Kay Diesner - ein German Psycho
Edward Norton findet in Brad Pitt sein Alter Ego, das ihn zum Prügeln,
zur Gründung des Fight Clubs und schließlich zur Formierung
der rebellischen Milizen inspiriert. Am Schluß des Filmes wird klar,
daß er ihn nicht getunden, sondern erfunden hat: Der angehimmelte
Kumpan ist eine Einbildung, Hirngespinst einer Schizophrenie. Wie es zu
solchen Geistesstörungen tatsächlich kommen kann, hat der Psychoanalytiker
Julian S. Bielicki in seiner Studie Der rechtsextreme Gewalttäter
(Hamburg 1993) untersucht: "Wenn das Kind sich emotional von der Mutter
nicht distanzieren kann oder darf ..., dann wird es in seiner Entwicklung
dahingehend gehemmt, daß es die Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich
ungenügend erfahren, erleben und erlernen kann. Daraus folgt, daß
es unzureichend zwischen seiner Innenwelt und der Außenwelt unterscheiden
kann, zwischen seiner Phantasie und der äußeren Realität,
zwischen seinen Gebühlen und den Gefühlen anderer Menschen etc.
Solche Menschen können dann auch schlecht zwischen eigenen Gedanken
und äußeren Stimmen unterscheiden. Wo ein anderer sagen würde,
er habe etwas gedacht, meint ein Psychotiker, er habe Stimmen gehört."
Bielicki weiter: "Während der letzten fünfzig bis siebzig Jahre
veränderte sich die Problematik der Psychotherapie-Patienten weg von
der neurotischen Ödipus-Problematik, wie sie von Freud beschrieben
wurde und in der die subjektive Angst vor dem Vater eine kritische Rolle
spielt, hin zu Borderline-Störungen, die auf einer ungelösten
symbiotischen Beziehung zur Mutter basieren."
Ein Paradebeispiel für den Entwicklungsgang solcher Muttersöhnchen
ist der Ostberliner Nazi-Terrorist Kay Diesner, der zur Zeit wieder vor
Gericht steht. Diesner hat im Februar 1997 in Berlin einen PDSBuchhändler
zum Krüppel geschossen und anschließend einen Polizisten ermordet.
Der Amokläufer wurde 1972 in Berlin-Friedrichshain geboren, die Eltern
trennten sich ein Jahr später, der Junge wuchs bei seiner Mutter auf.
"Kay ist ihr Lieblingskind, er übernimmt die Haßgefühle,
die Ingrid Diesner gegenüber ihrem Geschiedenen entwickelt, bereitwillig",
schreibt Laura Benedict in ihrer Diesner-Biographie mit dem treffenden
Titel Sehnsucht nach Unfreiheit (Berlin 1998). Als Diesner in die Pubertät
kam, verstärkte sich die hettige Abneigung gegen seinen Erzeuger noch.
Er erschien ihm nicht männlich genug, habe "so 'ne komische Art, so
kindisch - 'Hier ist dein Papi' vollkommen blöde." Seine eigene Männlichkeit
drückte sich vor allem im martialischen Outfit aus - noch zu DDR-Zeiten
lief er mit Bomberjacke und Doc Martens-Stiefeln in der Schule auf, nach
der Wende kamen zunächst Gaspistolen, dann eine langläufige Pumpgun
hinzu. Die phallische Aufmachung änderte nichts an der Kontaktschwäche
zum anderen Geschlecht. Einer seiner ersten intensiveren Kontakte zu einer
Frau war ein gewalttätiger Angriff auf ein Mädchen im Bahnhof
Berlin-Lichtenberg im Februar 1991. Diesner schlug auf die Wehrlose mit
einer Machete ein und verletzte sie mit diesem Ersatz-Penis schwer. Bei
der Verhandlung gab er zu seiner Rechtfertigung an, das Mädchen habe
"ein Messer gezogen und auf seinen Unterleib gezielt".
Bis zu seinem Amoklauf im Februar 1997 hatte der 25jährige zwei
enge Beziehungen zu Frauen gehabt, beide Liebesverhältnisse brach
er nach je neun Monaten ab. "Seine Idealfrau ist seine Mutter, die ihn
immer verwöhnt hat und die er vergöttert", faßt Laura Benedict
zusammen. Mit Kathleen, der zweiten dieser beiden Beziehungen, hatte er
nie Sex, statt dessen hielt er ihr "ziemlich fanatisch" Vorträge über
die germanischen Götter Odin und Thor. Wenn sie mit ihm Schluß
machen würde, so gibt Kathleen später eine Bemerkung Diesners
wieder, "würde er in ein PDS-Haus rennen, dort Amok laufen und im
Fernsehen sagen, daß er es nur ihretwegen getan hat". Genau das ist
dann geschehen - allerdings mit einem bezeichnenden Unterschied zur vorherigen
Drohung: In der Öffentlichkeit hat er anschließend nicht Kathleen
für seine Taten verantwortlich gemacht, sondern die PDS, die eine
"extrem deutschteindliche" Partei sei. Statt von Liebe zu seiner Mutter
spricht er von Liebe zu Deutschland, als Störenfried dieser Liebe
gilt ihm die PDS.
Mutter-Land-Söhnchen
Alfred Hitchcock hat in "Psycho" die Horrorstory einer extremen Mutterbindung
verfilmt: Der jugendliche Hauptdarsteller, gespielt von einem genial verklemmt
wirkenden Anthony Perkins, sticht in seinem Motel reihenweise blonde Frauen
ab. Wenn er zur Tat schreitet, zieht er sich das Kleid seiner verstorbenen
Mutter an und eine an sie erinnernde Perücke über. Aber das ist
keine Verkleidung: Er ist, wie Norton in "Fight Club", gespalten in zwei
Persönlichkeiten, bei ihm sind's die eigene und die vorgestellte seiner
Mutter.
Es muß allerdings nicht zum Ausbruch der Psychose kommen, wenn
an Stelle der Mutterbindung eine Symbiose mit etwas anderem tritt, das
in ähnlicher Weise stabilisierend auf den Ich-Schwachen wirkt. Sigmund
Freud spricht in seinem Aufsatz "Massenpsychologie und Ich-Analyse" von
der "Schieflheilung" psychischer Störungen durch die Bindung an ideologische
Gemeinschaften - das Individuum verhindert also den Ausbruch einer seelischen
Krankheit dadurch, daß es sich in größere Kollektive einfüblt
und auflöst. Freud nennt als Beispiel dafür explizit nur die
Religion und die Armee und läßt die Übertragung auf andere
ideologische Gemeinschaften offen. Wilhelm Reich hingegen stellt, Freud
implizit folgend, vor allem die Nationfixierung als "Schiefheilung" der
frühkindlichen Mutterfixierung vor: "Im Kern der Familienbindung wirkt
die Mutterbindung. Die Vorstellung von Heimat und Nation sind in ihrem
subjektiv-gefühlsmäßigen Kern Vorstellungen von Mutter
und Familie."
Im Unterschied zum American Psycho artikuliert sich sein deutsches
Äquivalent öfter politisch als privat, anders gesagt: es kommt
öfter zu einer Verpuppung der persönlichen in der politischen
Pathologie. Werner Bohleber hat gezeigt, warum der Ubergang von der Mutter-
auf die Mutterlandfixierung hierzulande zwingender ist als in anderen Gesellschaften:
"Vor allem in der deutschen kollektiven Vorstellungswelt ist der Nationalismus
mit der Vorstellung von der Nation als eines lebendigen Organismus verknüpft
... So ist in diesem Denken die wesentliche menschliche Einheit, in der
die Natur sich verwirklicht, nicht das Individuum ... oder ein freiwilliger
Verband von Individuen, der willentlich aufgelöst, verändert
oder verlassen werden kann, sondern die Nation." Die organizistische Vorstellung
von der Nation ist ein Reflex auf den deutschen Sonderweg: Im Unterschied
zu Frankreich, wo die Nation sich 1789 ff. als politisches Bündnis
unter Führung der Bourgeoisie konstituierte, mußte man in Deutschland,
wo dieses Bündnis und damit eine bürgerliche Revolution nie zustande
kam, die Nation vor-politisch begründen - als Gemeinschaft gleichen
Blutes.
Nazismus ist nicht Narzißmus
Das Hitler-Bild im Kinderzimmer von Bad Reichenhall, der Nazi-Scum bei
den Attentätern von Littleton werden zur Erklärung der Mordtaten
oft als unbedeutend eingeschätzt. Falls damit die unmittelbare politische
Prägung der Killer-Kids gemeint ist, dürfte das richtig sein.
Ein psychoanalytischer Hintergrund für die Idolatrie des Faschismus
bei vielen Jugendlichen besteht dennoch. wie Bielicki einwendet: "Wenn
heute viele Stimmen zu hören sind, daß die Rechtsradikalen keine
'richtigen Nazis' seien, sondern Kinder oder unreife Jugendliche, dann
muß dem widersprochen werden: Alle Nazis, früher und heute,
sind unreif gebliebene, pathologische, kindliche Persönlichkeiten."
Demnach wäre Hitler für die Kids kein politisches Vorbild, sondern
ein charakterliches - ein Terminator, der sich von niemandem etwas bieten
ließ und seiner Mutti bis zuletzt die Treue hielt. So würde
auch erklärlich, warum der keusche Adolf in der Hitliste der Muttersöhnchen-Poster
spielend vom keuschen Arnold überflügelt wird: Als Terminator
ist Schwarzenegger weitaus häufiger im Kino präsent, und niemals
in der Rolle des Losers.
Mit der Zunahme der Masse der Loser in Wirtschaft und Gesellschaft
könnte aber gerade Arnolds Endsieg in "Terminator II" on the long
run weniger attraktiv sein als der Untergang von Adolf in "World war II".
Adorno schildert den deutschen Nationalsozialismus als Projekt kollektiver
Selbstmörder, die - ganz wie die Jungs von Littleton und Bad Reichenhall
- im Mord an "den anderen" nur die schauerliche Kulisse für ihren
eigenen Abgang inszenierten: "In den Konzentrationslagern und Gaskammern
wird gleichsam der Untergang von Deutschland diskontiert. Keiner ... konnte
das Moment tödlicher Traurigkeit, des halbwissend einem Unheilvollen
sich Anvertrauens übersehen das den angedrehten Rausch, die Fackelzüge
und Trommeleien begleitete ... Bleibt kein Ausweg, so wird dem Vernichtungsdrang
vollends gleichgültig, worin er nie ganz fest unterschied: ob er gegen
andere sich richtet oder gegens eigene Subjekt."
Auch Diesner wollte offensichtlich andere nur deswegen zur Hölle
schicken, um selber möglichst schnell dorthin zu kommen. Seine Verbrechen
waren so stümperhaft geplant - die Schießerei mit den Polizisten
endete nur zufällig nicht für ihn selbst tödlich -, daß
das masochistische Strafhedürfnis evident ist. Auch bei der gerade
laufenden Revisionsverhandlung bemüht er sich nicht, von der bekannten
Blindheit der deutschen Justiz auf dem rechten Auge zu profitieren, um
eine Milderung oder Verkürzung seiner lebenslänglichen Haftstrafe
zu erreichen; statt dessen nutzt er jede Chance, den Richter zu provozieren
und gegen sich aufzubringen. Vermutlich wird das ganze mit aufgeschnittenen
Pulsadern enden - ein letzter Liebesdienst für Deutschland.
Der Befund, Nazismus sei Narzißmus, war also schon immer nur
die halbe Wahrheit. Die geschichtliche Tendenz ist eine andere: "Der Narzißmus,
dem mit dem Zerfall des Ich sein libidinöses Objekt entzogen ist,
wird ersetzt durch das masochistische Vergnügen, kein Ich mehr zu
sein" (Minima Moralia). In dieser Perspektive wären die ausgelöschten
Ichs die Elementarteilchen des Faschismus. Allerdings: Eine faschistische
Bewegung oder gar ein faschistischer Staat ist das noch lange nicht. Damit
am Ende der Weimarer Republik ein Kollektiv zum Morden und Selbstmorden
zustande kam damit die Muttersöhnchen nicht vorfristig und unkoordiniert
Amok liefen, bedurfte es der prekären Stabilisierung der Ich-Schwachen
durch den Mutter-Ersatz Mutterland. Finchers Film macht nun ein Szenario
auf wie sich ein stabilisierendes Kollektiv auch ohne völkisches,
rassistisches Brimborium konstituieren könnte: In seinem multikulturellen
Fight Club kommen die Schläger nicht aus Liebe zur Nation zusammen,
sondern aus purem Haß auf sich selbst, der im Rudel mehr Spaß
macht als alleine zu Hause zwischen Ikea-Möbeln.
Droht die neue Barbarei also nicht aus der Formierung von Nationalismus
und Rassismus, sondern von ideologiefreien Serial killers, die "dem Ursprung
der menschlichen Instinkte näher kommen und sich von den zahlreichen
Zwängen der Gesellschaft befreien" ("Film-Kritik") wollen, um etwa
ihre entschwindende Männlichkeit wiederzugewinnen? Das Beispiel Diesner
zeigt, daß die Sache zumindest in Deutschland noch nicht entschieden
ist. Einerseits ist Diesner nur ein postmoderner Cowboy, der sich aus Frust
über ein davongelaufenes Mädchen in einer für seine Bewegung
unproduktiven Gewalttat abreagierte. Andererseits entzündet sich sein
Haß aber an seiner "Liebe zu Deutschland", und Feind sind ihm nicht
seine Nachbarn und Volksgenossen (wie beim ordinären Amok), sondern
all jene, die diese Liebe stören. Man könnte einwenden, daß
die große Masse auch der deutschen Kids anders tickt, daß die
Kinder von Calvin Klein und Lara Croft nur noch auf die neuesten Produkte
von Hifi und Cyberworld abfahren. Auch hier aber wäre ein Einwand
aus Minima Moralia zu berücksichtigen: "Die Fülle des wahllos
Konsumierten wird unheilvoll. Sie macht es unmöglich, sich zurechtzufinden,
und wie man im monströsen Warenhaus nach einem Führer sucht,
wartet die zwischen Angeboten eingekeilte Bevölkerung auf den ihren."