Faschismus-Begriff der KPD
Was der KPD unbedingt zugutezuhalten ist, ist, daß sie die immanente Nötigung der damaligen kapitalistischen Gesellschaft zum Faschismus klar gesehen hat und daraus den korrekten Schluß zog, daß ein Antifaschismus, als separate Position neben dem oder jenseits des Antikapitalismus, eine Unmöglichkeit darstellt. Wo die Demokratie dabei ist, höchstselbst den Faschismus auszubrüten, weswegen die bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie sich zunehmend aufführten, als wären sie Flügel jener Volkspartei, als deren Prototyp die NSDAP dann reüssierte, ist das Abstellen auf die Unterschiede der Parteien ebenso irreführend wie ein "Kampf zur Verteidigung der Demokratie". Darin besteht die Wahrheit der Sozialfaschismusthese, daß in ihr die Einsicht festgehalten ist, daß von Faschismus nicht erst dort die Rede sein kann, wo man es mit expliziten Faschisten zu tun hat, daß die - auf die damalige Zeit bezogen und nur darauf ist das Wort angebracht - schrittweise Faschisierung von Staat und Gesellschaft gerade von dessen formalem Opponenten, der Sozialdemokratie, maßgeblich vorangetrieben wurde. Gerade gegen diese Sichtweise wurde und wird aber der Vorwurf erhoben, sie habe den Nationalsozialismus verharmlost und den Begriff des Faschismus inflationiert. Dagegen ist zum einen einzuwenden, daß die Gefahr der Verharmlosung bisweilen auch schon innerhalb der KPD benannt und kritisiert wurde. (5) Zum anderen kann die Tatsache, daß die KPD mit allerlei begrifflichen Holprigkeiten und Verrenkungen aufwartete, um die Differenz von der Bürgerblockregierung Wilhelm Marx' über Müller, Brüning, Papen und Schleicher zu Hitler noch ausmachen zu können, keinen Einwand gegen die sachliche Angemessenheit der Sozialfaschismusthese begründen. Der Spott darüber ist wohlfeil, solange der entscheidende Grund dafür außen vor bleibt: der unzulängliche Faschismus-Begriff der KPD. Faschismus, das war für die KPD immer nur diktatorischer bürgerlicher Extremismus: exzessive Repression und Ausbeutung der Arbeiterklasse, von demokratischen Zuständen nur quantitativ unterschieden. Demzufolge waren es in der Regel unmittelbar repressive staatliche Aktionen (wie z.B. der Berliner Blutmai) sowie der sukzessive Abbau der sozialstaatlichen Leistungen, in denen die KPD die Indizien der Faschisierung zu erkennen glaubte und die sie in den Mittelpunkt ihrer Agitation rückte. Erklärlich ist dies, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß der Faschismus-Begriff der KPD am Modell des italienischen Faschismus gebildet war. Nun unterschied sich das faschistische Regime in Italien vom deutschen Nationalsozialismus dadurch, daß es den Typus des "klassisch" autoritären Staates verkörpert, eine Diktatur, die die Gesellschaft repressiv-autoritär überwölbt, aber diese nicht, wie die Nazis es dann taten, neu zurichtet und darüber virtuell mit ihr verschmilzt. Diese qualitative Differenz des Nationalsozialismus zu erkennen, hätte es allerdings eines Begriffs von Ideologie als notwendig falschem Bewußtsein und Vorschein praktizierter Barbarei bedurft, über den die KPD freilich mitnichten verfügte. Daß die Linken gerade daran nie Anstoß genommen haben, ist kein Wunder, denn unter Faschismus haben sie selbst nie etwas anderes verstanden als ins Extrem gesteigerte Repression und unter Ideologie nichts anderes als Manipulation, obwohl sie im Unterschied zur KPD heute klüger sein könnten. Deshalb haben Leute, die sich dümmer stellen, als sie sein müßten und mit ihrem Faschisierungsgeschwätz den Faschismusbegriff ungleich ärger inflationiert haben, als es die KPD je vermochte, am allerwenigsten Grund, ihr diesbezügliche Vorwürfe zu machen.
Selbstbetrügerischer Geschichtsoptimismus
Was der KPD-Agitation demgegenüber tatsächlich vorzuhalten
ist, ist die grandiose Unterschätzung dessen, daß der Kapitalismus
seine Zusammenbruchskrise auf seinem Boden und mit den ihm eigenen Mitteln
bewerkstelligen könne. Diese generelle Verharmlosung war gespeist
aus jenem verruchten Geschichtsoptimismus, von dem Adorno einmal meinte,
er spreche für den Verfall der Arbeiterbewegung, jene zugleich draufgängerische
wie ergebene Haltung, mit der man den Sieg der eigenen Sache als einen
vorab feststehenden erwartet und die es wiederum ermöglicht, auf den
Gegner mit souverän-herablassender Gebärde herabzublicken, weil
man ihn ohnehin bereits überwunden wähnt. Daß der Kapitalismus
um seiner Existenzsicherung willen einen Kurs in Richtung Faschismus einschlagen
mußte - diese an sich richtige Erkenntnis erschien bei der KPD ausnahmslos
in der verballhornten Fassung, die lautete: daran, daß die Bourgeoisie
zum Faschismus greife, lasse sich ablesen, daß der Kapitalismus am
Ende sei. Die Krise des Kapitals sei dessen letale Krise, weil sie eine
revolutionäre Grundsituation erzeuge, die sich "nur noch" mit der
ganzen Bandbreite faschistischer Methoden, vom Sozialfaschismus bis zum
eigentlichen, abwehren ließe. Mit atemberaubender, makabrer Konsequenz
vermochte die KPD deshalb ein jedes Phänomen, das auf die unter zunehmend
faschistischen Vorzeichen stattfindende Konsolidierung des Kapitalismus
schließen ließe, als Schwäche des Systems zu interpretieren.
Daß die Sozialdemokratie zu einem Protagonisten der Faschisierung
avanciert, wurde als "Beweis" für ihren ohnehin schwindenden und nur
noch mit rabiaten Mitteln zu verteidigenden Einfluß genommen wie
die nationalsozialistische Bewegung als Indiz dafür, daß der
Kapitalismus in seinen letzten Zuckungen liege und der revolutionäre
Aufschwung munter vorangehe. Daß dieser fromme Glaube durch nichts
zu erschüttern war, wird dadurch bezeugt, daß es noch in der
letzten Ausgabe der "Roten Fahne" vom 2.2.1933 hieß: "Hitler regiert
- aber der Kommunismus marschiert." Keine Frage, daß solch abstruse
Geschichtsmetaphysik jene verlogen-pathetische Rhetorik freisetzen mußte,
die das Motto "Wo gehobelt wird, da fallen Späne" zur eigenen Sache
macht und die Leiden der eigenen Genossen als Abschlagszahlung auf die
Revolution, als durch den Sieg des Kollektivs vergoltenes Opfer rechtfertigt.
Der Faschismus wurde als "Schule der Revolution" bezeichnet, der das Klassenbewußtsein
schärfe und den Kampfgeist stärke. In der "Roten Fahne" vom 9.6.1928
hieß es ganz in diesem Sinne über die Situation in Italien:
"Die Organisationen können durch noch so schmerzliche Verluste nicht
mehr gelähmt werden; sie werden auch unter den härtesten Schlägen
der Reaktion Tag für Tag weiter ausgebaut und gefestigt. Unter der
zielbewußten Führung der kommunistischen Partei schreitet die
Organisierung der italienischen Arbeiter und Bauern unaufhaltsam vorwärts,
beseelt vom unerschrockenen Willen zum Kampf gegen Bourgeoisie und Faschismus
bis zu ihrer endgültigen Niederwerfung." (Apropos "ausgebaut und gefestigt":
"Die Speiwürdigkeit dieses Zeitalters ist aber wohl noch nie so plastisch
an uns herangetreten wie in der Orgie dieses Merkworts vom Ausbau und der
Vertiefung", notierte Karl Kraus 1918 und hätte er diese Äußerung
aus der "Roten Fahne" gekannt, so würde er alleine an der Formel "ausgebaut
und gefestigt" die fluchwürdige Gesinnungslumperei dargetan haben,
die die kommunistischen Gegner der Sozialdemokratie mit ebendieser und
dem Rest der Bürgerwelt zusammenschweißte.)
Selten hat eine derartige, bis zur Ununterscheidbarkeit gehende Verquickung
von eher unfreiwilligem Scharfsinn und offenem Schwachsinn vorgelegen wie
in der Sozialfaschismusthese der Weimarer KPD, und deshalb mußte
der Wahrheitsgehalt dieser These denen, die sie formuliert hatten, verborgen
bleiben. Auch und gerade die Sozialfaschismusthese ist ein schlagendes
Beispiel für das Theorie-Praxis-Verhältnis in der Arbeiterbewegung:
am Anfang stand eine strategische Entscheidung, der als Begründung
ein paar Brocken Theorie mit beigegeben wurden. Weil die Sozialfaschismusthese
aus der strategischen Erwägung heraus geboren wurde, daß die
Sozialdemokratie als Trägerin bürgerlicher Herrschaft abgewirtschaftet
habe und man sie deshalb den revolutionär gesinnten Massen durch schärfste
Denunziation abspenstig machen müsse - die KPD setzte also auf die
Forcierung einer ohnehin stattfindenden Selbstentlarvung - war das, was
eine theoretische Begründung der Parole vom "Sozialfaschismus" hätte
sein können, die materialen Erkenntnisse über die Verwandtschaft
des sozialdemokratischen Konzepts der "Wirtschaftsdemokratie" mit dem faschistischen
Korporativsystem, in Wahrheit äußerliche Dreingabe, Nebenprodukt,
Abfall. (6) Gerade der Abfall ist an der Sozialfaschismusthese noch das
Beste, so daß gilt: falsch an ihr war lediglich, daß sie, was
ihren Gehalt angeht, nicht konsequent genug durchdacht und vorangetrieben
wurde. Hätte die KPD dies getan, ihre beiläufig gewonnenen Einsichten
ernst genommen, dann wäre sie auf die grundsätzliche Identität
ihrer Vorstellungen vom proletarischen Zukunftsstaat mit der Programmatik
der Sozialdemokratie gestoßen und hätte sich demnach mit Fug
und Recht selber unter die "Sozialfaschisten" einreihen können.
Die Sozialfaschismusthese gegen ihre Urheber gewendet
Insofern läßt sich jenes unvergessene Diktum des Genossen
Stalin, wonach es sich bei der Sozialdemokratie und beim Faschismus um
"Zwillingsbrüder" handele, mühelos fortspinnen: Der Parteikommunismus,
der deutsche zumal, war selbst strukturell nur der aktivistische Zwillingsbruder
der Sozialdemokratie: weder in seiner Gesellschaftskritik noch in der daraus
konsequent abgeleiteten Vorstellung vom proletarischen Zukunftsstaat konnte
er deren Grundannahmen wirklich überwinden. (7) Seine Kritik am Kapital
war in Wahrheit eine Kritik an den empirischen Kapitalisten im Namen und
Interesse der zum apriorischen Kollektivsubjekt verdinglichten gesellschaftlichen
Arbeit - sie zielte nicht auf den blinden, fetischistischen Automatismus
der Verwertung des Werts, sondern lediglich auf die parasitär gescholtene,
private Aneignung des gesellschaftlich Produzierten, und dementsprechend
war nicht die Abschaffung, sondern die Vollendung und Selbstaffirmation
der Arbeit und der sie ausübenden Klasse ihr Ziel. Das Mittel dazu
sollte die Eroberung und Umgestaltung des Staates als Prinzip einer gesamtgesellschaftlichen,
totalen Planung und Lenkung sein: während der Bourgeois den Staat
nur als Mittel seines egoistischen Interesses mißbrauche, sollten
im proletarischen Gemeinwesen die unter kapitalistischen Bedingungen eine
"nur formale", uneigentliche Existenz fristenden Versprechen der Bürger
- Volksherrschaft (Demokratie), Freiheit, Gleichheit, Solidarität
- endlich wahrgemacht werden. Was die Sozialdemokratie auf friedlichem
Weg erreichen zu können glaubte, dafür war nach Ansicht der KPD
ein gewaltsamer Umsturz nötig - unbedingte Fans eines totalen und
definitiv "gerechten" Volksstaates, in der die "Anarchie des Marktes" beseitigt,
der Proletarier nicht nur gleichberechtigter Staats-, sondern auch Wirtschaftsbürger
geworden und das System "repressiver Vergleichung" (Adorno) nach dem Kriterium
der Arbeit anstatt nach Geld und Recht erfolgt, aber nicht abgeschafft
ist, waren sie beide. Insofern bildeten auch beide Flügel der Arbeiterbewegung
Affinitäten zu den Nazis aus, deren Konzept eines auf den Kriterien
von Blut und Rasse fundamentierten Volksgemeinschaftsstaats eine Radikalisierung
des bereits vorgefundenen Modells Volksstaat darstellt. (8) Solche grundsätzliche
Verwandtschaft verrät sich am schlagendsten in Niveau und Stoßrichtung
der Polemik, die die KPD gegen Sozialdemokratie und Nazis führte.
In der proletarischen Utopie mit bürgerlichen Mitteln, für die
die SPD stand, konnte die KPD stets nur Augenwischerei und "Betrug" an
den Massen erkennen, und der völkische Antikapitalismus der Nazis
galt ihr ähnlich als "Demagogie" und "Irreführung" des Volkes.
Im erbitterten Vorwurf mangelnder Glaubwürdigkeit - der verschmockten
Basiskategorie "linker Politik" - wird nicht nur der grundlegende Anspruch
auf kompetente Führung des demokratisch zurechtgedengelten Menschenmaterials
erhoben, sondern vor allem die grundsätzliche Identität oder
Verwandtschaft der Ziele eingeräumt, für deren Realisierung man
sich als engagierten Sachwalter und ehrlichen Makler empfiehlt. Zu welchen
Unappetitlichkeiten so etwas führte, sei durch ein längeres Zitat
veranschaulicht. In Heft 10 der Zeitschrift "Der rote Aufbau" (Hrsg. Willi
Münzenberg) vom 15.5.1932 bringt ein gewisser Rudolf Feistmann über
Hitlers Rede vor dem Industriellenclub Anfang desselben Jahres folgendes
zu Papier (kursive Passagen i. Orig.): (...) jetzt liegt ein Dokument vor,
das wie kein anderes geeignet ist, die freche Demagogie der Hitlerpartei
zu entlarven. Jetzt kann auch der dokumentarische Nachweis geführt
werden, daß die NSDAP eine Partei des Kapitals, eine Schutztruppe
der herrschenden Klasse, jenes Häufleins von Finanz- und Industriemagnaten
ist (...) Die "Brechung der Zinsknechtschaft", nach Feder die "stählerne
Achse, um die sich alles dreht", die "Lösung der sozialen Frage",
der "richtige Tatsachenausdruck für die Gegenüberstellungen ïKapital
gegen Arbeitï;, ïBlut gegen Geldï, ïSchöpferkraft
gegen Ausbeutungï (...)", das "Herzstück" des nationalsozialistischen
Programms wird vom Führer der NSDAP in seiner vielbeachteten, programmatischen
Rede überhaupt nicht erwähnt! (...) (es) wird Punkt 11. "Abschaffung
des arbeits- und mühelosen Einkommens" - nicht erwähnt! (...)
Auch die Judenfrage (Punkt 4-6) hat Herr Hitler mit keinem Worte erwähnt,
wohl wissend, wie eng die Schwerindustrie mit dem "jüdischen Bankkapital"
verbunden ist. (Das ist um so bezeichnender, als die NSDAP auch in der
Wahlkampagne die Judenfrage wohl mit Rücksicht auf jüdische Unternehmer
und Bankiers, für den Fall einer nationalsozialistischen Regierungsbeteiligung,
völlig in den Hintergrund treten ließ.) Kurz: Herr Hitler hat
von neuem bewiesen, daß die nationalsozialistischen Führer (...)
nicht einmal selbst die zahmen, halben, reformistischen Forderungen ihres
eigenen Parteiprogramms (...) vertreten, daß sie die Interessen des
werktätigen Volkes an die Großkapitalisten, an die Ausbeuter,
an die Beherrscher der Trusts und Konzerne verraten". (9)
Denkt man das, was in der Sozialfaschismusthese nur unzulänglich
und beiläufig aufscheint, konsequent zu Ende, dann ergibt sich daraus
von selbst eine vernichtende Kritik des gesamten Arbeiterbewegungsmarxismus.
Was die KPD betrifft, so wäre zu lernen, daß jede Kritik an
den bestehenden kapitalistischen Verhältnissen, die nicht den mit
diesen innig verschweißelten Subjekt-, Klassenkampf- und Demokratie-Müll
in die dafür vorgesehene Tonne feuert, wie revolutionär gesinnt
sie auch sonst sein mag, zumal in der Krise dazu tendieren wird, durch
sei es noch so aberwitzige Interpretationen faschistische Ideen auf linkspopulistisch
zu frisieren. Die Sozialfaschismusthese, d.h. genauer: ihr heute unter
allerlei Aufwand erst herauszupräparierender theoretischer Gehalt
bleibt aktuell als Vorschein dieser Wahrheit, und deshalb muß sie
sich auch und gerade gegen deren Urheber richten. Nur: "originäre"
"Sozialfaschisten" waren die Kommunisten beileibe nicht und konnten es
auch nicht sein. Die Differenz zwischen Sozialdemokratie und Parteikommunismus,
die im Rahmen einer Kritik des Arbeiterbewegungsmarxismus nur als Marginalie
auftaucht, weil es hier um die Herausarbeitung der wesentlichen Identität
geht, die die Bedingung der Möglichkeit ihrer Affinität zum Faschismus
und Nationalismus darstellt, fällt dann doch wieder ins Gewicht, wenn
es um die Frage geht, ob und inwieweit der jeweils bürgerliche Gehalt
ihrer Programmatiken zum Bewußtsein seiner selbst gelangt, sich offen
als solcher ausspricht. Der Selbstwiderspruch des Parteikommunismus, also
der KPD und später auch der SED, war der zwischen essentiell sozialdemokratischem
Gehalt und revolutionär-klassenkämpferischer Phrase (also jener
Widerspruch, den Wohlmeinende gemeinhin der Sozialdemokratie attestieren)
- aber letztere verbürgte immerhin stets die Feindschaft gegen die
Charaktermasken der bürgerlichen Gesellschaft, die empirischen Kapitalisten,
die Junker und den bestehenden Staat. Insofern mußten die Kommunisten
Gegner der Weimarer Demokratie und des in ihr stattfindenden Faschisierungsprozesses
sein und bleiben und ihre nationalistischen Idiotien (Schlageter-Kurs 1923,
das "Programm zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes"
1930) blieben stets kenntlich als verzweifeltes wie irrsinniges Unterfangen,
an gesellschaftliche Entwicklungen, die man positivistisch als gegeben
hinnahm, "anzuknüpfen", um aus ihnen politischen Mehrwert zu schlagen.
Reformismus oder National-Sozialismus?
Ein solches Agieren, dem immer noch Züge eines taktischen Kalküls
eigneten, hatte die Sozialdemokratie aber längst abgestreift, und
deshalb sollte man sich endgültig von der Vorstellung verabschieden,
es habe sich bei ihr halt um eine harmlose reformistische Partei gehandelt.
Reformismus heißt, eine Politik der "kleinen Schritte" zu betreiben,
die davon lebt, daß sie die entscheidenden Fragen ausklammert oder
verleugnet. Die entscheidende Frage, um die es damals ging, war: wie die
bürgerliche Gesellschaft sich dauerhaft rekonsolidieren kann, nachdem
der nach Maßgabe des Liberalismus zuvor verleugnete Krisen- und Klassencharakter
der bürgerlichen Gesellschaft unabweisbar und somit die "klassenlose
Bürgergesellschaft", die die fundamentale Einheit der Interessen und
damit der Gesamtgesellschaft verbürgen sollte, praktisch dementiert
wurde. Rekonsolidieren konnte sie sich nur, wenn die widerstreitenden Interessen
auf ein neues Fundament gestellt werden. Die bürgerliche Gesellschaft
beginnt daher zu dieser Zeit ein Bewußtsein von den Bedingungen ihrer
Selbsterhaltung zu entwickeln, kann dies aber, dem Charakter negativer
Vergesellschaftung gemäß, nur in wiederum bewußtloser
Form: das noch Herzustellende erscheint in verdinglicht-substantialistischen
Formeln, als Restitution von "Natur", "organischer Einheit", "nationaler
Schicksalsgemeinschaft". Damit bringt die bürgerliche Gesellschaft
den Faschismus auf die Bahn und unter dieser Maßgabe mußte
die Sozialdemokratie, indem sie sich nach 1914 programmatisch mit ihrem
bürgerlichen Charakter aussöhnte und vorbehaltlos identifizierte,
zwangsläufig zu einem Protagonisten der Faschisierung avancieren.
Sie hatte sich dafür entschieden, eine Stütze der Konsolidierung
bürgerlicher Herrschaft zu sein und das ihr anvertraute gesellschaftliche
Humankapital dafür reif zu machen, daß aus einem vom Kapital
gesetzten, aber ihm virtuell widerstreitenden Subjekt eine das Kapital
tragende, ihm restlos einverleibte Substanz werde. So brachte der Sozialdemokrat
August Winnig - er trat dann später zur NSDAP über - 1915 folgendes
zu Papier: "Es ist das Verdienst der aufbauenden Kräfte der deutschen
Arbeiterbewegung, die durch ihr wirtschaftliches und politisches Wirken
jene Elemente eines neuen Deutschtums schufen, in denen die Masse heute
das Stück deutscher Zukunft sieht (...)". (10) Ein anderer Sozialdemokrat,
Anton Fendrich, sekundierte: "Um in der Zeit der schwersten Prüfung
der Nation bestehen zu können, mußte der Sozialismus national,
die Regierung der Nation aber auch sozialistisch empfinden und handeln
lernen (...) Als gewaltige Reformpartei wird die Sozialdemokratie innerhalb
des staatlichen Organismus in den nächsten Jahren nationale Arbeiterpolitik
treiben". (11) Nachum Goldmann: "Der Geist der modernen Wirtschaft ist
nichts anderes als militaristischer Geist; diese Fabriken sind in der Tat
nichts anderes als Kasernen, diese Arbeiter in Wirklichkeit Soldaten. Es
ist die militaristische Form des Zusammenwirkens, die das Wesen unserer
heutigen Wirtschaft geformt hat (...) Nur der militaristische Geist kann
(...) die Lösung der sozialen Frage, oder was dasselbe ist, die Organisation
des neuen Gesellschaftssystems vollbringen". (12) Und Johann Plenge stellte
den bürgerlichen Freiheitsidealen die "Ideen von 1914" gegenüber,
die für ihn aus der Idee der "deutschen Organisation" und der "Volksgenossenschaft
des nationalen Sozialismus" bestanden. (13) Knapp 10 Jahre später,
1925, hielt der sozialdemokratische Staatsrechtler Hermann Heller ein Referat
auf der dritten Reichskonferenz der Jungsozialisten in Jena zum Thema "Staat,
Nation und Sozialdemokratie". Heller spielt hier - alte sozialdemokratische
Masche - den Einpeitscher für etwas, was sowieso keiner mehr bezweifelt:
ein uneingeschränkt affirmatives Verhältnis zu Staat und Nation.
Staat muß sein, "Staatsverneinung ist Wirtschaftsverneinung", das
sind Hellers Devisen, und er führt dazu aus: Die Sozialdemokratie
"kann zur Erreichung ihrer Ziele keinen einzigen Schritt tun, ohne in jedem
praktischen Falle die Gemeinschaft höher zu werten als den einzelnen
(...) Dieser abstrakten Höherwertung der Gemeinschaft wird jeder Sozialist
begeistert zustimmen (...) Der Sozialist (...) weiß, daß Freiheit
nur möglich ist in einem geordneten und gegen jede Störung gesicherten
Ganzen". (14) Die Nation schließlich ist für Heller "eine Tatsache,
die zunächst als solche anerkannt werden muß." Und als wäre
Hermann Heller ein Pseudonym, auf das sich Otto Bauer (auf den jener sich
übrigens immer wieder beruft) und Josef Stalin geeinigt hätten,
heißt es: "Die Schicksalsgemeinschaft der Nachbarschaft, beruhend
auf der Gemeinsamkeit des Bodens, im Zusammenhang mit der Gemeinschaft
der Kultur, ergeben durch Wechselheirat eine bestimmte Blutsverfestigung
(...) Blutsverfestigung und Boden bilden aber nur die Naturgrundlagen der
Nation. Auf ihnen baut sich eine besondere Geistesart, ein eigenartiger
Kulturbesitz auf, die erst das Wesen der Nation ausmachen". (15) "Aufgabe
des Arbeiters", so Heller weiter, "ist es (...), sich hineinzukämpfen
in die nationale Kulturgemeinschaft". (16) Schon zwei Abschnitte später
ist nicht mal mehr die Rede vom Arbeiter, sondern da heult Heller ganz
unumwunden im Stil eines chauvinistischen Agitators: Die "nationale Selbstbestimmung
hat uns der Versailler Friedensvertrag völlig genommen. Es gibt Sozialisten,
die für diese nationale Selbstbestimmung kein oder nur ein ungenügendes
Verständnis haben". (17)
Man kann der Sozialdemokratie nicht vorwerfen, daß sie ihre Aufgabe
nicht klar gesehen hätte. Was an diesen Zitaten - unzählige andere
ließen sich noch anführen - sofort auffällt, ist die eminent
gute Gesinnung, die ostentative Arglosigkeit, mit der Einsichten, die in
anderem Zusammenhang eine vernichtende Kritik des Kapitalismus abgeben
könnten, zu dessen Affirmation angeführt und zur Basis des eigenen
Agierens gemacht werden. Gegenüber einer Partei, die von Karl Kautsky
"national-sozialistisch" genannt wurde und dies nicht als Vorwurf und Beleidigung,
sondern als korrekte Feststellung und Zuspruch begriff, war eine Ideologiekritik
des Reformismus, die über die von ihm verbreiteten Illusionen aufklären
zu können meint, am Ende - die KPD hat dies im Prinzip ganz richtig
gesehen und kam deshalb auf den Begriff "Sozialfaschismus". Die sozialdemokratischen
Konzepte waren der erste Vorschein jener Krisenlösungsstrategie, mit
der die Nazis später ans Ruder kamen. Daß sie es dann waren,
die ernteten, was die Sozialdemokratie gesät hatte, hat einen einfachen
Grund: die Sozialdemokratie wie übrigens auch sämtliche bürgerlichen
Parteien waren Klassen- und Klientelparteien mit Volksgemeinschaftsanspruch,
und das war in der damaligen Situation der gravierende Wettbewerbsnachteil
gegenüber einer NSDAP, die von vornherein als klassenübergreifende
Volkspartei auftrat, die "Volksgemeinschaft" also schon als Organisation
repräsentieren konnte. Nicht weil sie in ihr einen grundsätzlichen
und ernstzunehmenden Gegner, der durch klassenkämpferische und staatszersetzende
Taten aufgefallen wäre, erblickt hätten, sondern weil sie in
ihr eine unlautere und immer noch zu zimperliche Konkurrenz witterten,
haben die Nazis die SPD verfolgt und ihre Funktionäre eingesperrt
und ermordet. Es war eine Abrechnung unter Gangstern.
Und um zum Schluß gleich prophylaktisch einem Mißverständnis
entgegenzutreten: die historische Ehrenrettung der Sozialfaschismusthese
impliziert keine Nutzanwendung für die Gegenwart. Nicht daß
es nicht auch weiterhin Phänomene gäbe, zu denen einem sofort
das Wort "Sozialfaschismus" einfallen würde - Wirken und Rhetorik
von büffeligen Gewerkschaftsfunktionären und sozialdemokratischen
Parteifürsten, insbesondere der Spezies ihrer zackigen Innenminister
bezeugen dies fast täglich. Aber ihr Stellenwert hat sich grundsätzlich
verändert. Der Faschismus hat die Lösung der sozialen Frage,
die Transformation der Klassengesellschaft in die Gemeinschaft der Volksgenossen
effektiv besorgt und die postfaschistische Demokratie hat sich dessen Resultate
einverleibt. In dem Maße, in dem der Faschismus für die bürgerliche
Gesellschaft damit überflüssig geworden ist, hat sich auch der
"Sozialfaschismus" erledigt - als ein Programm, das jener Transformation
zuarbeitet. Wenn die SPD die Abschaffung des Asylrechts mitbeschließt
und auf ihren Plakaten den Slogan "Arbeit! Arbeit! Arbeit!" präsentiert;
wenn die Gewerkschaften ein "Bündnis für Arbeit" auflegen, IG-Metall-Boß
Zwickel eine Kontingentierung für ausländische Arbeitskräfte
im Rahmen eines Einwanderungsgesetzes vorschlägt und die IG Bau, deren
dröger wie kumpelhaft-jovialer Chef Wieshügel immer an entsprechende
Sitzungspräsidenten im Mainzer Fasching erinnert, den niedersten Instinkten
ihrer Basis freien Lauf läßt, selbstverständlich mit der
leutseligen Beteuerung, dies und Schlimmeres zu verhindern und die wohl
widerwärtigsten Gewerkschaftsdemonstrationen organisiert, deren man
sich in den letzten Jahren entsinnen kann; wenn alle zusammen mit der sonstigen
grünen und linken Mischpoke sich über die "Globalisierung" ereifern,
das profitgeil herumstreunende Kapital an die nationale Kandarre nehmen
wollen und zunehmend selbstbewußt und aggressiv die deutsche "soziale
Marktwirtschaft" gegen den fremdbürtigen "Manchester-Kapitalismus"
ins Feld führen - dann sind dies keine Vorboten eines "neuen Faschismus".
In dem Maße aber, wie der schöne Schein des "Wohlfahrtsstaats"
zergeht und der wesentliche Sinn der postfaschistischen "sozialen Demokratie",
die Verstaatung und Relativierung des Partikularinteresses, sich unverhüllt
zeigt, wollen diejenigen, die das Modell institutionalisierter Krisenprävention
jahrzehntelang aktiv mitgetragen hatten, nun auch in der Krise bei der
Formulierung härterer Kriterien für die fällige Selektion
des Menschenmaterials ihr Wörtchen mitreden. Die Chancen dafür
stehen, anders als zu Zeiten der Weimarer Republik, gar nicht mal so schlecht.
Clemens Nachtmann (BAHAMAS 23/1997)
Anmerkungen:
1) Vgl. dazu Josef Schleifsteins 1980 im Verlag Marxistische Blätter,
Frankfurt a.M. erschienene Broschüre "Die ïSozialfaschismusï-These",
die den offiziellen Standpunkt des Parteikommunismus/Realsozialismus zur
Sozialfaschismusthese widergibt; die Broschüre strotzt vor Sätzen,
die sich lesen, als wären sie mit schwieliger Faust in die Maschine
gedonnert: "Dimitroff forderte eine kühne Revision veralteter taktischer
Festlegungen, übte scharfe Kritik an den sektiererischen Fehlern der
kommunistischen Parteien (...)". (S. 29)
2) Vgl. dazu Schleifstein, a.a.O., S.14
3) Karl Korsch, Das Vorspiel zu Hitler, in: ders., Politische Texte,
Wiener Neustadt o.J., S. 347
4) Korsch, Das Vorspiel (...), a.a.O., S. 348
5) Vgl. den Nachweis bei: Karl-Egon Lönne: Thesen zum publizistischen
Tageskampf der KPD gegen den Faschismus, in: Beiträge zur Marxschen
Theorie 6, Frankfurt a.M. 1976, S.286 f. Lönnes knapper Aufsatz ist
einer der material- und aufschlußreichsten Beiträge zur Sozialfaschismusthese.
6) Daran, daß dies systematisch verkannt wird, krankt grundsätzlich
Alexander von Platos umfangreiche Arbeit "Zur Einschätzung der Klassenkämpfe
in der Weimarer Republik", Westberlin 1973, an der ansonsten positiv auffällt,
daß sie sich in ihrer unprätentiösen Argumentation erfreulich
von dem zu dieser Zeit bei Linken üblichen Verlautbarungsstaccato
abhebt und in ihrer unmittelbaren Zwecksetzung nicht restlos aufgeht. Nichtsdestotrotz:
v. Platos Absicht ist es, im Sinne der KPD/AO für das Agieren der
BRD-Linken ein historisches Vorbild auszumachen, und dazu versucht er,
gegen die "antikommunistische Geschichtsschreibung", als deren Ahnherrn
er Trotzki zu identifizieren meint, die Politik der KPD/Komintern hundertprozentig
herauszupauken. Seine Apologie der Sozialfaschismusthese leidet jedoch
darunter, daß er die eigene Beweisführung, die sich völlig
zurecht, wenn auch theoretisch wenig geglückt, an der Gemeinsamkeit
von Wirtschaftsdemokratie und Korporativismus orientiert, als für
die KPD zentralen Punkt unterstellt. Zwar liefert v. Plato einige Nachweise,
die belegen, daß der KPD einiges über diesen Zusammenhang dämmerte
(vgl. S.170 f.) - so spärlich, wie sie ausfallen, beweisen sie aber
vielmehr die Randständigkeit dieser Überlegungen. Die Klassen-
und Geschichtsmetaphysik, der Nationalbolschewismus sowie der platte Faschismusbegriff
der KPD werden ihm nie zum Problem - wie denn auch, denn v. Plato ist selber
ein Arbeitertümler der altbackensten Sorte. Das gilt freilich genauso
für Niels Kadritzke, der in Prokla 11/12 sowie 14/15 (beide 1974)
heftig gegen v. Platos Rechtfertigungsversuch polemisierte, ohne jemals
den Kern des Problems zu treffen und stattdessen geistverlassen vom "klassischen
Syndrom sektiererischer Hilflosigkeit vor den wirklichen Problemen der
Arbeiterklasse" daherschwallte.
7) Am nächsten kommt dieser Wahrheit Georg Lukßcs in seinem
1933 verfaßten Aufsatz "Wie ist die faschistische Philosophie in
Deutschland entstanden?" (in: ders. Zur Kritik der faschistischen Ideologie,
Berlin/DDR, Weimar 1989). Dort heißt es u.a.: "Von der Parole ïDer
Sozialismus marschiertï über eine offene Verteidigung des Kapitalismus
als heute noch notwendiger Wirtschaftsordnung über die Theorie des
ïorganisierten Kapitalismusï, der ïWirtschaftsdemokratieï
führt dieser Weg bis zu den aktiven Vorbereitungsideologen des Faschismus.
Denn worin unterscheidet sich jene ökonomische Theorie, die die Brüningschen
Banksanierungen (Hilferding) oder die Sanierung der Ísterreichischen
Creditanstalt als sozialistische Maßnahmen pries, oder die ïPlanwirtschaftsï;-Pläne
des Kreises ïNeue Blätter für den Sozialismusï (Löwe,
Heimann etc.), die bei Aufrechterhaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln
den ,Sozialismus&
145; schrittweise, reibungslos einzuführen vorschlugen, prinzipiell
von der Wirtschaftspolitik des Faschismus? (...) Die Verzerrung und Verfälschung
des Marxismus läuft ja vom Revisionismus zum Sozialfaschismus gerade
in dieser Linie: Die Umdichtung des verfaulenden Monopolkapitalismus in
eine ïeigenartigeï Form des ïSozialismusï wäre
ohne sozialfaschistische Mithilfe nie zustandegekommen" (S.122 ff.) - und
wäre, was die nächstliegende Folgerung ist, ohne Herrn Lenin,
den kongenialen Interpreten der Deutschen Reichspost als quasi-sozialistischer
Einrichtung, nicht veredelt worden.
8) vgl. dazu Ulrich Enderwitz, Antisemitismus und Volksstaat, Freiburg
1991, S.123 f.
9) Rudolf Feistmann, Die Versprechungen Hitlers an die Großindustriellen,
wiederabgedruckt in: Kampf dem Faschismus, Arbeiterbuch 5 (Hrsg. KB), Hamburg
1973
10) Zitiert nach: Willy Huhn, Etatismus - "Kriegssozialismus" - "Nationalsozialismus"
in der Literatur der deutschen Sozialdemokratie, in: neue kritik, 10. Jahrgang,
Heft 55/56 (1970), S.100
11) Huhn, a.a.O, S. 99 f.
12) Huhn, a.a.O, S. 98
13) Huhn, a.a.O, S.105
14) Hermann Heller, Staat, Nation und Sozialdemokratie, in: Hans Kremendahl/Thomas
Meyer (Hrsg.), Sozialismus und Staat, Kronberg/Ts. 1974, S.73
15) Heller, a.a.O., S.77
16) Heller, a.a.O., S.78
17) Heller, a.a.O., S.79