(geschrieben 1982, merkwürdigerweise immer noch so furchtbar
aktuell)
Die Juden in Deutschland sind tot, vernichtet, es gibt sie nicht mehr.
Dennoch gerät man hier leicht in den Verdacht, einer zu sein. Zwar
wird dieser Verdacht (noch) nicht ausgesprochen, aber er ist in sonderbaren
Verknüpfungen enthalten, die ohne ihn nicht zu erklären sind.
Man rechtfertigt zum Beispiel Begins klares und entschiedenes Urteil über
den westdeutschen Bundeskanzler als politisch-moralische Person und wird
dann prompt aufgefordert, sich vom Zionismus zu distanzieren - als schlösse
die Zustimmung zu einem wahren Urteil über den Bundeskanzler dann,
wenn es von einem israelischen Ministerpräsidenten gesprochen wurde,
auch die Verpflichtung ein, sich über den Zionismus eine Meinung gebildet
zu haben und in Fragen israelischer Politik kompetent zu sein. Weil zwischen
beidem aber nicht der geringste sachliche oder logische Zusammenhang besteht,
muß die Aufforderung, man solle sich zum Zionismus äußern,
auf der Vermutung gründen, ein solcher Zusammenhane sei durch die
Person gegeben: Wer Begin gegen die beleidigte Volksgemeinschaft in Schutz
nimmt, muß ein Jude sein. Als solcher hat er die Pflicht, zu beweisen,
daß er ein guter Jude ist, d.h. er muß sich vom Zionismus distanzieren.
Die Bitte, den Arier-Nachweis vorzuzeigen, schwingt verstohlen auch in
der bei allen linken und alternativen Versammlungen und Diskussionen mittlerweile
üblichen Standard-Frage mit, wer er denn eigentlich sei. Die Frage
ist leicht zu beantworten, ganz ohne Ahnenforschung: So sicher, wie man
kein Jude im Sinne von vor 1933 ist - denn diese Juden existieren nicht
mehr -, so sicher ist man einer im Sinne von nach 1933. Man hat nämlich
damals den Begriff 'Halbjude' eingeführt, einen Begriff, der nach
weiterer Differenzierung verlangt, und je weiter diese Differenzierung
getrieben wird, desto großer wird auch die Anzahl der Juden, spätestens
beim Promille-Juden ist dann aus Gründen statistischer Gesetzmäßigkeit
wohl jeder dabei. Stets folgert aus dem Ideal absoluter Reinheit die deprimierende
Diagnose: Totalverseuchung. Totalvernichtung inklusive der eigenen Bevölkerung,
war konsequenterweise die Therapie.
Wenn also, nach Auschwitz, die Juden alle und niemand sind, gegen wen
richtet sich dann der Antisemitismus in Deutschland? Er richtet sich nicht
gegen jene Deutschen, die beträchtlichen inszenatorischen Aufwand
betreiben müssen, um als Juden zu gelten, sondern er richtet sich
gegen Israel, und die Rehabilitierung Deutschlands als Nation ist sein
Zweck. Weil gerade die Linken hier weder den Nationalsozialismus noch Auschwitz
begriffen haben, weil sie ersteren mit einem besonders tyrannischem Regime
und letzteren mit einem besonders grausamen Blutbad verwechseln, deshalb
haben sie die Hoffnung nicht aufgegeben, das Unrecht, welches sie anderswo
entdecken, könne Deutschland entlasten. Wenn sich die deutsche Vergangenheit
schon nicht verteidigen und rechtfertigen läßt, dann soll wenigstens
niemand besser sein, und schon gar nicht die Juden. Die Annahme, der Zionismus
könne diesem Nachweis dienen, hat ihn für die westdeutsche Linke
so außerordenthch und weit über das Maß seiner realen
Bedeutung hinaus interessant gemacht. Dreihundert von der südafrikanischen
Polizei in Soweto erschossene Schüler kümmern niemand. Drei erschossene
Schüler in Hebron machen die westdeutsche Linke vor Empörung
fassungslos. Die Unterdrückung und Verfolgung der Palästinenser
durch Israel wird so genau beobachtet und so leidenschaftlich angeprangert,
weil sie beweisen soll: es gibt keinen Unterschied. So merkt die westdeutsche
Linke nicht, daß ihr der Unterschied zwischen Deutschland und den
anderen Nationen mit jedem Versuch, ihn zu verwischen und zu tilgen, nur
umso kolossaler entgegentritt. Gewiß werden die Palästinenser
von Israel unterdrückt, in Einzelfällen gefoltert; dies aber
unter Bedingungen, unter denen es in Deutschland längst keine parlamentarische
Demokratie, keine Opposition und keine bürgerlichen Freiheitsrechte
mehr gäbe. Ob im Recht oder im Unrecht -jedenfalls sind die Palästinenser
für Israel eine reale Bedrohung. Hier aber hat eine fiktive Bedrohung
genügt, um die ganze Bevölkerung in ein Volk von Häschern
und Denunzianten zu verwandeln, damals, als man in Stammheim drei Leichen
fand, und keiner der tapferen Wortführer gegen Israel hat den Mut
gehabt, nach der Todesursache zu fragen.
Das Unrecht überall auf der Welt zu verurteilen ist das Recht
auch der Deutschen. Moralische Empörung aber ist hier stets mit einer
guten Portion Heuchelei vermischt. Empörung setzt voraus, daß
man sich wundert, daß man die Dinge, die geschehen, für unglaublich
hält. Viel weniger aber noch als anderswo kann es in Deutschland wundern,
daß Israel seinen erklärten Gegner blutig unterdrückt.
Die einzige Frage, die hier Rätsel aufgeben kann, lautet: Warum waren
die Machthaber in Israel so zimperlich? Warum sorgte Israel nicht dafür,
daß militante Schülerdemonstrationen in Hebron oder Ramallah
nicht mehr stattfinden können? Oder ist denn, anders gefragt, auch
nur ein Fall bekannt, wo Juden nach 1933 in Deutschland der Polizei eine
Straßenschlacht geliefert hätten? Hat es Unruhe und Aufruhr
unter denen gegeben, die in Sammellagern auf ihre Deportation warten mußten?
Gab es blutige Kämpfe und Schießereien wie in Ramallah oder
Hebron, die das Interesse der Weltöffentlichkeit auf sich lenkten?
Man kennt die Antwort, und damit kennt man den Unterschied. Überall
auf der Welt und zu allen Zeiten wurden Menschen umgebracht. Hier aber
hat ein namenloses Grauen lebendige Menschen in bewegliche Tote verwandelt.
Gestorben waren sie schon, bevor sie in die Lager kamen. Dort sind sie
nur noch vernichtet worden. An deutschen Vernichtungslagern, und nirgends
sonst, findet der Begriff Genozid seine Bestimmung: als planmäßiger,
systematisch betriebener, kontinuierlicher Mord an Millionen Menschen,
mit welchem sich kein anderer Zweck und keine andere Absicht verbindet
als bloß die der Vernichtung.
Wenn nun, im dritten Nahostkrieg, Mitte Juni 1982, die westdeutsche
Linke und allen voran die 'taz' von Völkermord, Holocaust und Vernichtung
spricht und die Operationen der israelischen Armee damit meint, dann ist
mit dieser verlogenen Zweckpropaganda weder den bedrohten Palästinensern
geholfen noch erleidet die israelische Armee den redlich verdienten Schaden,
sondern der eizige Nutznießer sind deutsche Nationalgefühle.
Im Lichte israelischer Untaten besehen verliert, so muß es dem regelmäßigen
taz-Leser scheinen, Auschwitz sowohl seine Einmaligkeit als auch seine
Schreckhchkeit. Und der Verdacht muß keimen: so außergewöhnlich
völkermörderisch, wie die Israelis nun sind, war Auschwitz vielleicht
nur ein kleiner Fehler. So nahe liegt dieser Gedanke, daß ein taz-Kommentator
namens Reinhard Hesse die Ungeheuerlichkeit fertig bringt, ihn in seine
Argumentation einzuflechten, indem er ihn dementiert: "Diese schreckliche
Vergangenheit (gemeint ist die NS-Zeit) noch gegenwärtig, mußte
(und muß) mit aller Entschiedenheit den Deutschen entgegengetreten
werden, die bei israelischen Angriffen auf arabische Nachbarn mit dem Kommentar
zur Stelle waren: 'Die hat man zu vergasen vergessen!'" (taz vom 15.6.82).
Von einer Linken, die solche Entschiedenheit eigens bekräftigen
muß, weil ihr die Selbstverständlichkeit abhanden kam, daß
man den zitierten Deutschen nicht entgegentreten, sondern daß man
sie kräftig treten muß, hat Israel nichts zu befürchten
und haben die Palästinenser nichts zu erwarten, auch keine propagandistische
oder moralische Unterstützung. In Relation gesetzt zu Begriffen wie
Vernichtung oder Völkermord, mit denen die Operationen der israelischen
Armee im Libanon von der westdeutschen Linken benannt werden, nehmen diese
in der Tat mörderischen Operationen sich eher niedlich und harm]os
aus. Unter die Völkermorde subsumiert, kann der Libanonkrieg nur als
Kavaliersdelikt betrachtet werden. Selbst wenn dieser Krieg 10.000 Zivilisten
das Leben gekostet hat: um solche Bagatellfälle in der deutschen Geschichte
zu finden, muß man weit zurückgreifen in die Vergangenheit,
in die gute alte Zeit, als der Führer noch Kaiser Wilhelm hieß
und deutsche Schutztruppen 10.000 Hereros in Süd-West-Afrika in die
Wüste trieben, sie einkesselten und dort verdursten ließen.
Was die Palästinenser für die westdeutsche Linke so sympathisch
macht, was ihr erlaubt, sich mit den Palästinensern zu identifizieren,
ist die Annahme, die Palästinenser führten eigentlich einen Stellvertreterkrieg
für genuin deutsche Wünsche, Vorstellungen und Ideale: für
völkische Einheit und nationale Selbstbestimmung auf heimatlicher
Scholle. Die Palästinenser firmieren gewissermaßen als der große,
militante Heimatvertriebenenverband, den die Westdeutschen gerade jetzt
gern hätten, den sie sich aber nicht leisten können.
Die westdeutsche Linke vergißt in ihrer Begeisterung für
die Palästinenser, daß auch Israel sich als großer, militanter
Heimatvertriebenenverband versteht. Sie vergißt weiter, daß
aus ihrer Parteinahme für die Palästinenser logisch nur folgert,
daß Palästinenser und Israelis gleiche Rechte besitzen, daß
zwischen gleichen Rechten die Gewalt entscheidet, und daß Israel
über die bessere Armee verfügt. Den Kampf für völkische
Einheit und nationale Selbstbestimmung auf heimatlicher Scholle, zu welchem
auch die westdeutsche Linke die Palästinenser ermutigt hat, kann deshalb,
weil dieser Kampf ein bloßer Machtkampf ist, unter den gegebenen
Voraussetzungen nur Israel gewinnen.
Weil der Antisemitismus, ob er will oder nicht, es stets mit den Mächtigen
häit, kann er Israel, welches kein jüdischer Staat - eine contradictio
in adjecto - sondern ein Staat ist, nicht schaden. Schaden kann er nur
den Ohnmächtigen, den Staatenlosen, den Flüchtlingen, zu denen
auch jene Palästinenser zählen, die jetzt verbluten, unter den
mörderischen Schlägen der israelischen Armee zwar, aber auch
unter den anfeuernden Rufen ihrer verantwortungslosen Führer (Kampf
bis zum letzten Mann) und unter dem heuchlerischen Wehgeschrei ihrer falschen
Freunde nicht nur in den arabischen Ländern, welche den Streit schürten,
ohne im Ernst den Palästinensern helfen zu können, ohne es auch
nur zu wollen. Denn außer den Palästinensern selber kann niemand
wirklich Interesse daran haben an einem zweiten Israel im Nahen Osten -nach
den Erfahrungen, die man mit dem ersten Israel machte, und die sich jetzt
aufs Deprimierendste bestätigen: Wenn Menschen sich als Volk zusammenrotten
und einen eigenen Staat bekommen, sind alle humanitären Traditionen
und ist die ganze Leidensgeschichte vergessen. Als Patrioten fügen
sie anderen zu, was sie erlitten, als sie als vaterlandslose Gesellen galten.
Kein Grund zur Annahme, die Palästinenser würden sich, wenn sie
Erfolg hätten, anders verhalten als die Israelis. Kein Grund freilich
auch, von den Palästinensern zu erwarten oder zu verlangen, aus den
Bombardements ihrer Flüchtlingslager durch die israelische Luftwaffe
eine andere Lehre zu ziehen als jene Juden, die Israel gründeten:
daß man vertreiben und verfolgen muß, will man nicht zu den
Verfolgten und Vertriebenen zählen.
W.Pohrt in: taz 28.6.1982