Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit

Rassismus - Streit um die Ursachen


von Gudrun Hentges

Rassismus entsteht durch die "verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder Aggressionen gerechtfertigt werden sollen." (Memmi 1987)
Thema dieses Textes ist die Frage nach den Ursachen des Rassismus. Folgende Ursachenerklärungen werde ich kurz vorstellen.

1. Die Angst vor dem Fremden - eine anthropologische Grundkonstante?

In Diskussionen über Fremdenangst und Rassismus wird oft auf die Biologie verwiesen. Einige Theoretiker wie beispielsweise Robert Ardrey versuchen, eine Entwicklungslinie von den Schleimpilzen bis hin zur Nation zu ziehen, um somit die Aggression gegen Fremde zu begründen. Ardrey verweist auf einen US-amerikanischen Biologen, der nachgewiesen habe, daß die Größe des sozialen Territoriums bei allen Arten von Schleimpilzen konstant sei. Er konnte auch nachweisen, daß die Schleimpilze zur Verteidigung ihres Territoriums ein bestimmtes Gas verwenden, um ihr Territorium vor Eindringlingen zu schützen. Ähnlich verhielten sich auch Ameisen und Termiten. Jede Kolonie verfüge über einen bestimmten Geruch, so daß die Insekten, wenn sie zur falschen Kolonie zurückkehrten, sofort angegriffen würden. Daraus folgert Ardrey, daß die Abgrenzung und die Aggression gegenüber Fremden im genetischen Programm des Menschen festgeschrieben sei.
Andere Soziobiologen wie beispielsweise Irenäus Eibl-Eibesfeldt behaupten ebenfalls, es gebe eine dem Menschen angeborene "Fremdenfurcht". Diese Xenophobie sei verantwortlich für ein "Urmißtrauen" zwischen einander fremden Menschen und Menschengruppen. Als Indiz führt er an, daß bei Säuglingen in einer bestimmten Phase zu beobachten sei, daß sie fremden Personen mißtrauisch bis ängstlich begegneten, auch dann, wenn sie zuvor keinerlei schlechte Erfahrungen gemacht hätten. Dieses "Fremdeln" sei ein Indiz für die dem Menschen angeborene Xenophobie. Als weiteres Indiz führt Eibl-Eibesfeldt die Beobachtung an, daß Fremdenfurcht und Fremdenhaß keine Fiktionen von Wissenschaftlern seien, sondern alltägliche Realität. Eibl-Eibesfeldt sieht die Ursachen des Rassismus in der biologischen Disposition des Menschen verwurzelt, in der ihm eigenen Xenophobie.
Die Wochenzeitung "Die Zeit" befaßte sich im Juli 1993 in einer dreiteiligen Artikelfolge mit der Frage "Werden wir mit einem Urmißtrauen gegen Fremde geboren?" Dieter E. Zimmer, der Autor dieser Artikelfolge, stellt hier ausführlich die Position von Eibl-Eibesfeldt dar, teilt sie zwar nicht in allen Punkten, trägt jedoch dazu bei, daß dessen Positionen in einer sich als liberal verstehenden Wochenzeitung diskussionswürdig werden. Im dritten Teil der Serie mit dem Titel "Wer ist das Volk?" vertritt Zimmer folgende Thesen:
Je heftiger die ethnische Zugehörigkeit heute verleugnet werde, desto unkontrollierter werde sie eines Tages wieder hervorbrechen. - Demnach plädiert er für eine ethnische Identität der Deutschen, für ein "Deutschtum". Dieses sei die beste Prävention gegen Fremdenfeindlichkeit.
Diejenigen, die Brandsätze werfen, seien nur vage politisiert und ließen ihrem atavistischen (einem früheren Stadium der Menschheitsentwicklung entsprechenden) Effekt freien Lauf. - Rassistisch motivierte Gewalttaten sind nach Meinung von Zimmer nicht politisch, sondern lediglich soziobiologisch zu erklären.
Dieser atavistische Reflex könne durch ein ebenso mächtiges Bedürfnis gebremst werden: durch "das Bedürfnis, in Harmonie mit der eigenen Gruppe zu leben." - Auch hier beschwört Zimmer wieder die nationale oder ethnische Identität aller Deutschen.
Die Ethnizität sei ein biologisches Schicksal. Auch für die Deutschen gelte: "Die Hoffnung mancher Deutscher, sie könnten irgendwie ihr Deutschtum ablegen und schnurstracks zu Europäern oder Weltbürgern, schlicht zu Menschen werden, ist trügerisch." - Hier findet sich eine gefährliche Nähe zur Ideologie der Neuen Rechten: die Menschheit wird von der Neuen Rechten als ein bloßes Konstrukt, "Rassen" oder Ethnien demgegenüber als organische Einheiten betrachtet.
Den zuvor bereits erwähnten atavistischen Affekten könne man nur mit einem angeblichen Realitätssinn begegnen. Die unterschiedlich großen Distanzen zwischen den verschiedenen Ethnien müßten berücksichtigt werden. (Die ethnische Distanz zwischen Polen und Deutschen sei geringer als die zwischen Deutschen und anderen Gruppen.) - Zimmers Argumentation liegt ein ethnopluralistisches Denken zugrunde: die Position, daß eine Vermischung der Ethnien schädlich, eine Reinhaltung hingegen erstrebenswert ist.
Den Deutschen müsse ein Bedürfnis nach Ethnizität zugestanden werden. Das Bedürfnis danach, "sich nicht auch zu Hause als Ausländer vorkommen zu müssen," sei "nur menschlich und noch lange nicht dasselbe wie nationalistischer Taumel". - Demnach geht Zimmer davon aus, daß jegliche politischeÄußerungen, die auf einen Zuzugsstopp oder eine Ausweisung von Ausländern hinauslaufen, nicht Ausdruck eines nationalistischen Taumels, sondern ein menschliches Bedürfnis schlechthin seien.
Abschließend fordert Zimmer die Begrenzung des Zuzugs von Ausländern als "Vorbedingung dafür, daß der Kampf gegen die Ausländerfeindlichkeit nicht von vornherein verloren ist." Diese Forderung begründet er damit, daß man die "ethnische Absorptionsfähigkeit" nicht überfordern dürfe.
Der hier von Dieter E. Zimmer vorgelegte Begründungszusammenhang für das Entstehen von Fremdenfeindlichkeit und Fremdenhaß könnte auch in der Weise von Ideologen der Neuen Rechten vertreten werden (Triebstruktur der Menschen, Territorialtrieb, Absage an den Universalismus, Ethnopluralismus, Überfremdung). Anhand dieses Erklärungsansatzes wird deutlich, welche politischen Konsequenzen aus einer (sozio-) biologischen Ursachenerklärung erwachsen.
2. Ethnopsychoanalyse: das ambivalente Verhältnis zum Fremden
Die Ethnopsychoanalyse arbeitet ebenso wie die hier besprochenen Ansätze mit den Kategorien "das Eigene", "das Andere", "das Fremde", die "ethnische Identität". Im Gegensatz zu den oben vorgestellten Interpretationsansätzen (Ardrey, Eibl-Eibesfeld, Zimmer) gehen die VertreterInnen der Ethnopsychoanalyse jedoch davon aus, daß das "Fremde" nicht ausschließlich als Bedrohung erlebt wird, sondern von dem Fremden auch eine Faszination ausgeht.(...) Eine fremde Ethnie könne zum Inbegriff all dessen werden, was in der eigenen Kultur verleugnet werden muß. Demgegenüber biete die Faszination, die vom Fremden ausgehe, eine Möglichkeit zur Überwindung der Angst. In Abgrenzung zur biologischen Argumentation weist Erdheim darauf hin, daß die Kultur neue Maßstäbe setze und Grenzen überschreite (Sprachen, Mythen, Eßgewohnheiten, technische Geräte). "Kultur ist das, was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht, sie stellt das Produkt der Veränderung des Eigenen durch die Aufnahme des Fremden dar."
Die Position Erdheims läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: In jeder Kultur lassen sich Spannungsherde finden, von denen Konflikte ausgehen, und die ihrerseits den Kulturwandel vorantreiben: das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, den Generationen und den verschiedenen Ethnien. Geht der Kulturwandel zu schnell vonstatten, setzen Identitätsformen Angst frei. Es kommt zu Orientierungslosigkeit, Sinnverlust, Verunsicherung und Ohnmacht. Aufgrund dieser Angst erfolgt ein Rückgriff auf die (infantile) psychohygienische Methode: negative Anteile der Eigenen werden auf das Fremde projiziert. Fremdenfeindlichkeit führt zu erstarrten Identitätsformen, die z.B. in Form des Rechtsextremismus ihren Ausdruck finden.
Kritik an Erdheim: Die Vertreter der Ethnopsychoanalyse unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von den eingangs erwähnten Soziobiologen: sie unterscheiden zwischen dem Verhalten von Tieren und dem von Menschen. Kultur ist für die Ethnopsychoanalyse ein Produkt der menschlichen Vergesellschaftung und als solches immer auch Produkt von Grenzüberschreitungen. Insofern läuft die Ethnopsychoanalyse auch nicht Gefahr, für eine Abgrenzung der Ethnien untereinander zu plädieren, wohl aber für einen langsamer vonstatten gehenden Kulturwandel, um die ethnische Identität nicht zu gefährden.
Die Ethnopsychoanalyse benennt lediglich die individualgeschichtlichen Voraussetzungen für die Entstehung des Bild des Fremden. Sie ignoriert sowohl den konkreten gesellschaftlichen Kontext, in dem das Fremde wahrgenommen wird - Kolonialismus, Sklaverei, Eurozentrismus, Zwangsarbeit, Feindbildkonstruktion etc. - als auch die ökonomische und politische Funktion, die damit verbunden ist. Insofern ist auch der Erklärungsansatz, den die Ethnopsychoanalyse liefert, unzureichend.
3. Rassismus - Ausdruck der Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen und Kompensation der erfahrenen Ausgeliefertheit und Bedeutungslosigkeit

VertreterInnen der Kritischen Psychologie (u.a. Ute Osterkamp) warnen vor der Gefahr der Psychologisierung bzw. der Personalisierung von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Weder die persönliche oder nationale Eigenart der einheimischen noch die der "ausländischen" Bevölkerung könnten als Ursache für Rassismus in Betracht gezogen werden. In das Zentrum ihrer Betrachtung stellt Osterkamp das Kapitalverhältnis, welches nicht nur den Produktionsbereich bestimmt, sondern in alle übrigen Lebensbereiche hineinreicht und prägend wirkt.
Aufgrund der Tatsache, daß die Menschen diesen gesellschaftlichen Verhältnissen ausgeliefert sind und sie nicht - oder zumindest nur geringfügig - beeinflussen können, entsteht eine Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen. Diese Angst ist, wie Osterkamp richtig bemerkt, keine "menschliche Naturkonstante", sondern gesellschaftlich produziert.
Unter solchen Bedingungen beugen sich die Menschen den Interessen jener, "die über die Mittel der Bedürfnisbefriedigung verfügen." Ebenso bleibt, so Osterkamp, außer Acht, daß "Freiräume nur in dem Maße zugestanden werden, wie sie sich mit den herrschenden Interessen vereinbaren lassen und diese somit ideologisch festigen." Bezogen auf die Erklärung des Phänomens Rassismus bedeutet dies, daß hier eine "Identifikation mit dem Aggressor" festzustellen ist. Die Beherrschten machen sich die Interessen der Herrschenden zu eigen, sie stellen sich in den Dienst der Herrschenden, um deren Aggressionen von sich abzuwenden. Jede Form von Widerständigkeit - sei es die eigene oder die der anderen - unterdrücken sie.
Gefühle wie Angst und Aggression sind somit Ausdruck der ungesicherten individuellen Existenz, verweisen auf die mangelnde Befriedigung zentralen Lebensansprüche und implizieren eine Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Rassistisch motivierte Gewalttaten gründen nach Meinung von Osterkamp weniger in Aggressionen gegenüber Nichtdeutschen, sondern eher in der Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen, durch die Menschen überrollt und marginalisiert zu werden drohen. Der herrschenden Politik gelingt es, dieses Gefühle allgemeiner Ausgeliefertheit und Ohnmacht systematisch in Bereiche umzulenken, die scheinbar in den Gestaltungsspielraum der Einheimischen fallen: Die Ausländer- und Asylpolitik ist für eine solche Strategie der Umlenkung prädestiniert.
Osterkamp hat - in Abgrenzung von den biologistischen und ethnopsychoanalytischen Interpretationsansätzen - einen theoretischen Ansatz formuliert, der den Zusammenhang von Rassismus und Kapitalinteressen näher beleuchtet. Sie berücksichtigt die objektive und subjektive Funktionalität rassistischer Ideologien.

4. Rassismus - Zauberformel der kapitalistischen Akkumulation

Zur Maximierung der Kapitalakkumulation sei es erforderlich, die Produktionskosten - die Kosten der Ware Arbeitskraft - und die Kosten, die durch politische Störungen entstehen könnten - beispielsweise durch die politischen Aktivitäten der ArbeiterInnenbewegung - möglichst gering zu halten. "Der Rassismus ist die Zauberformel, die diese Zielvorstellungen miteinander in Einklang bringt." Wallerstein konzentriert sich in seiner Analyse des Rassismus auf die Funktion, die er für den Prozeß der kapitalistischen Akkumulation hat.
In die gleiche Richtung weist auch ein Beitrag von Werner Ruf, in dem er zwei ökonomische Ursachen für Rassismus benennt: "Durch massive Anwendung menschlicher Arbeitskraft zu Billiglöhnen wird dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegengewirkt." Sowie: "Zweitens ist der koloniale Arbeiter &
145;prädestiniert&
146; für niedrig qualifizierte Arbeiten, d.h. für seine Bildung/Ausbildung entfallen auf das Kapital gleichfalls sehr geringe Kosten."
Das Interesse dieser beiden Autoren gilt der Funktion des Rassismus für die kapitalistische Akkumulation. Damit können Wallerstein und Ruf jedoch noch nicht erklären, in welcher Weise der Rassismus von einer Ideologie der Herrschenden zu einer Ideologie der Beherrschten wird.
Rassismus läßt sich weder aus der Biologie noch aus der menschlichen Psyche heraus erklären. Der soziobiologische und der ethnopsychologische Ansatz greifen zu kurz. Sie blenden das Wechselverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft aus, lassen Produktions- und Reproduktionsbedingungen unberücksichtigt. Schlägt das Pendel bei den Soziobiologen und Ethnopsychoanalytikern zu weit in Richtung Psyche und genetische Disposition aus, so schlägt das Pendel bei Wallerstein zu weit in Richtung Weltmarkt und Ökonomie aus.
Er bedarf einer Rassismustheorie, die sich jenseits eines verengenden Erklärungsansatzes bewegt. Elemente einer solchen Rassismustheorie finden sich neben Osterkamp bei Miles, Hall, Kalpaka/Räthzel, Memmi, Rommelspacher u.a. Sie beschreiben das Zusammenspiel ökonomischer, politischer und ideologischer Faktoren, die Rassismus begründen und begünstigen.

5. Neuere Marxistische Theorien - Anforderungen an eine Rassismustheorie

Miles (1991) beschreibt den Zusammenhang zwischen Kolonialismus, unfreier Arbeit, Nationalismus, Kapitalismus, Sexismus und Rassismus. Er weist jedoch die Behauptung zurück, daß der Rassismus lediglich eine bloße Funktion der kapitalistischen Produktionsweise sei.
Miles plädiert dafür, daß sich der Begriff Rassismus ausschließlich auf ein ideologisches Phänomen beziehen soll. Für Praktiken und Prozesse, denen die Ideologie des Rassismus zugrundeliegt, verwendet er den Begriff der "Ausgrenzungspraxis". Mit dem Begriff der "Ein- und Ausgrenzungspraxen" beschreibt Miles Ideologien, die festgemacht an wirklichen oder zugeschriebenen Merkmalen Zugangsberechtigungen zu materiellen Gütern, Status usw. eröffnen oder verschließen.
Wie entsteht Rassismus nach der Meinung von Miles? Ausgehend von biologischen oder kulturellen Merkmalen erfolgt eine Rassenkonstruktion. Der so kategorisierten Gruppe werden weitere, negativ bewertete Merkmale zugeschrieben. In der Darstellung der so konstruierten Gruppe wird nahegelegt, daß sie negative Konsequenzen für andere Gruppen zu verantworten habe. Die historischen Bilder des Anderen werden fortwährend an die aktuellen Verhältnisse angepaßt, rekonstruiert und reproduziert. Rassismus ist der Versuch, bestimmte ökonomische und politische Verhältnisse zu sinnhaft zu begreifen und wurzelt deshalb in diesen Verhältnissen. Das bedeutet u. a., daß Strategien gegen Rassismus darauf ausgerichtet sein sollten, zu untersuchen, wie Rassismus von Menschen in unterschiedlichen Klassenpositionen aktiv rekonstruiert wird.
Nora Räthzel beschreibt Rassismus als "rebellierende Selbstunterwerfung", d.h. als einen Versuch, handlungsfähig zu sein gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen, denen man sich ausgeliefert fühlt. Das Ausmachen von Sündenböcken versetze die Individuen in die Rolle von aktiv Handelnden . Gesellschaftliche Probleme und Widersprüche werden in der Weise transformiert, daß ein innerer Widerspruch in einen Innen-Außen-Widerspruch transformiert werden kann. Es wird eine innere, Schutz bietende Handlungsgemeinschaft produziert. Das autonom handelnde Individuum gilt als die zentrale Größe unserer Gesellschaftsform und eben diese Ideologie führt dazu, daß grundlegende Unterdrückungsstrukturen nicht wahrgenommen werden, weil das Anerkennen eigener Beschränkungen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedeuten würde, daß man sich gegen diese Verhältnisse zur Wehr setzen müßte. Ein Versuch Rassismus zu bekämpfen muß demnach "...das Bedürfnis gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit ernst nehmen, das sich in verschiedenen Rassismen in unterschiedlicher Weise äußert und daran arbeiten, individuelle Konfliktlösungsstrategien erkennbar zu machen und die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu ändern, daß sie selbst das Feld von Handeln und nicht von Unterwerfung sind.
Stuart Hall beschreibt Rassismen als sich permanent verändernde Praxen. Die unterschiedlichen Formen historischer Rassismen sind nicht auf eine allgemeine Geschichte rückführbar und nicht allein durch ökonomische Funktionalität erklärbar. Nach Hall ist Rassismus "ein Ensemble klar unterschiedener ökonomischer, politischer und ideologischer Praxen, die konkret mit anderen Praktiken in der Gesellschaftsform artikuliert sind..." Durch diese Praktiken werden verschiedene soziale Gruppen in Beziehung zueinander und in Bezug auf die elementaren Strukturen der Gesellschaft positioniert und fixiert, diese sozialen Praktiken werden festgeschrieben und damit legitimiert. Sie sichern die Hegemonie einer dominanten Gruppe über eine Reihe von untergeordneten Gruppen so, daß es für die produktive Grundlage der Gesellschaftsform günstig ist. Ökonomische Aspekte sind für diese gesellschaftlichen Positionszuweisungen wichtig, die rassistischen Praxen entstehen jedoch nicht einzig und durch allein ökonomischen Zwang, sondern sind Teil eines Geflechtes von Machtverhältnissen und Ideologien (Kolonialismus, Nationalismus, Sexismus, Klassismus, kulturelle Hegemonie).
Albert Memmi beschreibt Rassismus als Mechanismus zur Rechtfertigung von Privilegien und Aggressionen, der sich durch die gesamte Gesellschaft zieht. Er ist die Folge einer Angst, tatsächliche oder vermeintliche Privilegien zu verlieren. Seiner Auffassung nach gibt es auch einen Rassismus der Beherrschten, die offensichtlich keine Privilegien besitzen. Wie in einer "Pyramide der kleinen Tyrannen" richtet sich der Rassismus gegen alle, die noch ärmer dran sind. So wird Unterdrückung von oben nach unten weitergereicht und durchzieht alle gesellschaftlichen Bereiche.
Ähnlich argumentiert Birgit Rommelbacher mit dem geprägten Begriff der Dominanzkultur, der auf ihre These zurückgeht, daß sich Macht im Zuge der Moderne immer weiter ausdifferenziert und in die Gesellschaft hineinverlagert habe. Angesichts der Vieldimensionalität von Macht wird jede und jeder zunehmend zum Subjekt und Objekt der Macht. Der Begriff der Dominanz beinhaltet die Idee, daß Macht sich auf weitgehende Zustimmung stützt, indem sie sich über die sozialen Strukturen und internalisierten (verinnerlichten) Normen bis in die subjektiven Normen der Einzelnen hinein vermittelt. Das bedeutet, daß Macht und Unterordnung keine sich gegenseitig ausschließenden Positionen sind, sondern sich in einem Subjekt vereinigen. Im Gegensatz zu Memmi argumentiert Rommelspacher, daß alle Angehörigen der Mehrheitskultur Gewinn aus Rassismus ziehen, wenn sie das Privileg kultureller Dominanz ausspielen.
All diesen Theorien liegt eine Herangehensweise zugrunde, die das Verhältnis von Macht und Herrschaft komplexer faßt, als ökonomistische Rassismustheorien und besser dazu geeignet ist, die Verstrickung der Subjekte in rassistische Diskurse und Praktiken zu fassen. Ihnen zu Folge müssen antirassistische Strategien über das Kapitalverhältnis hinaus auch andere ideologische Grundlagen des Rassismus untersuchen und bekämpfen.

Literatur
Erdheim, Mario. 1993a: Das Eigene und das Fremde. Über ethnische Identität, in: Jansen, Mechthild M. / Prokop, Ulrike (Hg.): Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit, Basel 1993, S. 163-182
Erdheim, Mario. 1993b: Fremdeln. Kulturelle Unverträglichkeit und Anziehung, in: Kursbuch, Heft 107: Die Unterwanderung Europas, März 1992, S. 19-32, [Nachdruck in: Hessische Landeszentrale für politische Bildung / Bundeszentrale für politische Bildung
(Hg.): Argumente gegen den Haß. Über Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus, Band II, Bonn 1993, S. 79-85]
Hall, Stuart. 1994: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994
Memmi, Albert. 1987: Rassismus, Frankfurt/M. 1987
Miles, Robert. 1991: Rassismus: Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs, Hamburg, 1991
Osterkamp, Ute. 1989: Gesellschaftliche Widersprüche und Rassismus, in: Autrata, Otger / Kaschuba, Gerrit u.a. (Hg.): Theorien über Rassismus. Eine Tübinger Veranstaltungsreihe [Argument-Sonderband AS 164], Hamburg 1989, S. 113-134
Osterkamp, Ute. 1993: Theoretische Zugänge und Abwehrformen psychologischer Analyse des Phänomens Rassismus / Fremdenfeindlichkeit, in: Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V. (Hg.): Rassismus - Fremdenfeindlichkeit - Rechtsextremismus, Bielefeld 1993
Räthzel, Nora. Rebellierende Selbstunterwerfung. Ein Deutungsversuch über den alltäglichen Rassismus. in: links Nr.91, S.24-26.
Rommelspacher, Birgit.1995: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht., Berlin 1995
Ruf, Werner. 1989: Ökonomie und Rassismus, in: Autrata, Otger / Kaschuba, Gerrit u.a. (Hg.): Theorien über Rassismus [AS 164], Hamburg 1989
Wallerstein, Immanuel. 1990: Ideologische Spannungsverhältnisse im Kapitalismus: Universalismus vs. Sexismus und Rassismus, in: Balibar, Etienne / Wallerstein, Immanuel: Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg 1990
Zimmer, D.E. 1979: Unsere erste Natur. Die biologischen Ursprünge menschlichen Verhaltens, München 1979
Zimmer, Dieter E. 1993a: Die Angst vor dem Anderen, in: Die Zeit, 9. 7. 1993
Zimmer, Dieter E. 1993b: Das warme Wir-Gefühl, in: Die Zeit, 16. 7. 1993
Zimmer, Dieter E.1993c: Wer ist das Volk,

in: Die Zeit 23. 7. 1993 * der Originaltext (1994) wurde mit freundlicher Genehmigung der Autorin von der Baustein-Projektgruppe leicht gekürzt und ergänzt, die Fußnoten wurden entfernt