von Rassismus und Kapitalinteressen näher beleuchtet.
Sie berücksichtigt die objektive und subjektive Funktionalität
rassistischer Ideologien.
4. Rassismus - Zauberformel der kapitalistischen Akkumulation
Zur Maximierung der Kapitalakkumulation sei es erforderlich, die Produktionskosten
- die Kosten der Ware Arbeitskraft - und die Kosten, die durch politische
Störungen entstehen könnten - beispielsweise durch die politischen
Aktivitäten der ArbeiterInnenbewegung - möglichst gering zu halten.
"Der Rassismus ist die Zauberformel, die diese Zielvorstellungen miteinander
in Einklang bringt." Wallerstein konzentriert sich in seiner Analyse des
Rassismus auf die Funktion, die er für den Prozeß der kapitalistischen
Akkumulation hat.
In die gleiche Richtung weist auch ein Beitrag von Werner Ruf, in dem
er zwei ökonomische Ursachen für Rassismus benennt: "Durch massive
Anwendung menschlicher Arbeitskraft zu Billiglöhnen wird dem tendenziellen
Fall der Profitrate entgegengewirkt." Sowie: "Zweitens ist der koloniale
Arbeiter &
145;prädestiniert&
146; für niedrig qualifizierte Arbeiten, d.h. für seine Bildung/Ausbildung
entfallen auf das Kapital gleichfalls sehr geringe Kosten."
Das Interesse dieser beiden Autoren gilt der Funktion des Rassismus
für die kapitalistische Akkumulation. Damit können Wallerstein
und Ruf jedoch noch nicht erklären, in welcher Weise der Rassismus
von einer Ideologie der Herrschenden zu einer Ideologie der Beherrschten
wird.
Rassismus läßt sich weder aus der Biologie noch aus der
menschlichen Psyche heraus erklären. Der soziobiologische und der
ethnopsychologische Ansatz greifen zu kurz. Sie blenden das Wechselverhältnis
zwischen Individuum und Gesellschaft aus, lassen Produktions- und Reproduktionsbedingungen
unberücksichtigt. Schlägt das Pendel bei den Soziobiologen und
Ethnopsychoanalytikern zu weit in Richtung Psyche und genetische Disposition
aus, so schlägt das Pendel bei Wallerstein zu weit in Richtung Weltmarkt
und Ökonomie aus.
Er bedarf einer Rassismustheorie, die sich jenseits eines verengenden
Erklärungsansatzes bewegt. Elemente einer solchen Rassismustheorie
finden sich neben Osterkamp bei Miles, Hall, Kalpaka/Räthzel, Memmi,
Rommelspacher u.a. Sie beschreiben das Zusammenspiel ökonomischer,
politischer und ideologischer Faktoren, die Rassismus begründen und
begünstigen.
5. Neuere Marxistische Theorien - Anforderungen an eine Rassismustheorie
Miles (1991) beschreibt den Zusammenhang zwischen Kolonialismus, unfreier
Arbeit, Nationalismus, Kapitalismus, Sexismus und Rassismus. Er weist jedoch
die Behauptung zurück, daß der Rassismus lediglich eine bloße
Funktion der kapitalistischen Produktionsweise sei.
Miles plädiert dafür, daß sich der Begriff Rassismus
ausschließlich auf ein ideologisches Phänomen beziehen soll.
Für Praktiken und Prozesse, denen die Ideologie des Rassismus zugrundeliegt,
verwendet er den Begriff der "Ausgrenzungspraxis". Mit dem Begriff der
"Ein- und Ausgrenzungspraxen" beschreibt Miles Ideologien, die festgemacht
an wirklichen oder zugeschriebenen Merkmalen Zugangsberechtigungen zu materiellen
Gütern, Status usw. eröffnen oder verschließen.
Wie entsteht Rassismus nach der Meinung von Miles? Ausgehend von biologischen
oder kulturellen Merkmalen erfolgt eine Rassenkonstruktion. Der so kategorisierten
Gruppe werden weitere, negativ bewertete Merkmale zugeschrieben. In der
Darstellung der so konstruierten Gruppe wird nahegelegt, daß sie
negative Konsequenzen für andere Gruppen zu verantworten habe. Die
historischen Bilder des Anderen werden fortwährend an die aktuellen
Verhältnisse angepaßt, rekonstruiert und reproduziert. Rassismus
ist der Versuch, bestimmte ökonomische und politische Verhältnisse
zu sinnhaft zu begreifen und wurzelt deshalb in diesen Verhältnissen.
Das bedeutet u. a., daß Strategien gegen Rassismus darauf ausgerichtet
sein sollten, zu untersuchen, wie Rassismus von Menschen in unterschiedlichen
Klassenpositionen aktiv rekonstruiert wird.
Nora Räthzel beschreibt Rassismus als "rebellierende Selbstunterwerfung",
d.h. als einen Versuch, handlungsfähig zu sein gegenüber gesellschaftlichen
Verhältnissen, denen man sich ausgeliefert fühlt. Das Ausmachen
von Sündenböcken versetze die Individuen in die Rolle von aktiv
Handelnden . Gesellschaftliche Probleme und Widersprüche werden in
der Weise transformiert, daß ein innerer Widerspruch in einen Innen-Außen-Widerspruch
transformiert werden kann. Es wird eine innere, Schutz bietende Handlungsgemeinschaft
produziert. Das autonom handelnde Individuum gilt als die zentrale Größe
unserer Gesellschaftsform und eben diese Ideologie führt dazu, daß
grundlegende Unterdrückungsstrukturen nicht wahrgenommen werden, weil
das Anerkennen eigener Beschränkungen durch die gesellschaftlichen
Verhältnisse bedeuten würde, daß man sich gegen diese Verhältnisse
zur Wehr setzen müßte. Ein Versuch Rassismus zu bekämpfen
muß demnach "...das Bedürfnis gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit
ernst nehmen, das sich in verschiedenen Rassismen in unterschiedlicher
Weise äußert und daran arbeiten, individuelle Konfliktlösungsstrategien
erkennbar zu machen und die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu
ändern, daß sie selbst das Feld von Handeln und nicht von Unterwerfung
sind.
Stuart Hall beschreibt Rassismen als sich permanent verändernde
Praxen. Die unterschiedlichen Formen historischer Rassismen sind nicht
auf eine allgemeine Geschichte rückführbar und nicht allein durch
ökonomische Funktionalität erklärbar. Nach Hall ist Rassismus
"ein Ensemble klar unterschiedener ökonomischer, politischer und ideologischer
Praxen, die konkret mit anderen Praktiken in der Gesellschaftsform artikuliert
sind..." Durch diese Praktiken werden verschiedene soziale Gruppen in Beziehung
zueinander und in Bezug auf die elementaren Strukturen der Gesellschaft
positioniert und fixiert, diese sozialen Praktiken werden festgeschrieben
und damit legitimiert. Sie sichern die Hegemonie einer dominanten Gruppe
über eine Reihe von untergeordneten Gruppen so, daß es für
die produktive Grundlage der Gesellschaftsform günstig ist. Ökonomische
Aspekte sind für diese gesellschaftlichen Positionszuweisungen wichtig,
die rassistischen Praxen entstehen jedoch nicht einzig und durch allein
ökonomischen Zwang, sondern sind Teil eines Geflechtes von Machtverhältnissen
und Ideologien (Kolonialismus, Nationalismus, Sexismus, Klassismus, kulturelle
Hegemonie).
Albert Memmi beschreibt Rassismus als Mechanismus zur Rechtfertigung
von Privilegien und Aggressionen, der sich durch die gesamte Gesellschaft
zieht. Er ist die Folge einer Angst, tatsächliche oder vermeintliche
Privilegien zu verlieren. Seiner Auffassung nach gibt es auch einen Rassismus
der Beherrschten, die offensichtlich keine Privilegien besitzen. Wie in
einer "Pyramide der kleinen Tyrannen" richtet sich der Rassismus gegen
alle, die noch ärmer dran sind. So wird Unterdrückung von oben
nach unten weitergereicht und durchzieht alle gesellschaftlichen Bereiche.
Ähnlich argumentiert Birgit Rommelbacher mit dem geprägten
Begriff der Dominanzkultur, der auf ihre These zurückgeht, daß
sich Macht im Zuge der Moderne immer weiter ausdifferenziert und in die
Gesellschaft hineinverlagert habe. Angesichts der Vieldimensionalität
von Macht wird jede und jeder zunehmend zum Subjekt und Objekt der Macht.
Der Begriff der Dominanz beinhaltet die Idee, daß Macht sich auf
weitgehende Zustimmung stützt, indem sie sich über die sozialen
Strukturen und internalisierten (verinnerlichten) Normen bis in die subjektiven
Normen der Einzelnen hinein vermittelt. Das bedeutet, daß Macht und
Unterordnung keine sich gegenseitig ausschließenden Positionen sind,
sondern sich in einem Subjekt vereinigen. Im Gegensatz zu Memmi argumentiert
Rommelspacher, daß alle Angehörigen der Mehrheitskultur Gewinn
aus Rassismus ziehen, wenn sie das Privileg kultureller Dominanz ausspielen.
All diesen Theorien liegt eine Herangehensweise zugrunde, die das Verhältnis
von Macht und Herrschaft komplexer faßt, als ökonomistische
Rassismustheorien und besser dazu geeignet ist, die Verstrickung der Subjekte
in rassistische Diskurse und Praktiken zu fassen. Ihnen zu Folge müssen
antirassistische Strategien über das Kapitalverhältnis hinaus
auch andere ideologische Grundlagen des Rassismus untersuchen und bekämpfen.
Literatur
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Identität, in: Jansen, Mechthild M. / Prokop, Ulrike (Hg.): Fremdenangst
und Fremdenfeindlichkeit, Basel 1993, S. 163-182
Erdheim, Mario. 1993b: Fremdeln. Kulturelle Unverträglichkeit
und Anziehung, in: Kursbuch, Heft 107: Die Unterwanderung Europas, März
1992, S. 19-32, [Nachdruck in: Hessische Landeszentrale für politische
Bildung / Bundeszentrale für politische Bildung
(Hg.): Argumente gegen den Haß. Über Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit
und Rechtsextremismus, Band II, Bonn 1993, S. 79-85]
Hall, Stuart. 1994: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte
Schriften 2, Hamburg 1994
Memmi, Albert. 1987: Rassismus, Frankfurt/M. 1987
Miles, Robert. 1991: Rassismus: Einführung in die Geschichte und
Theorie eines Begriffs, Hamburg, 1991
Osterkamp, Ute. 1989: Gesellschaftliche Widersprüche und Rassismus,
in: Autrata, Otger / Kaschuba, Gerrit u.a. (Hg.): Theorien über Rassismus.
Eine Tübinger Veranstaltungsreihe [Argument-Sonderband AS 164], Hamburg
1989, S. 113-134
Osterkamp, Ute. 1993: Theoretische Zugänge und Abwehrformen psychologischer
Analyse des Phänomens Rassismus / Fremdenfeindlichkeit, in: Institut
für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V. (Hg.): Rassismus
- Fremdenfeindlichkeit - Rechtsextremismus, Bielefeld 1993
Räthzel, Nora. Rebellierende Selbstunterwerfung. Ein Deutungsversuch
über den alltäglichen Rassismus. in: links Nr.91, S.24-26.
Rommelspacher, Birgit.1995: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und
Macht., Berlin 1995
Ruf, Werner. 1989: Ökonomie und Rassismus, in: Autrata, Otger
/ Kaschuba, Gerrit u.a. (Hg.): Theorien über Rassismus [AS 164], Hamburg
1989
Wallerstein, Immanuel. 1990: Ideologische Spannungsverhältnisse
im Kapitalismus: Universalismus vs. Sexismus und Rassismus, in: Balibar,
Etienne / Wallerstein, Immanuel: Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten,
Hamburg 1990
Zimmer, D.E. 1979: Unsere erste Natur. Die biologischen Ursprünge
menschlichen Verhaltens, München 1979
Zimmer, Dieter E. 1993a: Die Angst vor dem Anderen, in: Die Zeit, 9.
7. 1993
Zimmer, Dieter E. 1993b: Das warme Wir-Gefühl, in: Die Zeit, 16.
7. 1993
Zimmer, Dieter E.1993c: Wer ist das Volk,
in: Die Zeit 23. 7. 1993 * der Originaltext (1994) wurde mit freundlicher Genehmigung der Autorin von der Baustein-Projektgruppe leicht gekürzt und ergänzt, die Fußnoten wurden entfernt