Der naive Humanismus, eine Anschauungsweise, die vom moralistischen
Linksradikalismus bis zum Linksliberalismus zu Hause ist, glaubt, überall
auf der Welt Menschen und nichts als Menschen sehen zu können. In
Wirklichkeit verhält es sich natürlich ganz anders. In der bürgerlichen
Gesellschaft ist niemand einfach nur Mensch oder Individuum, sondern immer
bürgerliches Subjekt. Das heißt, die Menschen sind mit all ihren
menschlichen Regungen, Empfindungen und Bedürfnissen in das Korsett
der bürgerlichen Subjektivität gezwängt. Diese bürgerliche
Subjektivität bedeutet, daß sie sowohl Warenmonaden als auch
Staatsbürger sind. Und als solche sind sie stets Nationalstaatsbürger,
also Angehörige einer Nation und als solche geborene Nationalisten.
Damit wäre die Ausgangslage, das Problem, vor dem wir stehen,
umrissen. Nationalismus ist keine Einstellung von ein paar Rechtsradikalen,
sondern weitgehender Konsens in der bürgerlichen Gesellschaft. Auf
einer phänomenologischen Ebene kann Nationalismus am kürzesten
wie folgt definiert werden: Er umfaßt jede explizite oder implizite
positive Bezugnahme auf eine materiell existente oder ideell vorgestellte,
noch zu errichtende Nation. Um zu begreifen, was Nationalismus ist, muß
man erst mal feststellen, was er sicher nicht ist bzw. wie er sicher nicht
hinreichend begriffen werden kann. In der traditionellen Linken - und zwar
sowohl von orthodoxen Parteimarxisten wie auch von undogmatischeren Figuren
wie beispielsweise den meisten Autonomen - gab es grob gesagt zwei Annäherungsweisen
an den Nationalismus, die sich jedoch nicht ausschließen, sondern
vielmehr ergänzen. Entweder wurde der Nationalismus in bestimmten
Ausprägungen als etwas Positives begriffen, das ein Vehikel zur Emanzipation
sein sollte, oder, wenn er als Negatives angesehen wurde, hat man ihn ganz
ähnlich wie auch Antisemitismus und Rassismus als eine Ideologie der
sogenannten herrschenden Klasse angesehen, die ihn als Instrument bewußt
einsetzt, um die sogenannten Beherrschten von ihrer vermeintlichen weltgeschichtlichen
Mission - also Weltrevolution etc. - abzuhalten. Nationalismus als objektiv
notwendige - wenn auch nicht zwangsläufig erforderliche - Basisideologie
der warenproduzierenden Moderne zu begreifen, bleibt solch einer Betrachtungsweise
völlig fremd und unverständlich. Um eben solch ein Verständnis
von Nation und Nationalismus soll es im Folgenden gehen, um vor diesem
Hintergrund abschließend einige Probleme des sogenannten Befreiungsnationalismus
und der internationalen Solidarität anzureißen.
Staatliche Gewalt und Warentausch
Die Nation entsteht zum einen aus der widersprüchlichen Liaison,
die Staat und Kapital miteinander eingehen, (1) und zum anderen, was aber
nichts anderes ist, sondern zu dieser Liaison von Kapital und Staat in
unterschiedlichen Ausprägungen immer dazu gehört, aus der zugleich
zwanghaften und freiwilligen Integration des Faktors Arbeit in den Staat
und damit in die Nation. Um das verstehen zu können, muß man
sich schrittweise die Konstitution der bürgerlichen Subjektivität
ansehen, nämlich die Konstitution der Warensubjekte im Tausch, die
Selbst- und Zwangsobjektivierung als Staatsbürger und die gleichermaßen
einerseits folgerichtige und rationale und andererseits auch durchaus wahnhafte
Konstitution des Waren- und Staatsbürgersubjekts zum Nationalisten
- wobei zu berücksichtigen ist, daß diese Aufteilung nur analytischen
Charakter hat, während in der Realität, wenn auch nicht zwangsläufig
im historischen Prozeß, aber doch in der entwickelten bürgerlichen
Gesellschaft, diese Ebenen in eins fallen.
Die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft beziehen sich in
erster Linie als Warenbesitzer aufeinander. Das ist die vornehmliche Form
der Kommunikation in dieser Gesellschaft. Die Menschen treten einander
als Subjekte gegenüber, die durch den beabsichtigten Tausch bereits
auch Rechtssubjekte sein müssen. Der Warentausch erfordert daher von
vornherein staatliche Herrschaft, die sich positiv auf das Prinzip des
Äquivalententauschs bezieht und die gegenseitige Respektierung der
Menschen als freie Besitzer der Waren letztinstanzlich durch seine Gewalt
garantiert. Genau in diesem recht simplen, aber gar nicht angenehmen Sachverhalt
steckt dann auch schon so ziemlich die ganze Wahrheit des bürgerlichen
Schlachtrufs von Freiheit und Gleichheit, der bekanntlich bei der historischen
Konstitution der Nation eine entscheidende Rolle gespielt hat.
Die im kapitalistischen Produktions- und Tauschprozeß angelegte
Abstraktion, die dazu führt, daß simple Gebrauchsdinge, die
menschliche Bedürfnisse befriedigen können, in der Form von Waren
und daher als Werte erscheinen, wäre folgenlos und bliebe sozusagen
eine nur gedankliche Abstraktion, gegen die eigentlich nicht viel einzuwenden
wäre, da sie niemandem schadet und jenen, die glauben, sie vornehmen
zu müssen, offenbar ein intellektuelles Vergnügen bereitet. Die
im Tausch angelegte Abstraktion gerät aber eben gerade zu so etwas,
was man Realabstraktion nennt. Und dafür, unabhängig davon, daß
diese Realabstraktion im Tauschvorgang selber angelegt ist, bedarf es der
staatlichen Gewalt oder auch einer anderen, wie der mafiotischen oder einer
befreiungsnationalistisch-bewegten Gewalt. Diese wie auch immer geartete
Gewalt garantiert die Warenförmigkeit der Dinge und sanktioniert jeglichen
Verstoß gegen das auch den meisten Linken heilige Prinzip des gleichen
Tauschs. Das Willensverhältnis der Warenbesitzer, also der Wunsch,
ihre unterschiedlichen Waren aufeinander zu beziehen, wird zu einem Rechtsverhältnis,
dessen deutlicher Ausdruck das Geld, also das allgemeine Äquivalent
ist - jenes Medium, das vom Staat gestiftet wird und über das die
Kommunikation der Warenmonaden abgewickelt wird.
Die Warensubjekte sind also als nichtstaatliche Subjekte kaum denkbar.
Sie wollen den Staat oder besser: sie müssen ihn wollen. Und zwar
unabhängig davon, welche Waren sie besitzen und verkaufen, also unabhängig
davon, ob sie irgendwelche Industriegüter oder eben mangels anderer
Möglichkeiten ihre Arbeitskraft verkaufen. Das ist ein entscheidender
Punkt, weil hier klar wird, warum sowohl der Staatsfetischismus als auch
der Nationalismus klassenübergreifende Phänomene sind.
Nun wäre es aber völlig falsch, die Nation als rationales
Beiwerk des Warentauschs zu begreifen. Die moderne Nation muß vielmehr
als ein Selbstläufer begriffen werden, der, einmal in die Welt gesetzt,
nicht unmittelbar aus der Wertverwertung heraus erklärt werden kann,
sondern vielmehr ein sowohl ergänzendes als auch konkurrierendes fetischistisches
Prinzip zur fetischistischen Wertproduktion und zum Warentausch darstellt.
Der Nationalismus setzt sich mitunter - gerade heute - auch gegen seine
eigene Grundlage, die tendenziell global agierende und expandierende Wertverwertung,
gewaltsam durch. Nationalismus kann unter anderem aus diesem Grund auch
als antikapitalistischer daherkommen, ist aber gerade in dieser Ausformung
fast immer nur die volksgemeinschaftliche Verteidigung des gerechten Tauschs.
Derartiges führt dann gerade auch in der traditionellen Linken zu
allerlei Hirngespinsten.
Nationale und soziale Frage
Im schlimmsten Fall will die traditionelle Linke mit den Rechten um
die Besetzung der "nationalen Frage" ringen. Vor allem aber will die Bewegungslinke
mit den Nazis und anderen um die Beantwortung dessen konkurrieren, was
immer als linker Gegenpart, als emanzipative Antwort auf die vermeintlich
von rechts aufgeworfene "nationale Frage" gehandelt wird: sie will um die
Beantwortung der "sozialen Frage" konkurrieren. Sie weigert sich dabei
beharrlich, anzuerkennen, daß diese Frage - insbesondere in postnationalsozialistischen
Ländern wie Deutschland und Österreich - immer auch schon ein
Teil der Antwort ist: der positive Bezug auf den Staat als imaginierten
kollektiven Garanten des Allgemeinwohls des Volkes.
Die zahlreichen Kritiker und Kritikerinnen des Antinationalismus betrachten
den Nationalismus ihrer Klientel nur als "von oben" aufoktroyierte Ideologie.
Sie tun das notwendigerweise, da ihnen sonst der vorbehaltlose positive
Bezug auf das Volk, die Massen oder die Arbeiter- und Arbeiterinnenklasse
versagt wäre. Jener Form antinationaler Kritik hingegen, wie ich sie
hier in Umrissen darzustellen versuche, geht es darum, die Bewußtseinsformen
der bürgerlichen Subjekte als notwendigen Ausdruck der fetischistischen
Wertverwertung, also der unbegriffenen Kapitalanhäufung, der nicht
verstandenen und sich hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzenden
Vergesellschaftung zu dechiffrieren. Die bürgerliche Subjektivität,
die Warentausch und -produktion will und wollen muß, muß auch
das organisierte Gewaltmonopol wollen - den Staat. Da dieser in Form des
Nationalstaates existiert, ist die Verkörperung der Warenmonade sowohl
in ihrer bourgeoisen als auch in ihrer proletarischen Ausprägung -
um das nochmals zu betonen - nur als aktiver Nationalist oder aktive Nationalistin
zu haben. Da die Affirmation von Tausch, Staat und Nation den Subjekten
aber keinerlei Garantie ihrer produktiven Vernutzung, die in der kapitalverwertenden
Gesellschaft für die große Mehrheit der Menschen die einzige
Möglichkeit individueller Reproduktion bietet, gibt, drängen
sie permanent zur Artikulation einer konformistischen Revolte. Ausdruck
dieser konformistischen Revolte sind Antisemitismus und Rassismus, die
ebenso wie der Sexismus als Basisideologien des warenproduzierenden und
nationalstaatlichen Systems begriffen werden müssen.
Hier drängt sich der für die Diskussion über Befreiungsnationalismus
natürlich nicht uninteressante Hinweis auf, daß die Nation also
strukturell immer schon den Antisemitismus in sich birgt. Und daß
es sich hier nicht um eine abstrakte Erörterung um ihrer selbst willen
handelt, zeigt sich beispielsweise daran, daß in der mittlerweile
verbotenen prokurdischen Zeitung "Özgür Ülke" 1994 ein Text
unter dem Titel "Der Spezialkrieg und das Judentum" erschienen ist, in
dem der mit dem kurdischen Nationalismus bisher erfolgreich konkurrierende
türkische Nationalismus als weitere Perfidie der jüdisch-zionistisch-freimaurerischen
Weltverschwörung geoutet wurde. Dieser Text hat zwar zu einigen Diskussionen
in der europäischen Soliszene geführt, meines Wissens aber nicht
zu einer eindeutigen Distanzierung seitens der PKK-Führung.
Die aus dem Fetischismus der bürgerlichen Produktionsweise resultierende
negative Vergesellschaftung bringt die Notwendigkeit einer verdinglichten
Darstellung der gesellschaftlichen Beziehungen hervor. Die Herrschaft der
abstrakten Wertverwertung erzwingt offenbar die Existenz der Nation als
etwas scheinbar Allgemeines und Wahres. Die Nation dient als positives
Konkretum, auf das sich die Subjekte, die sich ja nicht, wie es in der
Ideologie der Alltagssprache beschönigend heißt, als Tauschpartner,
sondern vielmehr als Tauschgegner gegenübertreten, kollektiv beziehen
und mit dem sie sich gemeinschaftlich identifizieren können. Das bürgerliche
Subjekt ist nicht in der Lage, Identität aus sich selbst zu gewinnen.
Seine Bestimmung ist es, verwertbar und herrschaftskompatibel zu sein.
Es muß, soll und will sowohl produktiv als auch staatsloyal sein.
Gerade ersteres, also seine Betätigung als produktiv benutz-, vernutz-
und verwertbarer Kapitalteil, wird ihm aber immer wieder verwehrt. Um die
Identität dennoch aufrecht erhalten zu können, wird es um so
loyaler, dient sich, vom Kapital verstoßen, um so heftiger dem Souverän
an, dem man in letzter Konsequenz das eigene Leben zur Verteidigung der
Nation anbietet - eine allgemein theoretische Feststellung, die sich jedoch
zumindest ansatzweise auch empirisch untermauern läßt: Vor allem
in Ostdeutschland, aber auch in den strukturschwachen Regionen Westdeutschlands
oder Österreichs läßt sich seit Jahren eine Entwicklung
bei jugendlichen Männern beobachten, die in etwa mit "je arbeitsloser,
desto Bundeswehr oder -heer" beschrieben werden kann.
Die Identifikation mit der Nation ist dabei - wie bereits angedeutet
- freiwillig und erzwungen zugleich. Die Rekrutierung der Staatsbürger
erfolgt, ohne diese nach ihrem Einverständnis zu fragen - eine Unverschämtheit,
die heutzutage als Selbstverständlichkeit durchgeht. Kaum ist man
auf der Welt, noch bevor man seinen ersten Laut von sich gibt, ist man
schon für das nationale und staatliche Kollektiv zwangsverpflichtet.
In der Regel stimmen die bürgerlichen Subjekte dieser Verpflichtung
später aber auch zu, meistens nach ersten Erfahrungen mit rechtlich
nicht abgesegneter Enteignung von Privateigentum - also wenn man mal beklaut
wird - spätestens aber dann, wenn die eigene Arbeitskraft nicht mehr
als produktiv gilt und man seine Rechte daher wenigstens damit legitimieren
möchte, daß man doch - im Gegensatz zu den durch die nationalstaatliche
Einteilung dieser Welt fabrizierten Ausländerinnen und Ausländern
- als Zugehöriger zur Nation sein Lebensrecht trotz Unproduktivität
noch nicht verwirkt hat. Aber auch ohne solche privaten oder gesellschaftlichen
Krisensituationen gilt die Nation und ihr Staat als Einrichtung zum Wohle
aller, als Garant, je nach Möglichkeit, Kapital zu verwerten oder
die eigene Arbeitskraft zu verkaufen. Die Krise als Normalzustand kapitalistischer
Produktionsweise ist dabei aber trotzdem nicht zu vernachlässigen,
denn diese Dauerkrise ist es meiner Einschätzung nach letztlich, die
die Potentialität des faschistischen Wahns in jedem noch so demokratisch
und humanistisch erzogenen bürgerlichen Nationalstaatssubjekt verankert.
Als bekennender Nationalist sieht sich das bürgerliche Subjekt in
einem - wie Joachim Bruhn das einmal sehr treffend formuliert hat - permanenten
Zweifrontenkrieg gegen die vermeintlich Überwertigen und die - im
Sinne der Wertlogik kapitalistischer Produktion im wahrsten Sinne des Wortes
- Minderwertigen. Gegen erstere richtet sich dann der Antisemitismus, gegen
letztere der Rassismus des keineswegs zwangsläufig faschistischen,
sondern durchaus auch des normaldemokratischen, mitunter ebenfalls -wie
leider auch in Wien immer wieder feststellbar - des linksradikalen Nationalstaatsbürgers.
Eine antinationale Kritik greift also die Nation als Bündelung
des wertfetischistischen und damit strukturell antisemitischen, rassistischen
und sexistischen Bewußtseins an. Nimmt sich derartige Kritik selber
ernst, ist ihr natürlich die bewußtlose Fortsetzung des taktierenden
Praktizismus versagt. Darin ist meiner Einschätzung nach auch der
Grund zu suchen, warum solche Kritik permanent auf aggressive Abwehrreaktionen
trifft. Zur Nation und zum Nationalismus kann es kein taktisches, strategisches
oder - wie die gebildeteren Bewegungsmarxisten und -marxistinnen dann sagen
- dialektisches Verhältnis geben, sondern die Nation kann nur Gegenstand
der radikalen, auf Abschaffung zielenden Kritik sein - anders gesagt: die
Nation ist so ziemlich das Hinterletzte und eine Linke, die sich in irgendeiner
Form heute positiv auf sie bezieht, wird kein Jota zu einer Emanzipation
beitragen können
Nationalismus oder Befreiung
Vor dem hier skizzierten Hintergrund ist die Begeisterung für nationale
Befreiungsbewegungen natürlich völlig irrsinnig, wenn auch vielleicht
verständlich, also verständlich nicht im Sinne von "irgendwie
schon akzeptabel", sondern im Sinne einer Ideologiekritik, die das Verstandene
als Falsches kenntlich macht. Das Hauptproblem der linken Begeisterung
für die nationale Befreiung im Trikont - und zum Teil ja nicht nur
da, wenn man etwa an die Begeisterung vieler Linker angesichts der deutschen
Wiedervereinigung denkt - sehe ich darin, daß große Teile der
Linken mit ihrem verkürzten Imperialismusverständnis - und das
ist in der Regel die Grundlage für die Legitimation des Befreiungsnationalismus
- Herrschaft auf Fremdherrschaft und Kapitalismus auf Ausbeutung durch
fremdes Kapital reduziert haben. Die unkritische Bezugnahme auf den Befreiungsnationalismus
im Trikont führte und führt zur Affirmation von Herrschaftskategorien
wie Staat, Nation und Volk. Daß Staat, Nation und Volk gerade auch
im Trikont so hoch im Kurs stehen, hat damit etwas zu tun, daß es
fast allen Befreiungsbewegungen immer nur um eine eigenständige, mitunter
auch alternativ gestaltete Warenproduktion gegangen ist, also nie um einen
prinzipiellen Bruch mit der fetischistischen Wertlogik der bürgerlichen
Produktionsweise, also um eine grundlegende Kritik der Grundkategorien
bürgerlicher Ökonomie wie Ware, Wert und Geld. In den vorangegangenen
Ausführungen sollte klar geworden sein, daß in diesem fortgesetzten
positiven Bezug auf den Tausch als zentralem Prinzip der Vergesellschaftung
die Affirmation von Staat und Nation nahezu zwangsläufig angelegt
ist. (2) Ein Antiimperialismus, der durch sein verkürztes, in der
Regel in der unseligen Tradition des Marxismus-Leninismus stehendes, Staat,
Nation und Volk affirmierendes Imperialismusverständnis zwischen der
Kritik imperialistischer Politik einerseits - die ja nachwievor richtig
und notwendig ist - und der vorbehaltlosen Parteinahme für die Opfer
solcher Politik - und vor allem für jeden Schwachsinn, den diese,
wie alle anderen Menschen auch, mitunter so von sich geben - andererseits
nicht unterscheiden kann, solch ein Antiimperialismus führt meiner
Meinung nach nahezu zwangsläufig zur Kollaboration mit diversen Diktatoren,
völkischen Nationalisten und Antisemiten. Und damit wären wir
bei Abdullah Öcalan.
Das "einerseits" wäre in diesem Fall ganz einfach die selbstverständliche
Kritik an der rechts-autoritären, semi-faschistischen Herrschaftsausübung
in der Türkei, also auch an sämtlichen Repressionsmaßnahmen
des türkischen Staates gegenüber der kurdischen und türkischen
Bevölkerung. Das "andererseits" ist die vorbehaltlose Solidarität
mit einem spezifischen Opfer dieser Repression, nämlich Abdullah Öcalan.
Wer sich mit Öcalan solidarisiert, wer Bilder von ihm auf Demos rumträgt
oder in Lokalen aufhängt, sollte sich zumindest dessen bewußt
sein, daß hier von einem Mann die Rede ist, der gegen den Kosmopolitismus
wettert und die BRD als Modell eines sozialistischen Staates anpreist,
der nach einem vermeintlich "echten Islam" strebt, Alkoholkonsum verbietet
und rigide gegen sexuelle Beziehungen vorgeht, sich für "absolut fehlerlos"
hält und glaubt in einer "göttlichen Verbindung" zu seiner Gefolgschaft
zu stehen, der die Argumentationen deutscher Überfremdungshysteriker
und Rassisten durchaus nachempfinden kann und ein geradezu glühender
Anhänger der Todesstrafe ist, und dem nicht zuletzt von ehemaligen
Mitkämpfern und Mitkämpferinnen zahlreiche Hinrichtungs- und
Folterbefehle, vor allem gegen Leute aus den eigenen Reihen, vorgeworfen
werden. (3)
Die PKK ist ein Paradebeispiel für eine Bewegung, bei der die
ohnehin nur zaghaft vorhandenen emanzipativen Elemente durch den Nationalismus
völlig überlagert werden. Selbst noch die Klassenwidersprüche
in der kurdischen Gesellschaft werden von ihr in nationalen Kategorien
gedacht. Öcalan beklagte sich 1994 über den mangelnden Patriotismus
seiner Gefolgschaft und wetterte dagegen, daß die Kurden und Kurdinnen
"reihenweise, scharenweise ihr tausendjähriges Heimatland (verlassen),
um ihren Bauch zu füllen." Jakob Bauer bemerkte dazu bereits damals
in "Konkret" völlig zu recht: "Mit soviel praktischer Vernunft der
Basis könnte vielleicht ein sozialrevolutionärer Anführer
etwas anfangen - ein Nationalist sieht da kein Land mehr." Bei der Solidarität
mit Öcalan - die ja keineswegs die Voraussetzung ist, um dagegen zu
sein, daß jemand vor laufenden Kameras gedemütigt und vermutlich
durch die türkische Staatsgewalt umgebracht wird - geht es also, wenn
man auch nur einen Bruchteil der gegen Öcalan ja nicht nur von der
konservativen Presse, sondern von linken Kritikern und Kritikerinnen ebenso
wie von Menschenrechtsorganisationen erhobenen Vorwürfe für gerechtfertigt
erachtet, um die Verbrüderung mit einem ex-stalinistischen, heute
nur mehr völkisch-nationalistischen Genossen- und Genossinnenmörder.
Anmerkungen
Im ersten Teil meiner Ausführungen folge ich weitgehend der Argumentation
von Rudow, Gerhardt: Nationalismus und Ökonomie. Territorialstaat
und globaler Kapitalismus. in: Bahamas, Nr. 16, 1994/95, S. 40 ff. Es sei
an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß auf Grund der Kürze
die Ausführungen zum Teil recht allgemein bleiben, also einige durchaus
nicht zu vernachlässigende Differenzierungen wie beispielsweise jene
zwischen republikanischem und völkischem Nationalismus nicht eigens
thematisiert werden.
Dabei ist zu berücksichtigen, daß vielen an die Macht gelangten
Befreiungsbewegungen auf Grund des stummen Zwangs der Verhältnisse,
aber auch auf Grund der jahrelangen Arbeit der gar nicht stummen Konterguerillas
oft nichts anderes übrigblieb (vor allem nach dem Zusammenbruch des
realsozialistischen Lagers), als sich zumindest partiell dem Weltmarkt
und damit automatisch der Warenlogik auszuliefern. Außerdem sieht
man gerade in den Trikontländern sehr deutlich, daß das, was
hier unter dem Titel "bürgerliche Subjektivität" behandelt wurde,
zwar teilweise auf Grund der fetischistischen Struktur einer kapitalakkumulierenden
Ökonomie scheinbar wie von selbst entsteht, aber eben auch - gerade
im Falle des Kolonialismus - gewaltsam gesetzt wird. Das Problem ist nur,
daß heute die meisten nationalen Befreiungsbewegungen eher zur Zementierung
dieser gewaltsamen Setzung beitragen, anstatt sie zu kritisieren.
In den letzten Jahren sind von (ehemaligen) PKK-Frauen auch Vergewaltigungsvorwürfe
gegenüber Öcalan laut geworden. Anstatt sich damit ernsthaft
auseinanderzusetzen, reagieren die Anhänger von "biji serhok APO"
darauf wie beim diesjährigen Newroz-Fest am Wiener Heldenplatz mit
Transparentaufschriften wie "Öcalan ist ein Symbol für die Freiheit
der türkischen Frau".
Literatur:
Bauer, Jakob: Durchs wilde Kurdistan. in: Konkret, Nr. 11, 1994, S.
27 ff.
Bruhn, Joachim: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation.
Freiburg i. Br. 1994.
Cürükkaya, Selim: PKK. Die Diktatur des Abdullah Öcalan.
Mit einem Vorwort von Günter Wallraff und einem Interview Günther
Wallraffs mit Abdullah Öcalan. Frankfurt/M. 1997.
Gruppe demontage: Postfordistische Guerilla. Vom Mythos nationaler
Befreiung. Münster 1998.
Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster
Band, Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals. Marx-Engels-Werke,
Bd. 23, Berlin 1974 (1867).
Rudow, Gerhardt: Nationalismus und Ökonomie. Territorialstaat
und globaler Kapitalismus. in: Bahamas, Nr. 16, 1994/95, S. 40 ff.
Stephan Grigat ist Politikwissenschafter und Publizist in Wien. Quelle:
http://zoom.mediaweb.at/zoom_299/oecalan.html